Seltsamerweise hielten sie den Daimon mit der Axt fest und folgten ihnen nicht. Noch nicht …
Horatius fluchte immer noch leise vor sich hin, aber der Hauptmann machte keinen Versuch mehr, ihn umzustimmen. Sein Kamerad hielt sich rechts von ihm, bereit, mit seinem Schild seine Brust zu decken. Sie wichen in langsamem Gleichschritt zurück.
Wohin sollten sie gehen? Hinauf in die verwüstete Stadt, auf die die Fangarme des Ungeheuers einschlugen? Oder in das System aus Tunneln und Zisternen, in das sie schon einmal geflohen waren? Bei dem, was er den Daimonen angetan hatte, durfte er nicht auf Gnade hoffen. Er würde auch nicht darum bitten. Er würde mit dem Schwert in der Hand sterben.
Der Krieger mit der Axt, der ihren Schildwall zerbrochen hatte, machte sich los. Er schrie etwas und deutete mit seiner Waffe in ihre Richtung. Vielleicht hatte er Freunde im Feuer verloren? Für ihn war der Kampf noch nicht zu Ende. Er wollte Rache!
»Mein Fürst!« Eilige Schritte begleiteten den Ruf. »Mein Fürst!«
Arcumenna sah flüchtig über seine linke Schulter. Es kam keine Verstärkung. Nur ein einzelner Mann mit einer Fackel. Eine dürre Gestalt. Er trug nicht einmal einen Helm. Sein schwarzes Haar hing ihm in nassen Strähnen in die Stirn. Gaius, der Hauptmann der Stadtwache von Asugar. »Herr … ein Wolkensammler. Sie greifen das Ungeheuer an!«
Arcumenna schloss die Augen. Einen Herzschlag lang nur. Die Götter hatten ihn also doch nicht verlassen. Es musste ein Kampfschiff sein. Kein Kauffahrer hätte es gewagt, sich mit der Bestie anzulegen.
»Silberne Löwen sind in den Ruinen gelandet. Sie bringen die Verwundeten hoch auf das Schiff.«
Das gefiel ihm nicht. Es roch nach Flucht und Niederlage. Auch die Daimonen waren fast am Ende ihrer Kräfte. Er würde nur hundert Krieger benötigen. Das wäre genug, um ihre Feinde zurück in die Fangarme der Bestie zu treiben.
»Verstärke unseren Schildwall!«, befahl er entschlossen.
Gaius sah ihn verwundert an.
»Dies ist ein geordneter Rückzug. Unsere Schlachtlinie ist ungebrochen! Willst du dich einem Befehl deines Fürsten widersetzen?«
Wortlos reihte sich Gaius in ihren Schildwall ein.
Arcumenna bemerkte den Blick, den der junge Hauptmann mit Horatius tauschte. Sollten die beiden ihn nur für verrückt halten. Ihm war bewusst, dass drei geschlagene Gestalten, die langsam rückwärtsgingen, allenfalls als traurige Parodie auf eine Kampflinie durchgingen. Aber hier ging es ums Prinzip! Disziplin war alles, woran sie sich noch klammern konnten. Er hatte stets durch ein gutes Vorbild geführt. Seinen Männern nie etwas befohlen, was er nicht selbst getan hätte, und er hatte in den meisten seiner Schlachten zumindest in den kritischsten Augenblicken in den vorderen Kampfreihen gestanden. Dies war ein Teil des Geheimnisses seiner Siege. Er war sich sicher, bevor sie das Plateau mit der verwüsteten Stadt erreichten, würden sich zumindest einige der Flüchtenden wieder ihrem Schildwall anschließen.
»Was für ein Schiff ist uns zu Hilfe geeilt, Hauptmann? Hast du es mit eigenen Augen gesehen?«
»Ja, Herr. Ich habe es gesehen. Es ist nicht nur ein Gerücht. Es ist der seltsame, flache Wolkensammler, der vor einigen Wochen schon einmal hierherkam. Er hat ein Schiff aus Trümmern getragen, und seine Fracht waren allein verletzte Wolkenschiffer. Jetzt aber trägt er ein anderes Schiff. Es hat viele fliegende Löwen und Bären an Bord.«
Arcumenna seufzte. Es schien der Wolkensammler zu sein, den er über dem Palast des Unsterblichen Volodi gesehen hatte. Und all die Löwen und Bären … Das waren keine guten Nachrichten. Wo diese verdammten neuen Flieger waren, musste man mit Unsterblichen rechnen, und die würden sich von ihm nichts sagen lassen. Aber vielleicht hatte er ja Glück … Auf jeden Fall war der Kampf um Asugar noch nicht entschieden!
Es kam, wie er es vorhergesehen hatte. Als sie die letzten Schritte hinauf aufs Plateau taten, war ihre Truppe auf fast vierzig Mann angewachsen. Die Verzagten und die leicht Verwundeten hatten sich ihnen angeschlossen. Doch die Daimonen folgten ihnen. Sie waren langsam. Auch sie wurden durch ihre Verwundeten aufgehalten, doch sie schienen entschlossen zu sein, eine Entscheidung herbeizuführen.
Arcumenna blickte zu dem Wolkensammler auf. Das Schiff, das er trug, war nicht sonderlich eindrucksvoll. Allerdings waren viele der geflügelten Schöpfungen der Devanthar in der Luft. Mit ihrer Hilfe sollte er die Daimonen vernichten können.
Sie waren am südlichen Ende des Plateaus aus der unterirdischen Stadt gestiegen. Hier hatte das Ungeheuer offensichtlich noch nicht gewütet. Die Häuser waren zwar vom Drachenfeuer verbrannt, doch hatten keine Fangarme sie bis auf die Grundmauern eingeebnet. In einem Säulengang, der einmal Teil des großen Marktplatzes gewesen war, hatte Hattu ein Lazarett eingerichtet. Ganz in der Nähe waren zwei silberne Bären gelandet, und zwei schwer bewaffnete Krieger standen zwischen den Krankenlagern.
»Gaius!«
»Mein Fürst.«
»Geh zu diesen Drusniern und richte ihnen aus, ich möchte ihren Befehlshaber sprechen. Ich werde ihm erklären, wie wir unsere Truppen gemeinsam zum Sieg führen können.«
Der junge Hauptmann bedachte ihn mit einem verschmitzten Lächeln, war aber klug genug, nichts zu sagen. Arcumenna war klar, dass er eigentlich nicht in der Position war, gegenüber den Drusniern irgendwelche Forderungen zu stellen, aber wenn man nur dreist genug auftrat, war einem auch das Glück hold. Die Hälfte seiner Siege hatte er seiner Frechheit zu verdanken.
»Horatius, nimm dir ein paar Männer, such in den Tunneln nach Nachzüglern und behalte die Daimonen im Auge. Ich wünsche nicht, dass sie uns noch einmal überraschen. Wir werden ihnen hier oben eine Falle stellen.«
Sein alter Kampfgefährte grinste. »Mir ist auch nach noch einem Tänzchen mit den Mistkerlen!«
Zufrieden sah Arcumenna zu, wie Horatius wieder ins Zwielicht der Tunnel hinabstieg, denen sie gerade erst entkommen waren. Er war ein tapferer Mann. Hoffentlich überlebte er den Tag.
Voller neuer Zuversicht blickte er zu dem Ungeheuer, das seine Fangarme dem Himmel entgegenstreckte und die Stadt fast nicht mehr behelligte. Eine Wolke riesiger Pfeile schoss dem schwebenden Schiff entgegen. Der Fürst sah, wie sich eine Klappe im Unterdeck öffnete. Einige Männer standen dort und blickten auf den Meerwanderer hinab. Wahrscheinlich würden sie gleich etwas auf das Ungeheuer hinabwerfen.
»Mein Fürst …« Ein alter Mann verbeugte sich demütig vor ihm.
Arcumenna war verärgert über die Ablenkung. »Was?«
»Der Heiler Enak dachte, Ihr möchtet vielleicht Abschied nehmen …«
Jetzt erkannte er den Alten. Er war einer der Pfleger im Palast der Kranken. Wie kam er darauf, dass er sich inmitten des Kampfgetümmels von einem Sterbenden verabschieden wollte? Sah er aus wie ein sentimentaler Weichling? »Ich habe eine Schlacht zu lenken …«
»Ich hatte Enak gesagt, dass Ihr so antworten würdet. Ich war vor langer Zeit Krieger … Dies ist nicht meine erste Schlacht mit Euch, Herr. Ich weiß, eine Heilerin ist nicht so bedeutend wie ein Sieg.«
»Eine Heilerin? Diese aufsässige neue …«
»Ihr Name ist Shaya, Herr.«
»Wo ist sie?«
»Darf ich Euch zu ihr führen?«
Arcumenna bedachte den Alten mit einem scharfen Blick. War der Kerl unglaublich einfältig oder erstaunlich gerissen? Hatte der Pfleger ihn manipuliert? Er entschied sich, das nicht zu glauben. Der Alte war wenig mehr als ein Sklave. Hätte er einen scharfen Verstand, würde er nicht niedere Dienste verrichten.
»Wohin gehst du? Hattu und die Verwundeten sind drüben bei der Agora.«
»Sie hat ihren eigenen Platz, Herr. Etwas weiter fort von den Kämpfen, mit einem schönen Blick über das Meer.« Die Stimme des Dieners stockte. »Dort muss sie das Ungeheuer nicht sehen, sollte sie noch einmal zu sich kommen.«