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Die Frau schien verstanden zu haben. Sie änderte die Richtung. Bald stand sie auf dem Sims, zwischen mächtigen Tentakeln, die sich durch eine Fensterfront tief ins Innere des Felsens streckten.

Artax flog so dicht wie möglich an den Fels heran, doch sein silberner Löwe scheute zurück. Er hatte Angst, mit den Flügeln den Stein zu streifen. Es war aussichtslos, hier konnten sie nicht landen. Und zu warten, bis die Frau hinauf in die Stadt geklettert war, wäre töricht. Er durfte nicht das Leben aller gefährden, um eine Einzige zu retten.

Die Frau hob flehend die Hände und rief etwas, das er nicht verstand. Dann plötzlich rannte sie auf ihn zu. Voller Todesverachtung sprang sie vom Sims. Sie ruderte mit Armen und Beinen durch die Luft. Artax drängte seinen Löwen etwas näher an die Steilwand. Funken sprühten von der Flügelspitze, als ihr Metall kreischend über das Gestein streifte.

Die Frau sprang zu kurz. Sie verfehlte den Sattelknauf, nach dem sie hatte greifen wollen. Ihre Augen begegneten einander. In ihrem Blick lag keine Angst. Nur Entschlossenheit.

Ihre rechte Hand bekam Artax’ Stiefel zu packen. Er beugte sich so weit es ging hinab, streckte ihr den Arm entgegen. Die zweite Hand der Frau packte nach Artax’ Bein. Mit erstaunlicher Kraft zog sie sich hoch, ergriff seine Hand und zog sich hinter ihn in den Sattel.

Artax atmete erleichtert auf, zog am Zügel und ließ den Löwen in Richtung des Flugdecks abdrehen.

»Du bist wirklich besonders«, rief er der Frau zu, die nun hinter der hohen Rückenlehne seines Sattels außerhalb seines Gesichtsfelds saß. Ihren rechten Arm hatte sie um seine Brust geschlungen. Ihre Haut war ungewöhnlich weiß.

»Ich danke Euch, Unsterblicher.«

Artax richteten sich die Haare im Nacken auf. Etwas an dieser Stimme war seltsam. Ihre Sprachmelodie eigenartig … Und wie kam es, dass eine einfache Frau aus einer valesischen Stadt in der Zunge Arams sprach?

Vielleicht war sie eine Adelige, dachte er und verdrängte sein Unbehagen. Dies war nicht der Tag, sich über Bagatellen den Kopf zu zerbrechen. Es war der Tag, an dem ein neues Zeitalter für Nangog anbrach.

Und doch. Ein Rest Unbehagen blieb. Wieder blickte er auf den seltsam bleichen Arm. Sie hat wohl fern der Sonne in den Höhlen der Stadt gelebt, sagte ihm sein Verstand.

Sie löste ihre Umklammerung. Warum? Warum verließ ihn dieses ungute Gefühl nicht?

Den Dolch in der Hand

Nandalee tastete nach dem Dolch, den Nodon ihr gegeben hatte. Ihr Retter war der Unsterbliche Aaron, der Mann, den die Himmelsschlangen für den gefährlichsten unter den Herrschern Daias hielten. Sie waren sich im Luftkampf begegnet. Erstaunlich, dass er sie nicht wiedererkannt hatte. Doch wie sah sie jetzt auch aus – mit zerzaustem Haar, einem zerrissenen und blutbesudelten Kleid. Von der stolzen Drachenelfe, die ihm vor weniger als einer Stunde auf ihrem Pegasus begegnet war, war nicht mehr viel geblieben.

Sie hatte ihre Hand von seiner Brust nehmen müssen. Zu unangenehm war es, die Magie der Devanthar zu spüren, die in seine Rüstung gewoben war. Sie brannte schon in ihren Beinen, dort, wo ihre nackte Haut das Metall des silbernen Löwen berührte. Diese Zauber waren ganz anders als die Magie Albenmarks. Sie strebten nach Herrschaft, nicht nach Harmonie.

Sie hatte auch die Schwachstelle der Rüstung gespürt. Unter der Achsel. Dort würde Nodons Dolch die Nähte im Leder durchdringen können. Ihre Klinge konnte das Herz des Unsterblichen erreichen.

Nandalee spürte, wie ihre Hand, die den Griff der Waffe umschloss, zu schwitzen begann. Ein Dolchstoß, und die Geschichte dreier Welten würde einen anderen Verlauf nehmen. Für Albenmark wäre es ein großer Sieg. Und für Meliander würde es bedeuten, auf immer verstümmelt zu bleiben.

Die Elfe blickte an der hohen Lehne des Sattels vorbei zu dem Deck, auf dem sie jeden Augenblick landen würden. Sie sah die Amphoren, die dort vertäut waren. Und sie sah all die silbernen Bären und Löwen. Und die Krieger mit den wehenden Umhängen. Vielleicht hätte sie sich mit Todbringer einen Weg bis zum Traumeis freikämpfen können, aber nur mit einem Dolch bewaffnet …

Der Löwe setzte hart auf dem Deck des Wolkenschiffs auf. Nandalee ruckte nach vorne und schlug gegen die Sattellehne. Leicht benommen glitt sie vom Rücken des silbernen Raubtiers. Es war so nah, das Traumeis, und doch unerreichbar.

Der Unsterbliche sah sich nach ihr um. Sie verbeugte sich vor ihm. »Danke, Herr! Ich werde nun nach Überlebenden meiner Familie suchen. Vielleicht …«

»Kann ich dir helfen? Soll ich jemanden rufen, der …«

Sie hob abwehrend die Hand. »Nein, Herr. Ihr habt schon so viel getan.« Sie kniete nieder und küsste den Saum des Rocks, den er zu seiner weißen Lederrüstung trug. »Danke.«

Er griff sie sanft bei den Schultern und half ihr auf. »Du bist sicher, dass du alleine zurechtkommst?«

Seine Augen! Darin lag echtes Mitgefühl, dachte Nandalee überrascht. Aaron nahm tatsächlich Anteil am Schicksal einer unbedeutenden Frau. Plötzlich war sie froh, dass sie den Dolch nicht benutzt hatte. Er verdiente es zu leben.

»Ich danke Euch, Herrscher aller Schwarzköpfe.«

Er lächelte, als sie seinen formalen Titel nannte. »Verlange, vor mich geführt zu werden, wenn du doch noch Unterstützung brauchst.« Er strich über eine ihrer von geronnenem Blut verklebten Locken. »Sagt den Palastwachen, die Frau mit dem Goldhaar verlangt vorgelassen zu werden. Ich werde mich an dich erinnern.«

Hinter ihnen wurde hitzig debattiert. Ein drahtiger Krieger in der Rüstung eines Feldherrn stand vor dem Unsterblichen Volodi und forderte energisch Krüge voller Öl.

Aaron sah in Richtung der beiden. »Ich fürchte, ich muss einen aufziehenden Krieg schlichten. Lebe wohl.«

Nandalee war erleichtert, als er ging. Was hatte er in ihr gesehen? Sie durfte keine Aufmerksamkeit erregen und hatte doch das genaue Gegenteil erreicht. Die Elfe war sich bewusst, dass auch andere Männer auf dem Flugdeck sie anstarrten. Erkannten sie, was sie war?

Das konnte nicht sein – es lag kein Hass in diesen Blicken. Da war Begehren, Sehnsucht, Melancholie … Aber kein Hass. Und dann begriff sie. Sie war eine Frau und noch dazu mit goldenem Haar! Diese Blicke würden ihr folgen, ganz gleich, wohin sie an Bord des Wolkensammlers ging.

»Darf ich dich zu den anderen Geretteten bringen?«, fragte ein stoppelbärtiger Mann mit müden Augen. Auch er trug die prächtige Rüstung eines Heerführers. »Sie befinden sich auf dem oberen Deck.« Er deutete in Richtung einer schmalen Wendeltreppe, die hinaufführte.

»Danke, Herr. Ich … Bitte, habt Ihr vielleicht ein Tuch, mit dem ich meine Haare bedecken kann?«

»Deine Haare sind wunderschön. Warum willst du sie verstecken? In dem Land, in dem ich lebe, gilt goldenes Haar als ein Geschenk der Götter.«

»Aber manche hier sehen mich an, als wäre ich eine Hure. Ich … ich möchte es verstecken.«

Wortlos nahm er seinen Umhang ab und reichte ihn ihr. Er war aus fein gewobenem, weißem Leinen mit einem breiten, purpurnen Streifen am Saum. Nandalee fluchte innerlich. Mit diesem Umhang würde sie kaum weniger Aufsehen erregen als mit ihren goldenen Locken. Sie nahm das Geschenk, legte den Umhang wie ein Kopftuch über ihr Haupt und faltete den Saum nach innen. »Dank, Herr«, flüsterte sie unterwürfig.

Der Feldherr geleitete sie noch bis zur Treppe, doch drängte er sich ihr nicht auf.

Eilig stieg sie die Stufen hinauf. Ihr Gönner folgte ihr nur mit Blicken. Das Oberdeck war dicht gedrängt von Menschen. Voller Beklommenheit sah Nandalee die Tentakel, die sich knapp zwei Schritt über den Häuptern der Menschenkinder wanden. Niemand außer ihr schien den Fangarmen des Ungeheuers, welches das Wolkenschiff trug, Beachtung zu schenken.

Es waren nicht viele Frauen an Bord. Bald fand sie eine gesprächige Wirtin, die ihr lange ihr Leid über ihre verlorene Schenke klagte. Mit ihr tauschte Nandalee ihren prächtigen Umhang gegen eine fadenscheinige braune Decke. Dann zog sich die Elfe ans andere Ende des Decks zurück, kauerte sich zwischen fest vertäute Vorratsfässer und versuchte, niemandes Aufmerksamkeit zu erwecken.