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Als sie den ersten der beiden Verletzten geborgen hatten, war die Flutwelle gekommen. Die Wilde Sau war nicht vertäut gewesen. Sie war ins Hafenbecken gezogen worden. Unerreichbar für sie. Und dann hatten sich die Tentakel in den Grottenhafen geschoben. Riesig, tödlich, alles unter sich zermalmend und sich auch noch verändernd. Er hatte so etwas noch nie zuvor bei einem Tier gesehen. Es konnte Krallen aus den Enden der Fangarme wachsen lassen.

Seitdem waren sie nur noch gelaufen. Sie hatten die anderen Zwerge erst nicht eingeholt. Sie waren die Letzten auf der Treppe, die hinauf in die Höhlen führte. Aber nicht für lange. Bald hatten sie Verwundete getroffen und Krieger, die die Tage an den Kurbelwellen bis ins Mark erschöpft hatten. Den Ersten hatten sie noch versucht zu helfen. Sie hatten sie ermutigt oder ihnen Angst gemacht. Aber es hatte nicht geholfen. Hornbori konnte sie jetzt besser verstehen. Es gab einen Grad von Erschöpfung, der einem den Tod wie eine Erlösung erscheinen ließ. Sie hatten ihre Kameraden zurückgelassen. Und dann hatten sie die Schreie gehört … Diese Schreie hatten Hornbori noch einmal vorangetrieben. Hatten ihm die Kraft gegeben, gegen das Unausweichliche aufzubegehren. Bis jetzt. Sollten ihn die Krallen doch zerfleischen! Ihm war alles egal.

Weitere Tentakel schoben sich durch den Tunnel.

»Macht, dass ihr wegkommt!«, schrie Hornbori. Ihm standen Tränen in den Augen. Was für ein Scheißende! Alle würden sie hier verrecken. Nyr und Galar waren zu dämlich, um zu begreifen, dass niemand dem Ungeheuer entkommen würde. Niemand würde das Heldenlied über Hornbori Drachenfausts letzten Kampf singen.

Ein Tentakel wand sich auf Hornbori zu. Die Kralle am Ende des Fangarms wippte auf und nieder, als wollte sie ihm einen spöttischen Gruß entrichten.

»Für die Tiefe Stadt!«, hallte es durch den Tunnel. Galar stürmte vor und durchtrennte den Fangarm mit einem wuchtigen Hieb.

Weitere Tentakel stießen vor. Nyr war plötzlich neben ihnen, und auch Hornbori schlug mit letzter Kraft auf einen mächtigen Fleischstrang. Sein Axtblatt zerteilte den Fangarm so leicht, als schnitte es durch Luft. Hornbori schrie seine Wut und seine Verzweiflung heraus. Blut spritzte ihm ins Gesicht, troff von seinem Bart und durchtränkte seine Kleider. Wie von Sinnen hieb er um sich. Ein Rausch packte ihn. Er drängte vor, hackte, schrie. Blut spritzte ihm in den weit offenen Mund.

Doch ganz gleich, wie viele Fangarme er auch abschlug, es drängten immer neue nach, und er sah, wie die Tentakel nachwuchsen. Wie sich Krallen und Knochendornen aus den blutigen Stümpfen schoben. Es war ein Albtraum.

Der abschüssige Boden war mit abgetrennten Gliedern bedeckt und schlüpfrig vom Blut. Hornbori brach in die Knie. Erschöpft von der Raserei. Galar nahm ihn und zog ihn ein Stück zurück.

»Gar nicht übel für einen Schisser«, grummelte der Schmied.

»Wenn du dein Amt als Heermeister niederlegst, würdest du einen erstklassigen Fleischhauer abgeben.« Nyr bedachte ihn mit einem breiten Grinsen. Seine Zähne leuchteten unnatürlich weiß in seinem blutbeschmierten Gesicht.

Hornbori war alles egal. Er rang keuchend um Atem. Ihm fehlte die Kraft, auch nur ein einziges Wort zu sprechen.

Wieder griffen die Tentakel an. Galar und Nyr stellten sich ihnen in den Weg. Doch ihr Mut und ihr Geschick richteten weit weniger Schaden an als die Axt, die der Goldene ihm geschenkt hatte. Er sollte aufstehen, dachte Hornbori, schaffte es aber nicht.

Galar und Nyr hätten nicht hier sein sollen. Er hatte alleine sterben wollen. Und nun musste er ihnen zusehen, wie sie vor ihm gingen. Er versuchte aufzustehen. Es wollte nicht gelingen. Es … Eine Bewegung dicht unter der Decke des Tunnels fiel ihm auf. Ein Tentakel kroch unter dem grob behauenen Felsen entlang. Er sah anders aus als jene, die Galar und Nyr bedrängten. Dünner, von fahlem Weiß und ganz ohne Saugnäpfe. Er senkte sich auf den Verwundeten hinab. Der Ohnmächtige erwachte mit einem gellenden Schrei, als sich das Ende des Tentakels auf sein rechtes Auge senkte.

Hornbori sah, wie ein Klumpen durch den Tentakel glitt. Und dann vollführte der Fangarm rhythmische Kontraktionen. Es sah aus, als pumpte er etwas ab. Die Schreie des Verwundeten steigerten sich zu einem gellenden Crescendo und brachen plötzlich ab. Sein Kopf sackte in sich zusammen wie ein leerer Weinschlauch. Sein Leib zuckte. Immer noch pumpte etwas durch den Fangarm.

Hornbori vergaß seine Müdigkeit. So etwas hatte er noch nie gesehen. Dieses Biest saugte den Krieger aus, bis nur noch ein Hautsack übrig blieb.

Der Heermeister sprang auf und begann zu laufen.

»Hornbori!«, hörte er Nyrs verzweifelte Stimme hinter sich.

Er konnte den beiden nicht helfen. Er hatte sie nicht hier zurückhalten wollen. Sollten sie jetzt allein auf sich aufpassen! Das war nicht seine Aufgabe. Er lief an dem grässlichen, saugenden Tentakel vorbei. Rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Schneller und schneller.

Er überholte erschöpfte Nachzügler, die in dem gewundenen Tunnel kauerten und ihm verwundert nachsahen. Immer weiter, bis Kampflärm vor ihm erklang. Er sah Ulur mit seinem tätowierten Leib, der eine Hand auf eine tiefe Schnittwunde in seiner Brust presste. Sah Ginnar, dem die Kobolde den Bart abgezogen hatten, wie man ein Kaninchen häutete. Sah die Krieger der Menschenkinder, die sich seinen Zwergenbrüdern in einer dünnen Schlachtlinie entgegenstellten. Er wollte fort. So weit es ging, vor diesem dünnen weißen Fangarm fliehen, der einem das Hirn aus dem Schädel saugte.

Mit einem gellenden Schrei warf er sich den Menschen entgegen, hackte wütend auf Schilde ein, zerbrach Schwertklingen unter den wuchtigen Hieben seiner Axt und spaltete Schädel, wie ein Kind Nüsse aufknackte.

Der Schildwall der Menschenkinder zerbrach. Er sah das Entsetzen in den Augen der Männer, die eben noch hatten kämpfen wollen. Ein einäugiger Kerl schrie auf die Flüchtenden ein, wagte es aber nicht, sich ihm in den Weg zu stellen.

Hornbori hieb auf einen großen Krieger in einem Bronzekürass ein, der ihm einen flachen Schnitt am Arm zugefügt hatte. Seine Axt spaltete den Helm. Der Sterbende spie Blut. Hornbori schlug erneut zu. Und wieder und wieder …

»Der ist tot!« Kräftige Arme packten ihn. Dann erschien Ginnar. »Aufhören!«, schrie ihn der Zwerg aus Ishaven an. »Bei den Alben, komm zu dir! Es ist vorbei. Du hast sie in die Flucht geschlagen, ganz allein, Heermeister.« Er sprach den Titel voller Hochachtung aus, auch wenn Misstrauen in seinen Augen glomm.

Hornbori kämpfte gegen die Arme an, die ihn gepackt hielten. »Wir müssen weg hier. Weiter nach oben. Es folgt mir!«

»Was folgt dir?«

Der Heermeister starrte mit angstweiten Augen den Tunnel hinab, durch den er geflohen war. »Das Grauen, Ginnar. Das Grauen!«

Nicht besiegt

Das war das Ende. Arcumenna hatte in zu vielen Schlachten gekämpft, um sich etwas vormachen zu können. Seine Männer würden keinen Schildwall mehr bilden. Ihr Wille zum Widerstand war zerschmettert. Der rasende Daimon mit der Axt hatte das getan. Ein einziger Krieger hatte über das Schicksal Asugars entschieden.

Arcumenna hielt seinen Schild hoch. Das Gesicht dem Feind zugewandt, ging er langsam rückwärts. Er war in seinem ganzen Leben noch nicht geflohen. Er hatte sich gelegentlich zurückziehen müssen, aber er würde nicht in wilder Panik davonlaufen.

»Herr, schneller!«, drängte Horatius. Der Hauptmann war der Einzige, der an seiner Seite geblieben war. Alle anderen waren fort.

»Du darfst gehen«, sagte der Feldherr ruhig.

Horatius stieß einen Fluch aus, für den ihn das Lebende Licht bei lebendigem Leib verbrannt hätte. Ihr Devanthar verstand keinen Spaß bei lästerlichen Worten über die Götter oder die Unsterblichen.

Schritt um Schritt ging der Feldherr, ohne seine Feinde aus den Augen zu lassen. Der Boden des Tunnels war bedeckt mit Toten und Verwundeten. Letztere würden sie den Daimonen überlassen müssen. Ihr Schildwall war zu plötzlich zerbrochen. Niemand hatte mehr an seine Kameraden gedacht. Die Männer, die ihm vielleicht in einer anderen Schlacht das Leben gerettet hatten.