Выбрать главу

»Flieg höher!«, wies sie ihn ruhig an und zog leicht an Sternauges Zügeln, um ihn weiter hinauf in den Himmel steigen zu lassen. Nandalee spürte, dass auch der Pegasus Angst hatte. Kein Lebewesen wagte sich ohne Not in die Nähe dieser Kreatur.

Der Meerwanderer war unverkennbar der Sohn Nangogs. Nandalee dachte daran, wie sie auf dem mit Kalk überzogenen Auge der Göttin gestanden hatte. Er war winzig im Vergleich zu Nangog und doch gewiss das größte lebende Geschöpf nach der Göttin. Aber was war in ihr vorgegangen, als sie ihn erschaffen hatte? Ihr Sohn hatte kräftige Beine und einen Rumpf, der Nandalee an die stämmigen Körper der Zwerge erinnerte. So sah es von hinten aus. Doch aus diesem Rumpf wucherten zahllose Fleischstränge. Tentakel ersetzten Schultern und Arme. Einen Kopf konnte sie nicht erkennen. Zumindest nicht von hinten.

Seine Fangarme umschlossen den Fels, der sich vor ihm aus dem Meer erhob. Die Bestie stieß plötzlich schrille, zirpende Laute aus. Laute, die nicht dazu geschaffen waren, sich zu verständigen. Außer der Göttin gab es nichts, das diesem Geschöpf glich. Niemanden, mit dem es etwas teilte. Das Zirpen stach wie glühende Nadeln in Nandalees Ohren. Es fraß sich in ihren Verstand. Machte nun auch ihr Angst.

Jetzt sah Nandalee die rußgeschwärzten Ruinen auf der Klippe. Dort hatte sich einst eine stolze Stadt erhoben, doch Tentakel, massig wie Festungstürme, pflügten durch das Mauerwerk.

Nandalee vermochte niemanden in den Ruinen zu entdecken. Die Stadt war verlassen. Was gab es dort unten, das die Kreatur derart in Raserei versetzte?

Sternauge flog eine enge Kehre. Nun hielten sie frontal auf das Ungeheuer zu, und Nandalee erkannte, dass die meisten der zahllosen Fangarme die Steilklippe umklammerten, auf der die Ruinenstadt lag. Die Bestie gebärdete sich, als würde sie den Felsen aus dem Meeresboden reißen wollen.

»Da hinten!«, rief Eleborn und deutete nach Norden.

Nandalee sah eine schmale Linie am Horizont. Etwas flog dort hoch über dem Meer, aber es konnte keiner der großen Wolkensammler sein, die über den Himmel von Nangog trieben. Dazu passte die flache Silhouette nicht. Sonnenlicht brach sich silbern funkelnd auf etwas, das schnell näher kam.

»Silberlöwen!« Es mussten mehrere sein. Außer den Lichtreflexen war noch nichts zu erkennen. Doch schienen sie genau auf sie zuzuhalten. Wie hatten die Menschenkinder so schnell wissen können, dass sie hier waren?

»Diese Löwen aus lebendem Silber?«

Eleborn klang eher neugierig als besorgt. Nodon hatte ihnen von seiner Begegnung mit den Löwen über der Eiswüste erzählt. In seinen Augen waren sie keine besonders guten Luftkämpfer. Er hatte voller Verbitterung gesprochen, und Nandalee war sich nicht sicher, inwieweit sie und Eleborn seinem Urteil trauen konnten. Immerhin hatten die Löwen seinen Pegasus Mondschatten getötet.

Dicht nebeneinander überflogen die beiden Drachenelfen den Rücken der Bestie. Er war zerfurcht, voller tiefer Schrunden. Kurz glaubte Nandalee sogar, die Amphoren zu sehen. Jenen Schatz, der ihr Leben zum Besseren wenden würde. So nah und doch unerreichbar. Sie konnten dort nicht landen. Nicht jetzt. Nicht, solange die silbernen Löwen den Himmel beherrschten. Es galt zuerst diesen Kampf zu gewinnen.

Sie verfluchte sich stumm dafür, ihren Langbogen nicht mitgenommen zu haben. Der schwere Bidenhänder würde ihr im Luftkampf kaum nutzen. Sie müsste gefährlich nahe an die Menschenkinder heran, um ihn einsetzen zu können. Zu nah – die Flügel der metallenen Kreaturen waren es gewesen, die Mondschatten verwundet hatten.

Jetzt waren die Menschenkinder als kleine Punkte am Himmel zu erkennen.

»Holen wir uns ein paar Lanzen von ihnen, und dann stechen wir sie ab!«, rief Nandalee.

Eleborn gab ihr ein Zeichen, dass er verstanden hatte.

Sie kehrten dem Meerwanderer den Rücken und flogen den Kreaturen der Devanthar entgegen. Als sie deutlicher zu erkennen waren, wunderte sich Nandalee, wie groß und plump sie waren. Erst auf etwa hundert Schritt sah sie, dass sie gar keine Löwen vor sich hatte, sondern geflügelte Bären. Was für ein Irrsinn! Warum hatten die Devanthar solche Kreaturen erschaffen?

Ein Unsterblicher in voller Rüstung mit silbernem Maskenhelm, unter dem ein blonder Bart hervorquoll, führte den Schwarm an. Dreizehn Bären. Ihre Sättel sahen wie die Stühle in einem Festsaal aus. Mit hohen Lehnen, die den Rücken und Nacken abschirmten. Die Krieger waren mit Lederbändern daran festgeschnallt. Sehr bewegliche Flieger waren das gewiss nicht. Jeder der Männer trug eine lange Lanze, von deren Spitze ein schmales Banner aus grüner Seide flatterte.

Auf dem silbernen Löwen, den Nodon beschrieben hatte, hatten zwei Krieger Rücken an Rücken gesessen. Das gab es bei den Bärenreitern nicht. Sie würden leichtes Spiel mit ihnen haben.

»Von hinten?«, rief ihr Eleborn zu.

Sie hob die Hand, um zu bestätigen, dass sie verstanden hatte. Dann zog sie die Zügel von Sternauge herum und schwenkte nach rechts. Die fliegenden Bären bildeten eine Keilformation, so wie Zugvögel es taten.

»Schneller, mein Schöner!«, rief sie ihrem Pegasus zu. Eleborn flog links am Keil vorbei, sie rechts, dann zwang sie Sternauge in eine enge Kehre.

Die Menschenkinder lösten ihre Formation auf und versuchten zu wenden, doch ihre Bären waren viel schwerfälliger als die Pegasi. Nandalee näherte sich einem der Krieger von hinten. All ihre Feinde drehten verzweifelt die Köpfe, um zu sehen, was in ihrem Rücken vor sich ging, doch die hohen Sattellehnen behinderten ihre Sicht.

Nandalee beugte sich weit vor. Der Menschensohn, den sie als Opfer auserkoren hatte, hielt seine Lanze aufrecht. Der Seidenwimpel tanzte im Wind. Noch ein Stück. Ihre Hand schloss sich um den Schaft der Waffe, dicht unter dem Stichblatt. Sie hebelte die Lanze zur Seite. Der Menschensohn stieß einen überraschten Schrei aus. Jetzt erst sah Nandalee die Lederschlinge am Schaft. Sie lag um das Handgelenk des Kriegers.

Die Elfe drehte den Schaft noch weiter, brach dem Mann das Handgelenk und sah die Schlaufe über die Hand des Kriegers gleiten. Kaum dass sie die Lanze sicher in Händen hielt, setzte Sternauge zu einem Sturzflug an, um sie außer Reichweite der anderen Bärenreiter zu bringen.

Nandalee hörte den Krieger über sich fluchen. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass auch Eleborn eine Waffe erbeutet hatte. Mit Lanzen einen Luftkampf zu führen, das hatten sie selbst als Drachenelfen nie gelernt. Zumindest bewegten sich die Menschenkinder auf ihren Bären noch schwerfälliger, als sie es auf ihren zwei Beinen am Boden taten. Ihre Formation hatte sich aufgelöst. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Der Unsterbliche rief wütende Befehle, doch viel nutzte das nicht.

Nandalee schwenkte die Lanze, um ein Gefühl für ihr Gewicht zu bekommen. Sie war kopflastig und viel zu schwer. Auch war der Elfe bewusst, dass sie sich wohl kaum im Sattel halten würde, wenn ihr ein Treffer gelang.

Sternauge wich gerade den Bären, die zu ihm hinabstießen, mit Leichtigkeit aus und gewann an Höhe, als ein Pfeil seinen linken Flügel durchschlug. Das Geschoss hatte nur die äußersten Schwungfedern getroffen. Der Pegasus war nicht verwundet. Dennoch riss Nandalee alarmiert den Kopf in den Nacken. Hoch über ihnen kreisten nun auch Löwen am Himmel, und im Norden war ein seltsames Wolkenschiff zu sehen. Es wurde von einer Kreatur getragen, die wie ein fliegender Rochen aussah. Dieser Wolkensammler flog aus eigener Kraft und war nicht den Launen des Windes ausgesetzt. Er hielt auf sie zu. Und wahrscheinlich gab es dort noch Dutzende weitere Bogenschützen an Bord.

Nandalee hätte schreien mögen vor Wut. Sie waren dem Traumeis so nahe gekommen.

»Locken wir sie zum Meerwanderer!«, rief sie Eleborn zu. »Es sind zu viele. Soll er uns mit seinen Fangarmen helfen, sie vom Himmel zu holen.«

Und wenn sich eine Gelegenheit fand, würde sie auf den Rücken der Kreatur springen. Aber das musste Eleborn nicht wissen. Dorthin sollte er ihr besser nicht folgen.

Eine kleine Gruppe von Löwenreitern kam ihnen entgegengeflogen. Sie mussten sie in großer Höhe überholt haben, um ihnen nun den Weg abzuschneiden. Seit dem Gefecht mit Nodon hatten die Menschenkinder augenscheinlich im Luftkampf dazugelernt. An der Spitze der Löwenreiter entdeckte sie einen weiteren Unsterblichen. Sie erkannte ihn, es war Aaron von Aram. Verkleidet als einer seiner Krieger hatte sie beim Angriff auf den Tempel der Zapote in der Goldenen Stadt teilgenommen.