»Ich muss es wagen«, sagte sie entschieden. Sie hatte jetzt alle Goldborten von ihrem Kleid entfernt. Es sah nur noch wenig besser als ein Lumpen aus, auch wenn der Stoff viel zu gut war, um von einer Webbank der Menschenkinder zu stammen. Sie sollte es so schnell wie möglich loswerden, wenn es ihr gelang, sich einzuschleichen.
Nandalee beugte sich über Eleborn. Er war ohnmächtig geworden. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Danke. Ich werde auch für dich das Traumeis holen.« Dann richtete sie sich auf und blickte zu der Steilklippe. Es würde ein schwerer Aufstieg werden.
Sie nickte Nodon zu.
»Das Glück ist den Verrückten wohlgesinnt.« Der Schwertmeister sagte das nüchtern, ohne jedes Lächeln.
»Ich weiß«, entgegnete sie knapp. Dann sprang sie ins Wasser und schwamm der Klippe entgegen.
Der Held
Sie leisteten keinen Widerstand mehr. Die Menschenkinder waren besiegt. Hornbori stürmte dem Licht entgegen. Die anderen Zwerge konnten kaum mit ihm Schritt halten. Seine Müdigkeit war wie aus seinem Leib gebrannt.
Wenn dort oben Bogenschützen auf ihn warteten? Sein Schritt stockte einen Augenblick lang. Nein! Er hatte einen Lauf! Nichts konnte ihn aufhalten. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er empor. Dann stand er auf einem Platz, der von Reihen geborstener, rußgeschwärzter Säulen umgeben war. Er stieß einen unartikulierten Schrei aus. Niemand hatte ihn erwartet! Das Glück pulste wie Branntwein in seinen Adern. Es war ein Rausch.
Atemlos kam Ginnar neben ihm zum Stehen. Sein Kamerad presste sich die Hände in die Hüften. Sein Atem ging keuchend. »Du läufst wie auf Flügeln«, stieß er hechelnd aus.
Still zu stehen tat Hornbori nicht gut. Sein Rausch wich langsam Ernüchterung. Warum kämpften die Menschen nicht mehr? Voller Sorge betrachtete er das Wolkenschiff, das über dem Ungeheuer am Himmel hing. Sie bargen Amphoren! Es schien, als holten sie sie aus dem Leib der Bestie. Und das Viech rührte sich nicht mehr.
Der Heermeister schritt zwischen den Säulen hindurch und blickte über das Ruinenfeld, das einst Asugar gewesen war. Berge regloser Tentakel füllten die menschenleeren Straßen. Nur hier und da zuckte einer der kleineren Fangarme.
Krieger auf geflügelten Löwen und Bären zogen über den Himmel. Und sie ignorierten ihn! Ihr ganzes Augenmerk schien auf die Flüchtlinge gerichtet zu sein, die sie hinauf zum Wolkenschiff brachten.
Weitere Zwerge kamen erschöpft aus den Tiefen der Klippe heraufgewankt. Es war an der Zeit, dass er etwas für seinen Ruhm tat, dachte Hornbori. Mit wütendem Gebrüll stürmte er den Bergen von Tentakeln entgegen und hieb seine Axt in das reglose Fleisch. »Erzittere vor dem Zorn der Zwerge, niederträchtiges Schlangengezücht! Schmecke den Zorn meiner Axt!«
Mit einem schmatzenden Geräusch verschwand das breite Blatt der Waffe in einem Fangarm, der hoch wie ein Haus war. Blut träufelte aus der tiefen Wunde. Immer und immer wieder hieb er auf das Ungeheuer ein und verfluchte es.
Plötzlich erschien über ihm ein Auge am Ende eines Fangarms. Ein klein wenig Leben war also doch noch in der Bestie. Das war gut! Er würde sich dieses Auge holen, das ihn mit weiter dunkler Pupille anstarrte.
Hornbori griff nach einem Saugnapf, groß wie ein Wagenrad. Er krallte sich in das weiche, wabbelige Fleisch und kletterte dem Auge entgegen, das langsam vor ihm zurückwich. Wurde der Tentakel, auf dem diese starrende Kugel saß, etwa länger? Egal! Er wollte eine Trophäe! Und da es hier keinen Kopf zu holen gab, würde er mit diesem verdammten Auge vorliebnehmen.
Endlich erreichte er das obere Ende der Fleischwand. Er schob sich voran, kam mühsam auf die Beine und suchte das Auge. Es war weiter vor ihm zurückgewichen. Zwei Schritt neben ihm schlug ein kurzer Wurfspeer ein. Die Reiter am Himmel waren auf ihn aufmerksam geworden.
Keiner seiner Männer war ihm auf diesen mächtigen Tentakel gefolgt. Hornbori zögerte, wich aus, als er sah, dass ein weiterer Wurfspeer zu ihm hinabsauste.
»Lass es, Hornbori!«, rief Ulur zu ihm hinauf.
»Geht in Deckung!«, befahl Hornbori in seinem gebieterischsten Tonfall. »Ich bin mit dem Mistviech noch nicht fertig. Es soll bluten für das, was es uns angetan hat.«
»Aber es regt sich doch nicht mal mehr …«, wandte Ulur ein.
Der Heermeister ignorierte ihn. Er brauchte seine Trophäe! Nur damit wurde er zum Sieger, und es war egal, was mit der Kreatur geschehen war. Das Auge hatte sich erneut einige Schritt von ihm zurückgezogen.
Er stapfte über das schleimbedeckte Fleisch. Einige kleinere Tentakel bewegten sich zwischen den massigen Fangarmen. Er sah, wie ihre Spitzen sich verjüngten, wuchsen, sich wie Keimlinge dem Licht des Himmels entgegenstreckten.
Wieder verfehlte ihn ein Pfeil knapp. Hoch oben an der Reling des Wolkenschiffs sah Hornbori Bogenschützen. Sie waren zu weit entfernt, um einen gezielten Schuss auf ihn abgeben zu können. Ihretwegen musste er sich keine Sorgen machen. Im Gegenteil, wenn sie auf ihn anlegten, taten sie ihm einen Gefallen. Es würde Eindruck auf seine Männer machen, wenn er dem vermeintlichen Pfeilhagel trotzte.
»Ist das alles, was ihr könnt?« Er hob drohend seine Axt dem Wolkenschiff entgegen. Wie erwartet, erntete er als Antwort einen Schwarm Pfeile, die all ihre Durchschlagskraft verloren hatten, als sie weit um ihn herum niedergingen.
»Reiz die nicht, du verdammter Idiot!«, ertönte Galars unverwechselbare Stimme.
Hornbori blickte über die Schulter zurück. Der Schmied und Nyr hatten es also geschafft, den Tentakeln zu entkommen. Das machte es umso wichtiger, dass er sich vor allen als furchtloser Held zeigte. Galar würde bestimmt gleich damit beginnen herumzuerzählen, wie er die beiden im Stich gelassen hatte. Aber wer würde Galar schon glauben, wenn alle sehen konnten, dass ihr Heermeister ein Held war?
Hornbori führte ein paar provozierende Tanzschritte hoch oben auf dem erschlafften Tentakel aus. Dann drehte er dem Wolkenschiff den Rücken zu, beugte sich vor und zog die Hose hinab, um den Menschenkindern sein nacktes Hinterteil entgegenzustrecken.
Sein Auftritt verfehlte die gewünschte Wirkung nicht. Seine Kameraden grölten vor Begeisterung, reckten ihre Äxte in die Höhe und schrien dem Wolkensammler Schmähungen entgegen.
Hornbori zog seine Hose wieder hoch. Er schloss gerade den Gürtel, als ihn ein beklemmendes Gefühl überkam. Etwas war hinter ihm. Hastig drehte er sich um. Das Auge! Es hatte sich ihm bis auf einen Schritt genähert.
»Hab ich dich!«, zischte er, holte mit der Axt aus und machte einen Ausfallschritt. Sein Fuß trat mitten in einen Schleimhaufen. Er rutschte vorwärts, vollführte unfreiwillig fast einen Spagat und stürzte dann vornüber den mächtigen Tentakel hinab.
Hornbori fiel weich, auf sich windendes Fleisch. Sofort tastete er nach der Axt, die ihm entglitten war. Doch kaum, dass seine Finger den Schaft der Waffe umschlossen, schob sich ein Tentakel um seine Brust und zog sich zusammen wie die Schlinge eines Galgens.
Der Zwerg schrie auf, doch der Schrei blieb ihm schier in der Kehle stecken, als der Fangarm ihn immer fester umfing und hochhob. Seine Rippen knackten unter dem Druck. Zum Glück hielt der Tentakel ihn dicht unter den Achseln umschlungen, und so konnte er seine beiden Arme relativ frei bewegen. In der Rechten hielt er seine Axt, die er gerade noch zu packen bekommen hatte.
Doch als Hornbori das Blatt der Klinge auf den Fangarm über seiner Brust setzte, zögerte er … Die Bestie hatte ihn schon mehr als zehn Schritt in die Höhe gehoben. Wenn er den Muskel durchtrennte, der ihn hielt, würde er zu Tode stürzen.
Der Tentakel schwenkte auf den Bereich unmittelbar unterhalb des Wolkenschiffes zu. Höhnische Rufe der Menschenkinder begleiteten ihn. Hornbori wollte etwas erwidern, aber der Druck auf seine Brust war so stark, dass er nur ein Flüstern hervorbrachte. Jetzt öffnete sich zu seinen Füßen ein Schlund. Ein kreisrunder Abgrund, gesäumt von Zähnen lang wie Krummschwerter. »Bitte lass das«, flüsterte Hornbori. »Ich bring all meine Männer von hier fort. Keiner wird je wieder seine Axt gegen dich erheben. Ich will dir auch nichts tun.«