»Wir sind Drachenelfen!«, entgegnete sie trotzig.
»Was uns nicht unsterblich macht.«
Die sachliche Art Nodons reizte Nandalee bis aufs Blut. Sie würde nicht einfach hier sitzen und gar nichts tun. Sie würde …
»Er spricht mit sich selbst«, sagte Eleborn fasziniert. »Wartet einen Moment. Ich muss euch etwas zeigen.«
Die Lichtkugel stieg höher. Sie drängte sich zwischen Tentakeln hindurch. Ein riesiges Auge glotzte sie an und verschwand wieder im schlammigen Wasser. Etwas kratzte über die Kugel. Eine Kralle, länger als ihr Bidenhänder.
»Sollten wir nicht etwas mehr Abstand zu dem Biest halten?«, fragte Nodon beklommen.
»Dann sehen wir es doch nicht.« Eleborn wirkte geistesabwesend. »Es ist ganz nah. Ich kann es deutlich spüren. Es spricht von uns. Es zeigt ihm ein Bild der Kugel.«
Was er da murmelte, war selbst für Eleborns Verhältnisse ziemlich verrückt, dachte Nandalee. Aber solange ihr Gefährte die Kugel nach oben steigen ließ, würde sie ihn nicht unterbrechen. Wenn sie die Wasseroberfläche erreichten, würde sie einen Weg hinauf zum Rücken des Ungeheuers finden. Wenn sie nur schnell genug wäre, könnte sie vielleicht an den Tentakeln hinaufsteigen.
Eine graue Felswand erschien vor ihnen im Wasser. Sie war bedeckt mit Muscheln und Seetang.
»Was seht ihr hier?«, fragte Eleborn voller Begeisterung.
Nandalee sah Nodon an. Der Schwertmeister des Dunklen war von der Frage offensichtlich genauso überrascht wie sie.
»Ein Bein!«, rief Eleborn aus, als sie nicht antworteten, »ein riesiges Bein. Wir befinden uns dicht über seinem Kniegelenk. Aber lassen wir das. Wirklich von Interesse ist der Wulst dort oben. Diese Wucherung unter dem Knochenschild.«
Nandalee sah eine Beule groß wie ein Mammutschädel. »Und was ist daran besonders?«
»Er ist ein Telepath. Nangog ist einfach genial. In allen Geschichten, die ich über sie kannte, wird sie als tumbe Riesin geschildert. Aber das ist sie nicht. Diese Kreatur ist ein einziges Wunder! Dass ihre Knochen das gewaltige Gewicht tragen können. Die vielen Augen. Er hat mehrere Mägen und Münder, sonst könnte er gar nicht genug essen und trinken, um am Leben zu bleiben. Und das ist nicht das Einzige, was er mehrfach besitzt.« Eleborn strahlte vor Begeisterung. »Ratet ihr es nicht?«
»Sag mir nur, wie man das Biest umbringen kann. Alles andere interessiert mich nicht.« Nandalee fiel es schwer, ihren Ärger zu beherrschen. Wie konnte er nur vergessen, weshalb sie hier waren!
»Unter diesem Wulst, eingebettet in eine Knochenschale, liegt ein Gehirn. Er hat ein Dutzend oder noch mehr davon. Sie alle stehen in telepathischer Verbindung mit dem Haupthirn, das nahe dem oberen Fressschlund liegt. Sein Körper ist zu groß, als dass ein Gehirn ihn noch bewegen könnte. Das Ganze ist …«
»Du bist ein Telepath?«, fragte Nodon argwöhnisch.
»Der Himmlische hat dieses Talent in mir erweckt, so wie er es bei vielen Elfen tat, die der Blauen Halle dienten.«
»Kannst du seine Gedanken beherrschen und ihm deinen Willen aufzwingen?« Neue Hoffnung keimte in Nandalee auf. »Kannst du ihn zwingen, das Traumeis zu uns ins Meer zu werfen?«
Eleborn schnaubte ärgerlich. »Ich bitte dich! Ich hatte mich dem Himmlischen verschrieben. Glaubst du, er hätte uns die dunkelsten Spielarten der Telepathie gelehrt? Wir waren …«
»Kannst du wenigstens seine Gedanken stören oder ihn von uns ablenken?«, fragte Nodon ruhig.
»Er flüstert mit so vielen Stimmen …« Eleborn wirkte verzagt. »Viele seiner Gedanken verstehe ich gar nicht. Er kann seine Form verändern. Gerade lässt er einige seiner Fangarme länger werden.«
Er wird das Wolkenschiff angreifen, wenn sie den Fehler machen, zu tief über ihm zu fliegen, dachte Nandalee. Noch war der Kampf um das Traumeis nicht verloren. »Lass mich aus dieser Kugel, Eleborn.«
»Aber hier sind wir sicher!«
»Wenn es mir um Sicherheit ginge, wäre ich im Jadegarten geblieben«, entgegnete sie eisig. »Mir scheint, du hast vergessen, weshalb wir hierhergekommen sind.«
»Wie könnte ich Meliander vergessen!«
»Wenn du dich wirklich um ihn sorgst, dann hilf mir jetzt, statt dieses Ungeheuer zu studieren.«
»Das tue ich doch nur, um einen sicheren Weg auf seinen Rücken zu finden. Wir könnten …«
»Wir könnten aufbrechen«, schnitt ihm Nandalee das Wort ab. »Uns läuft die Zeit davon.«
»Ich könnte das Gehirn dort am Knie vielleicht lähmen. Wenn das gelingt, dann werden uns die Tentakel, die mit ihm verbunden sind, nicht mehr gefährlich und …«
»Ich weiß, wie ich dieses Gehirn daran hindere, uns noch gefährlich zu werden. Wir müssen …«
»Ich habe verstanden.« Eleborn berührte die Wand der Blase. »Los, steck deinen Kopf hier hindurch. Jetzt!«
Nandalee gehorchte, erleichtert, dass es endlich weiterging. Die Haut, die sie gegen das Meer schützte, war gallertartig. Statt aufzureißen, beulte sie sich aus, als sie versuchte, den Kopf hindurchzustrecken. Plötzlich gab sie dann doch nach. Eine Blase hatte sich um ihren Kopf gebildet. Sie konnte atmen. Wie ein durchsichtiger, großer Helm umschloss das Gallert ihr Haupt. Und nur ihren Kopf.
Nandalee glitt hinaus ins Wasser. Ohne sich umzusehen, ob die anderen ihr folgten, strebte sie dem Wulst über dem Knie des Meerwanderers entgegen. Sie würde die Gedanken dieser Bestie nicht stören. Sie würde dafür sorgen, dass sie aufhörte zu denken. Zumindest dieser Teil von ihr.
Das Grauen
Hornbori blieb atemlos stehen. Er war am Ende seiner Kräfte. Selbst die Erinnerung an das Grauen der letzten Stunde vermochte ihn nicht mehr vorwärtszutreiben. Er konnte nicht mehr.
»Heh, Schisser. Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für ein Schönheitsschläfchen.«
Hornbori konnte es nicht mehr hören! Dieses ewige Gestichel! Seine Hände klammerten sich um den Schaft von Schädelspalter. Wie gerne würde er Galars Schädel spalten!
Sie liefen eine endlose Rampe nahe der Außenwand der Klippe hinauf. Zehn Schritt hinter ihnen fiel ein goldener Lichtstreifen durch eine verborgene Felsspalte. Deutlich konnte er sehen, wie sich die Tentakel hinter ihnen den Weg hinaufwanden.
Vier Fleischstränge, besetzt mit Saugnäpfen, groß wie seine Handfläche. Darüber schwebte an einem dünneren Strang ein Auge.
»Ich bleibe hier«, keuchte er. Sollte ihn die Bestie doch zerreißen. Er konnte keinen Schritt mehr laufen. Vielleicht würde er ein oder zwei Tentakel durchhacken, bevor ihn die Krallen zerfetzten. Diese knöchernen Fleischerhaken, denen heute schon so viele Zwerge zum Opfer gefallen waren.
»Ich werde dich nicht tragen, Schisser. Entweder nimmst du die Beine in die Hand, oder das war’s.«
Hornbori winkte matt. »Haut ab. Ich halt dieses Ding auf.« Er lachte erschöpft. »Für ein oder zwei Atemzüge vielleicht.«
Galar packte ihn bei der Schulter. »Das ist jetzt nicht der Augenblick, mein Weltbild durcheinanderzubringen, Schisser. Du bist der verdammte Drecksack, der immer die anderen verrecken lässt. Der davonläuft und den Ruhm der Toten stiehlt. Jetzt tu also, was du immer getan hast! Nimm die Beine in die Hand. Lauf!«
Die Tentakel bewegten sich etwas langsamer. Sie taten, was Hornbori auf seiner Flucht schon mehrfach beobachtet hatte. Sie zitterten, streckten sich, wurden dünner und länger. Diese Bestie ließ ihre Arme wachsen! Ganz gleich, wie weit sie liefen, sie würden ihr niemals entkommen. Diese immer länger werdenden Tentakel würden sie auch im hintersten Winkel der Höhlen erreichen. Es war sinnlos zu fliehen!
»Ich schlag hier meine letzte Schlacht … Und diesmal mit Mut und Ehre.« Er traute selbst kaum seinen Ohren, als diese Worte über seine Lippen kamen. Das war die Erschöpfung. Wenn er auch nur noch einen Schritt laufen könnte, dann würde er das tun, keine Frage. Aber es ging nicht mehr. Er lehnte gegen die Wand des Tunnels, hielt die Axt hoch vor der Brust und wartete.
»Wir gehen zusammen«, sagte auch Nyr. Er legte den bewusstlosen Krieger, den er gestützt hatte, auf den Boden. Den einen, den sie hatten retten können. Hornbori hatte seine beiden Gefährten überredet, zum Boot zurückzugehen, um die Verwundeten zu bergen. Alle anderen waren gerannt.