Shaya stach nach einem zweiten Fangarm, dessen Ende sich um ihren Knöchel schlang. Sie wurde von den Beinen gerissen und schlug so hart auf den Boden auf, dass gleißende Lichtpunkte vor ihren Augen tanzten.
Das Ungeheuer zerrte sie in Richtung des Lochs in der Fensterwand. Keinen Schritt vor dem Abgrund hielt das Ungeheuer inne.
Shaya stach mit ihrem Messer auf den Muskelstrang ein, der sich um ihr Bein wand. »Rette mich, Weißer Wolf!«, stammelte sie. »Rette mich!«
Die Augen über der Öffnung starrten auf sie herab, als plötzlich hoch in der Luft etwas Kupfernes erschien. Ein mit Muscheln verkrusteter Schiffsrumpf. Eines der Schiffe, das die Daimonen benutzt hatten – und es stieß auf die Öffnung im Mauerwerk nieder! Sauste auf sie zu, als würde das Ungeheuer den Schiffsrumpf wie ein riesiges Messer nutzen wollen, um Rache zu nehmen für das Auge, das es an ihr Messer verloren hatte.
Shayas Linke klammerte sich um den Tentakel, der ihren Knöchel umfing. Hektisch versuchte sie, den Fangarm zu durchtrennen.
In diesem Augenblick stieß der Schiffsrumpf nieder. Steinsplitter prasselten auf sie nieder. Die Heilerin schloss die Augen zu spät. Zu …
Ein hohles Ächzen ertönte. Der Schiffsrumpf hatte sich im Mauerloch verkantet!
Shaya blinzelte gegen den Mörtelstaub in der Luft. Weniger als ein Schritt fehlte und das Daimonenschiff hätte sie zerquetscht. Gestein bröckelte aus dem Loch in der Mauer. Schon zog die Bestie das Tauchboot zurück, um noch einmal zuzustoßen. Shaya kämpfte immer verzweifelter gegen den zähen Tentakelstrang an ihrem Knöchel, als ein weiterer Fangarm nach ihr ausholte. Sie duckte sich unter einer Kralle, als sie etwas von hinten traf. Ein langer Dorn trat dicht unter ihrem Magen aus ihrem Bauch. Sie keuchte auf. Ihr Messer entglitt ihrer Hand.
Shaya sah, wie eine verzogene Luke im Daimonenschiff aufsprang. Bärtige, kleinwüchsige Krieger hüpften heraus. Sie waren übel mitgenommen, aber ihrem Zorn tat das keinen Abbruch. Mit großen Äxten hieben sie auf die Fangarme ein, die durch den Krankensaal zuckten.
Das Boot glitt knirschend aus dem Loch in der Wand. Zwei der Daimonen wagten noch zu springen. Einer kam unglücklich auf. Shaya hörte seine Beckenknochen krachen.
Die Daimonen schrien wild durcheinander. Sie verstand kein Wort von ihrer Sprache.
Der Dorn, der aus ihrem Bauch ragte, glitt zurück. Shaya stürzte nach hinten. Gesteinsbrocken schlugen rings um sie herum auf den Boden.
Sie wurde unter den Achseln gepackt. Hattus verkniffenes Gesicht erschien über ihr. »Was für eine selten dämliche Idee, sich mit diesem Ungeheuer anzulegen«, zischte er verärgert und versuchte, sie in Richtung Treppe zu ziehen.
Die Bestie stieß erneut einen zirpenden Schrei aus. Es fühlte sich an, als würde ihr kochendes Blei in die Ohren gegossen. Shaya schnappte nach Luft, worauf ein stechender Schmerz durch ihren Leib fuhr.
Einer der Daimonenkrieger hackte auf den Tentakel ein, der ihren Fuß umfangen hielt.
Der Schiffsrumpf stieß erneut durch das Mauerwerk.
Shaya wurde mit einem Ruck nach hinten gerissen. Metall schmetterte knirschend auf den Boden. Splitternde Muschelschalen spritzten in ihr Gesicht. Der Zwerg, der sie befreit hatte, war unter dem Schiffsrumpf verschwunden. Nur eine Hand, die eine Axt hielt, und daneben ein durchtrennter Tentakel waren zu sehen.
»Bei den Göttern!«, stieß Hattu hervor. »Dein Weißer Wolf hat dir wirklich beigestanden.« Er zog sie hoch und drückte ihr eine Hand fest auf den Rücken.
Sie spürte, wie warmes Blut über ihre Schenkel rann. Ihre Beine waren kraftlos. Sie ließ sich von Hattu ziehen. Dass ausgerechnet er gekommen war … Vielleicht war das das eigentliche Wunder, das der Weiße Wolf gewirkt hatte.
»Los, folgt mir!«, schrie Hattu den Daimonen zu.
Nur vier der kleinen Krieger waren noch auf den Beinen. Einen fünften, der beide Beine verloren hatte, zogen sie mit sich.
»Wir müssen die Blutung stillen!«
Das war Enaks Stimme. Shaya blinzelte verwundert. Sie war nicht mehr in dem Krankensaal, durch den sich die Fangarme der Bestie wanden. Sie musste kurz ohnmächtig geworden sein.
»Sauberes Leinen!«, sagte Hattu ruhig. »Bringt mir Leinen. Und ich brauche Honig, um die üblen Säfte zu bannen.«
Ihr Bauch schmerzte. Es fühlte sich an, als hätte sich eine Ratte darin eingenistet und versuchte, mit Nagezähnen und Krallen wieder zu entkommen.
Hattu beugte sich zu ihr hinab. »Du wirst es schaffen. Die Dummen haben immer Glück!«, sagte er mit fester Stimme, die völlig überzeugt klang. Doch seine Augen vermochten nicht zu lügen. In ihnen schimmerten Tränen.
Auf dem Flugdeck
Das Knirschen im Flügelgelenk wurde mit jeder Bewegung schlimmer.
»Du bleibst oben!«, schrie Artax. »Du wirst es schaffen!« Er wusste nicht, ob sein silberner Löwe ihn verstand. Er wusste so vieles nicht über die Geschöpfe der Devanthar. Etwas Dunkles troff aus dem Leib der metallenen Kreatur. Einer der Hornsplitter, die der Meerwanderer aus seinem Rücken geschossen hatte, steckte in dem Gelenk, das den rechten Flügel seines Löwen mit der Schulter verband. Der Flug des Löwen war schlingernd und unsicher.
»Du schaffst es!«, schrie Artax erneut. Es war nicht mehr weit bis zum Flugdeck des Wolkensammlers.
Volodi hatte zu ihm aufgeschlossen. »Du musst dich springen!«
Artax lachte bitter. Er wusste, dass er springen musste, aber er konnte nicht. Er starrte auf das aufgewühlte, schlammfarbene Meer.
»Mein Bär ist sich stark! Wird er uns beide tragen. Los, spring dich, verdammt!«
Artax dachte an den Tag im Dschungel, als sein Vorgänger ihm vor die Füße gefallen war.
Ja, spring, höhnte die Stimme in seinem Kopf. Das ist unser Schicksal, aus dem Himmel zu fallen.
Der Löwe sackte ein Stück ab. Mühsam kämpfte er sich hoch. Er wusste, dass das Flugdeck der einzig sichere Ort war, den er erreichen konnte. Aber würde er es schaffen zu landen? Oder würde er ihn enthaupten oder unter seinem massigen Leib zerquetschen?
Artax löste die Schultergurte, die ihn an die hohe Lehne seines Sattels fesselten.
»Gut!«, schrie Volodi. Der Drusnier flog etwa drei Schritt unter ihm. Leicht versetzt. Er weitete die Arme, als wollte er ihn fangen. »Komm! Fass dich ein Herz. Du kannst dich das!«
Artax sah wieder hinab auf die See. Wie weit war sie entfernt? Fünfhundert Schritt? Sechshundert? Würde er einen solchen Sturz überleben? Und wenn ja, würde ihn dann seine lederne Rüstung hinab auf den Meeresgrund ziehen?
»Was zögerst du dich. Du musst dich jetzt …« Volodis Worte gingen in einem Klirren unter. Wieder war der Löwe weggesackt. Seine Krallen waren über die Schwingen des Bären geschrammt, woraufhin die massige Kreatur abdrehte.
Volodi fluchte und schlug mit der blanken Faust in den Nacken seines Bären, doch die metallene Kreatur schien entschieden zu haben, dass es zu gefährlich war, seinem Löwenbruder nahe zu kommen.
Das machte es einfacher, dachte Artax mit einem verzweifelten Lächeln. Die Gelegenheit zu springen war verstrichen. Das Flugdeck fast schon zum Greifen nahe.
Der Löwe schlug verzweifelt mit seinen Schwingen. Immer bedrohlicher wurde das Kreischen des Metalls. Dann löste sich etwas am Ansatz des Flügels und stürzte hinab in die See. Der Löwe drehte sich halb um die eigene Achse.
Sie flogen zu hoch! Sie rasten auf die massiven Balken des Hauptdecks über der Landeplattform zu.
Artax’ Hände zitterten. Der letzte Gurt, der, der wie ein Schwertgurt um seine Hüften geschlungen war, wollte sich nicht lösen. Er musste nur noch den Dorn aus der Gürtelschnalle … Ein Schlag. Holz splitterte. Die Löwenschwingen hatten die Balken des Hauptdecks gestreift. Die metallene Kreatur wurde halb herumgerissen. Der Aufprall schleuderte Artax aus dem Sattel. Er landete hart auf dem Deck, schlitterte etliche Schritt weit über den Boden, während sein Löwe auf die zolldicken Planken stürzte und sich mehrfach überschlug. Scharfkantige Federn sausten über das Deck. Ein Bein des Löwen wurde abgerissen. Zwei Schützen, die an einer Speerschleuder standen, gingen schreiend zu Boden. Metallene Gefiederfragmente steckten ihnen in den Beinen.