Demütig abwarten … Das war nicht seine Sache. Solaiyn jedoch fügte sich. Er kauerte sich dicht neben die Schlangenfrau, schlang die Arme um seine Knie, wiegte sich dabei vor und zurück und betete zu den Alben.
Nodon beobachtete, wie die Tentakel die Aufstiege in die Klippe fanden. Die Treppen und Rampen, die zu den Höhlen tief im Inneren des Felsens führten. Die Fleischstränge streckten sich. Würden sie die Zwerge finden?
Er wandte sich zu dem Spalt im Fels und blickte nach draußen. Alles, was er sah, waren zuckende Tentakel und ein Stück aufgewühlte See, dicht vor der Hafeneinfahrt.
Immer wieder löste sich Gestein und stürzte polternd die Klippe hinab. Auch Mauerbrocken waren dabei und einmal sogar schneeweiße Säulentrommeln. Das Ungeheuer schien von der Stadt Asugar keinen Stein mehr auf dem anderen zu lassen. Nodon stellte sich vor, dass, wenn die Bestie abzog, die Klippe wieder so karg und unberührt sein würde wie vor der Ankunft der Menschenkinder. Vielleicht hatte er angefangen, der Krieg der Göttin. Vielleicht holte sie sich ihre Welt zurück. Vielleicht … Ein Lichtreflex ließ ihn aufblicken. Einen Lidschlag lang war ein Stück Himmel zu sehen gewesen, doch dann war Nodons Blickfeld wieder ausgefüllt von sich windenden Tentakeln.
Plötzlich ging ein Schauer von unterarmlangen Pflöcken auf das Wasser nieder. Und dann stürzte Eleborn aus dem Himmel. Keine zwanzig Schritt von ihm entfernt! Was ging da vor sich? Er zwängte sich durch die Felsspalte.
»Nodon, was tust du?«, erklang hinter ihm die alarmierte Stimme Alokis.
Da war Nandalee! Die Arme eng an den Körper gelegt, stürzte sie dem Wasser entgegen. Nein, ging es ihm auf. Das war kein Sturz. Sie war gesprungen, um Eleborn beizustehen. Hinab in die aufgewühlte See voller Haie und mörderischer Tentakel.
»Was tust du da, Nodon?«, wiederholte Aloki. Die Schlangenfrau zwängte sich durch den Spalt. Sie würde versuchen, ihn aufzuhalten, da war er sich sicher.
»Jemandem helfen, eine Naturgewalt herauszufordern!«, entgegnete er trotzig und sprang.
Der weisse Wolf
»Los, schneller!«, schrie Shaya und drängte Enak vor sich her, der mit einer verletzten Frau in den Armen aus dem Palast der Kranken floh.
Stumm verfluchte sich die Heilerin für den schrecklichen Fehler, den sie gemacht hatte. Nach den Tagen in der beengten Höhle über der Hafengrotte, Tagen des Elends, des Gestanks und der Angst, hatte sie ihren Verwundeten Licht und Seeluft schenken wollen. Als Arcumenna für seine Schreckenstat die Höhle räumen ließ, hatte sie befohlen, dass alle Genesenden hinauf in den Palast der Kranken geschafft wurden.
Trotz des Drachenfeuers war das Hospital noch weitestgehend intakt. Wie hätte sie ahnen können, dass das hier geschah? Überall tasteten Tentakel. Sie drangen durch die großen Fenster und Lichtschächte. Einige der Verwundeten hatten sie nicht mehr retten können. Sie waren hinausgezerrt und zum Fraß des Ungeheuers geworden.
»Nicht!«, rief Enak hinter ihr, als sie zurückging, um einem Amputierten aufzuhelfen, der von seinem Lager in Richtung der rettenden Treppen kroch. Sein rechtes Bein war unterhalb des Knies abgetrennt. Der Verband blutig. Seine Wunde schien wieder aufgebrochen zu sein. Während er vorwärtskroch, zog er eine Spur blutiger Schlieren über den Steinboden.
Shaya packte ihn unter den Achseln.
»Danke!«, stöhnte der Krieger und sah sie aus weiten rotbraunen Augen unendlich erleichtert an. »Danke!«
Er war so schwer, dass Shayas Rückenwirbel knackten, als sie ihn mit sich zog. Sie vermochte ihn kaum schneller in Richtung der Treppe zu ziehen, als er aus eigener Kraft gekrochen war. Sie sollte ihn hochziehen, damit er auf seinem verbliebenen Bein, gestützt von ihr, vorwärtshüpfen konnte.
Ein Tentakel glitt dicht über der Blutspur über den Boden. Er bewegte sich seltsam zögernd. Sein Verhalten erinnerte Shaya an einen Wolfshund, der Witterung aufnahm. Weitere Fangarme, die in Haken endeten, schoben sich durch die Fenster.
Shaya mühte sich verzweifelt ab, den Krieger aufzurichten, doch reichten ihre Kräfte nicht, den massigen Mann auf sein verbliebenes Bein zu bringen.
»Lass mich zurück«, flüsterte er verzweifelt. Er blickte über die Schulter und sah, dass der Tentakel, der dicht über dem Boden schwebte, sie fast erreicht hatte. Jetzt erschien ein Fangarm, der an seinem Ende in ein großes Auge auslief.
Shaya hatte schon vieles in ihrem Leben gesehen, aber dieses riesige Auge, das sie anstarrte, machte ihr Angst. Plötzlich schossen zwei Tentakel vor. Fanghaken gruben sich in den Rücken des Kriegers, und er wurde ihr mit einem Ruck aus den Armen gerissen. Seine verzweifelten Schreie waren nutzlos, die Kreatur zerrte ihn durch das Fenster.
»Du …« Shaya war einige Herzschläge wie gelähmt vor Schock und Wut. Ein neuer Fangarm mit einem knöchernen Haken an seinem Ende glitt in ihre Richtung. Er richtete sich auf wie eine Viper, die jeden Moment zustoßen wollte.
Die Heilerin duckte sich und griff nach einem der eisernen Messer, die zwischen den Trümmern eines zerschmetterten Tischs lagen. »Du hast dich mit der Falschen angelegt, Wurmarm.«
Der Tentakel mit dem Haken schnellte vor. Shaya wartete bis zum letzten Augenblick, warf sich zur Seite und kam behände wieder auf die Beine. Sie war die Tochter eines Unsterblichen! Eine Kriegerprinzessin aus dem Volk der Ischkuzaia. Sie würde nicht einfach kampflos davonlaufen! Geduckt stürmte sie vor, wich einem peitschenden Fangarm aus und rammte das Messer in das Auge. Die gallertartige Masse zerlief. Der Tentakel, der das Auge getragen hatte, zuckte aus dem Fenster zurück. Die anderen Fangarme schlugen ziellos durch das große Krankenzimmer.
Shaya warf sich flach auf den Boden und robbte in Richtung des Ausgangs, während draußen ein hoher, zirpender Schrei ertönte. Ein Geräusch, das bis tief in die Knochen ging und die Kriegerin kurz innehalten ließ. Alle anderen Laute waren ausgelöscht. Da war nur noch der Schrei, der in ihren Ohren nachklang, als sie etwas am Oberschenkel streifte. Einer der tastenden Fangarme hatte sie gefunden.
Shaya rollte sich nach links und entging knapp einem Tentakel mit Fanghaken, der dort, wo sie gerade eben noch gelegen hatte, hart auf den Boden stieß.
Plötzlich splitterten Fensterrahmen, und ein Arm, dick wie ein Pferdeleib, schob sich durch eines der großen Fenster zum Meer, krümmte sich und schob sich drei Fenster weiter wieder ins Freie.
Shaya sprang auf und versuchte, zum Ausgang zu gelangen, der zur Treppe führte, doch drei Tentakel peitschten dort blindlings in die Luft. Ganz augenscheinlich hatte sich die Bestie gemerkt, wo der einzige Fluchtweg für seine Beute lag.
Die Heilerin fluchte leise. Sollte sie es wagen, zwischen den Fangarmen hindurchzustürmen? Einfach auf ihr Glück zu vertrauen? Sie richtete sich auf, spannte die Muskeln, bereit loszusprinten, als mit ohrenbetäubendem Getöse die Wand hinter ihr zusammenbrach. Der große Fangarm hatte das Mauerwerk hinab in den Abgrund gerissen. Über der Lücke schwebten mehrere Augen, die auf sie hinabblickten.
Die Tentakel, die eben noch den Ausgang versperrt hatten, schnellten in ihre Richtung. Shaya wich nach hinten aus und hielt das Messer schützend vor ihrer Brust. Einer der Tentakel streifte die Klinge. Er wurde auf mehr als einer Elle aufgeschlitzt. Dünnflüssiges Blut spritzte aus der Wunde.