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Aloki kauerte bei einem Felsspalt, durch den helles Tageslicht in die Grotte fiel. Vor ihr auf dem Boden lag ein Leichnam mit aufgeschnittener Brust. Nodons Schwert lehnte gegen die Felswand. Die Klinge war blutbesudelt. Aloki hielt einen Streifen rohes Fleisch in der Linken. Ihre Lippen waren blutig.

»Mein Schwert …« Nodon traute seinen Augen nicht.

»Wirklich sehr scharf, deine Klinge.« Sie lächelte, wobei ein Tropfen Blut aus ihrem Mundwinkel rann, zwei Herzschläge lang zitternd an ihrem Kinn hängen blieb und dann auf den Felsboden tropfte. »Schockiert?«

Nodons Hand krampfte sich um den Griff des geflammten Dolchs. »Du isst das Fleisch von Toten!«

»Nun, Fleisch von Lebenden abzuschneiden, um es zu verspeisen, hielte ich doch für ziemlich makaber.«

»Du …« Wütend schleuderte er Aloki ihren Dolch vor die Füße.

»Ich bitte dich, Nodon, spiel dich nicht so auf. Ich hatte genug Muscheln und Krebse. Und Aale … Ein schönes, blutiges Stück Fleisch ist einfach unübertroffen.« Sie hielt ihm ihre Beute hin. »Möchtest du nicht auch einmal versuchen?«

»Wo ist Solaiyn?«

Sie deutete auf den Spalt im Fels. »Draußen. Er ist nicht ganz bei sich. Erzählt von seinen Kindern und glotzt dabei aufs Meer.«

Nodon trat hastig zu der Öffnung im Fels. »Und wenn er springt? Das Wasser ist voller Haie.«

»Ich hab ihn angebunden«, erklärte Aloki gleichmütig. »Vertraust du mir nicht mehr?«

Ich habe dir noch nie vertraut, dachte der Elf grimmig und zwängte sich durch die Felsspalte. Tatsächlich kauerte Solaiyn ein kleines Stück tiefer in der Steilwand. Er war mit seinem eigenen Gürtel an eine abgestorbene Wurzel gefesselt. Und das war gut so. Er hatte sich halsbrecherisch weit vorgebeugt, um hinter einen Felsvorsprung zu blicken.

»Fürst!«

Solaiyn wandte sich zu ihm um. Er wirkte aufgewühlt. »Nangog ist auferstanden!«, verkündete er mit sich überschlagender Stimme. »Sieh nur, Nodon, von welch erlesener Hässlichkeit sie ist. Kein Wunder, dass sich Alben und Devanthar einig waren, diese Abscheulichkeit lebendig zu begraben.«

Nodon hörte nicht auf ihn. Was für ein wirres Gerede! Er löste die Fesseln, und dann erlag er doch der Versuchung, um den Felsvorsprung zu blicken. Was er sah, erschreckte ihn bis ins Mark. Hastig zog er sich zurück und zerrte Solaiyn durch den Felsspalt ins Innere des Grottenhafens.

»Die Zwerge haben Nangog geweckt!«, erklärte der Fürst ernst der Schlangenfrau.

Aloki wirkte beunruhigt. Sie tauschte einen Blick mit Nodon. »Dieses Mal dauert es ungewöhnlich lange, bis sich sein Verstand wieder von der Präsenz des Goldenen erholt.«

»Die Zwerge haben tatsächlich etwas aufgescheucht … Es folgt ihnen hierher. Und es ist groß wie ein Berg.«

Sie legte den Kopf schief und sah ihn mit ihren unergründlichen gelben Augen lange an, als versuchte sie zu ergründen, ob er einen Scherz mit ihr trieb. »Dann sollten wir uns besser ganz unauffällig verhalten. Wenn diese Kreatur so riesig ist, dann sind wir nicht mehr als Ameisen für sie. Völlig unbedeutend. Lassen wir den Sturm vorüberziehen.«

Ihr Gleichmut erstaunte Nodon. Ja, er hätte vielleicht sogar Respekt vor ihr empfunden, hätte sie sich nicht wieder niedergekauert, um einen weiteren Streifen Fleisch von dem Toten abzuschneiden, den sie sich zum Mahl auserkoren hatte.

Sie kauerten sich nahe der Felsspalte auf den Boden und warteten. Nodon säuberte sein Schwert mit einem Stofffetzen, den er aus der Tunika eines toten Kriegers geschnitten hatte. Aloki hatte hier oben auf der Terrasse ein regelrechtes Massaker angerichtet. Mehr als fünfzehn Tote lagen am Boden. Nodon musterte sie aus den Augenwinkeln und schwor sich insgeheim, sie nie mehr zu unterschätzen.

Die Zeit verstrich quälend langsam. Nodon beobachtete, wie einzelne Aale in den Hafen einliefen. Die Mannschaften waren so erschöpft, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. Aufeinander gestützt, schleppten sich die Zwerge den Treppen entgegen, die hinauf in die Eingeweide der hohen Klippe führten.

Aus einigen der Tauchboote war leises Stöhnen zu hören. Sie ließen ihre Kameraden im Stich. Das hatte er bei Zwergen noch nie erlebt!

Aloki wirkte völlig ruhig, als wäre sie sicher, dass ihnen keine Gefahr drohte. Aber sie hatte das Ungeheuer ja nicht gesehen. Diese gewaltige Silhouette vor dem Horizont. Wie hatten die Zwerge nur so vermessen sein können, den Zorn dieser Kreatur zu erwecken.

Wellen schwappten in den Hafen. Nodon hörte, wie das Geräusch der Brandung lauter wurde, so als zöge ein Sturm herauf. Der Elf spähte durch den Spalt im Felsen. Noch war die Kreatur nicht zu sehen. Sie näherte sich aus dem toten Winkel. Aber er sah, wie die Möwen ihre Felsnester verließen und dem Festland entgegenstrebten.

Ein weiterer Aal näherte sich dem Hafen. Die Dünung ließ das Boot schlingern. Es machte kaum noch Fahrt.

Und dann plötzlich war sie da. Eine Gestalt, die den Himmel verschwinden ließ. Eine Mauer aus sich windendem Fleisch. Nodon war angewidert und doch nicht in der Lage, den Blick abzuwenden. Nichts, was er in seinem langen Leben gesehen hatte, reichte auch nur im Geringsten an diese groteske Kreatur heran. Sie war eine obszöne Verhöhnung dessen, was Leben sein sollte. Kaskaden von Tentakeln wucherten aus ihr und ließen keinen Leib erkennen, so dicht überlagerten die Fleischstränge einander. Und dann hoben sie sich. Alle zugleich. Sie streckten sich der Steilklippe entgegen. Umschlangen sie wie eine Geliebte.

Nodon trat von der Spalte zurück. Tentakel tasteten über die Felswand.

Unten im Hafen hörte er den hohlen Klang der Aale, die entlang der Mole gegeneinanderstießen, als die Wassermassen, die die Kreatur mit jedem Schritt in Bewegung setzte, in die Grotte strömten. Das Geräusch erinnerte an den Klang einer großen Totenglocke. Monoton und trostlos.

Tentakel schoben sich durch den Eingang zum Grottenhafen. Sich windende, mit Saugnäpfen bewehrte Fleischstränge. Manche von ihnen endeten in mannlangen Krallen und Fanghaken. Sie tasteten über die ausgekohlten Balken der Lagerhäuser, die verlassenen Molen, die versunkenen Schiffsrümpfe. Und sie fanden die Aale. Nodon glaubte die Schreie der Mannschaft selbst durch den mit Holz und Kupfer versiegelten Schiffsrumpf zu hören, als die Bestie den Aal zu packen bekam, der kurz vor ihr den Hafen erreicht hatte. Gnadenlos wurde das kleine Tauchboot durch den Grotteneingang gezerrt und verschwand.

Mit Getöse stürzten außen am Hang lose Steinbrocken die Klippe hinab. Nodon spürte, wie der ganze Fels unter dem Ansturm des Ungeheuers erzitterte. Kleine Steine lösten sich aus der Höhlendecke und stürzten in den Hafen, durch den immer noch riesige Fangarme tasteten.

Solaiyn presste sich zitternd gegen die Felswand. Er stammelte Bannzauber, doch er war viel zu durcheinander, um wirklich etwas bewirken zu können. Selbst Aloki, die sich stets so kaltblütig und distanziert gab, wirkte beeindruckt.

Ein Fangarm mit einem Auge an seinem Ende schob sich durch die Felsspalte. Es erinnerte Nodon ein wenig an die Augen von Schnecken auf ihren beweglichen Stängeln. Groß und lidlos blickte es auf sie hinab.

Nodon hob sein Schwert, doch Aloki fiel ihm in den Arm. »Du wirst die Kreatur nicht angreifen! Nicht, solange sie uns nichts zuleide tut!«

»Aber …«

»Sie sieht uns nur an!«, zischte die Schlangenfrau. »Und das ist gut so. Dieses Ding hat Verstand. Es sucht hier jemanden. Und das sind nicht wir.«

Das Auge auf dem Fleischstrang schwebte näher. Nur wenige Zoll vor Nodons Gesicht verharrte es. Ein unangenehmer Geruch ging von ihm aus. Es stank nach Algen und verfaulenden Muscheln.

Lange starrte es auf ihn herab, während unter ihnen die Tentakel den Hafen abtasteten und einige der Aale hin zum Ausgang zerrten.

Endlich wandte sich das Auge ab. Aloki und Solaiyn bedachte es nur mit einem kurzen Blick, dann zog es sich durch den Felsspalt zurück.

»Du kannst nicht gegen eine Naturgewalt ankämpfen, Nodon«, sagte die Schlangenfrau nun ruhiger. »Im Waldmeer, dort wo ich herkomme, gibt es alle paar Jahre schreckliche Stürme. Sie entwurzeln Bäume, denen über Jahrhunderte kein Unwetter etwas anhaben konnte. Sie lassen kleine Inseln verschwinden, um sie an anderer Stelle, aus Sand, Schlick und totem Geäst, neu entstehen zu lassen. Wenn sich ein solcher Sturm ankündigt, dann zieht sich alles, was lebt, in Erdlöcher oder dichtes Buschwerk zurück. Wir besinnen uns auf unser Leben und beten um die Gnade der Alben. Das ist alles, was man tun kann. Und warten, dass der Sturm vorüberzieht. Wer hinausgeht, wer keinen Schutz sucht und die Naturgewalten herausfordert, der kommt um. Diese Narren verschwinden auf immer. Davongerissen wie ein Blatt in einem Herbststurm. Fordere dieses Ding nicht heraus, Nodon! Wir sind ihm nicht gewachsen. Wir können nur demütig abwarten und zu den Alben beten, dass es bald wieder von uns ablässt.«