Augenblicklich flammte das Licht der Öllämpchen auf. Geradezu blendend hell erschienen der Elfe die kleinen Flämmchen, nachdem die absolute Finsternis gewichen war. Ihre Gefährten hatten bereits den Ausgang des Tunnels erreicht. Hinter der weit offenen Holztür waren die Sterne am Nachthimmel zu sehen.
Diesmal warteten die vier auf sie. Zwischen der Palastmauer und niedrigen, weiß getünchten Häusern verlief eine weite, menschenleere Gasse.
»Hier entlang!«, befahl Bidayn und wies nach Norden.
Vom Palast her ertönten Hörner und die Schreie Verwundeter. Valarielle spürte, dass sie beobachtet wurden. Hinter den Fensterläden spähten Menschenkinder hervor. Doch sie wagten nicht, etwas zu tun. In allen Häusern entlang des Weges waren die Lichter gelöscht worden.
Schon nach kurzer Zeit mündete die Gasse in eine breite Straße, die von Ruinenfeldern gesäumt wurde. Berge von zerbrochenen Ziegeln türmten sich dort. Dazwischen waren Zelte aufgeschlagen und Sonnensegel gespannt. Es roch nach Gewürzen und Staub. Wieder wusste Bidayn den Weg und winkte sie die steile Straße hinauf zu einer höher gelegenen Terrasse, auf der himmelblaue Häuser mit mondgelben Kuppeldächern standen.
Hinter einer halbhohen Mauer beobachtete sie ein dürrer Kerl, der einen langen Stecken über die Schulter trug, von dem erschlagene Nacktratten herabhingen. Er tuschelte mit einem Wasserverkäufer, der ein breites Lederbandelier über der Brust trug, in dem Tonbecher steckten. Valarielle hatte das Gefühl einer unmittelbaren Bedrohung. Aber diese jämmerlichen Gestalten konnten es nicht sein! Sie warf einen Blick zurück. Die Palastwachen hatten immer noch nicht entdeckt, dass sie durch den Tunnel geflohen waren. Alles war gut.
»Was ist?«, herrschte Bidayn sie an, die bemerkt hatte, wie sie erneut zurückfiel.
Valarielle winkte ab. »Alles gut, wir …«
»Dort!«, rief Lemuel plötzlich und deutete zum Himmel.
Der seltsame Wolkensammler schlug mit den Schwingen. Seine Tentakel wirbelten durch die Luft und peitschten auf die Leinen nieder, mit denen das Schiff, das er trug, am Ankerturm vertäut war.
»Der will uns«, murmelte Valarielle halblaut.
»Unsinn!«, widersprach Kyra entschieden. »Sie interessieren sich für nichts, was sich am Boden bewegt.«
»Er hat uns in dieser Nacht schon zwei Mal angegriffen«, erinnerte Bidayn. »Schnell jetzt! Dort oben, wo die Häuser auf beiden Seiten der Straße abgestürzt sind, holen uns die Adler.«
»Warten wir nicht so lange!«, entschied Lemuel und zog eine dünne silberne Pfeife aus einer Schlaufe an seinem Gürtel. Obwohl er aus Leibeskräften hineinblies, hörte Valarielle keinen Laut.
Die Knochenkrallen des Wolkensammlers durchtrennten das letzte Halteseil. Die Bestie glitt mit weiten Flügelschlägen in ihre Richtung.
»Seht!«
Vor dem kleineren der beiden Monde erschienen die Silhouetten der Adler. Es waren sechs! Die beiden Adler, die als Reserve im Dschungel vor der Stadt zurückgeblieben waren, hatten sich dem kleinen Schwarm angeschlossen, um Starkfuß zu ersetzen.
Auch der Wolkensammler verlor schnell an Höhe. Wütend peitschten seine Tentakel durch die Luft, als könnte er es gar nicht erwarten, sie zu zerfleischen.
Die Adler flogen in gerader Linie die steile Straße an. Kaum zwei Schritt über dem Pflaster glitten sie dahin, die Ringe aus lederumwickeltem Weidengeflecht in ihren Krallen.
In den Ruinen regte sich etwas. Männer krochen aus Schutthöhlen und Zelten. Sie starrten zu den Adlern. »Das sind Daimonen!«, schrie plötzlich jemand.
Im nächsten Augenblick ging ein Steinhagel auf die Vögel nieder. Valarielle rannte, so schnell sie konnte. Ein Stein traf sie in den Rücken. Rings herum zerplatzten Ziegel auf dem Granitpflaster.
Kyra war die Erste, die es schaffte, einen der geflochtenen Ringe zu packen. Mit einem Ruck wurde sie hinauf in den Himmel gezogen.
Valarielle sprang, die Arme weit vorgestreckt. Ihre Hand schloss sich um das Leder. Im selben Augenblick schob sich ein riesiger Schatten vor die Zwillingsmonde am Himmel. Der Wolkensammler hatte sie eingeholt.
Atemlos
Quetzalli lauschte auf die verklingenden Glöckchen. Plötzlich kehrte das Licht zurück. Wie von Zauberhand waren die Öllämpchen wieder entzündet. Die Daimonen waren verschwunden. Erleichtert atmete sie auf und nahm die Hand von Wanyas Mund.
»Sie sind fort, kleiner Prinz«, flüsterte sie. »Alles wird gut.«
Quetzalli setzte sich auf. Keine drei Schritt entfernt, dort, wo die Treppe, die sie hinabgekommen war, in den Tunnel mündete, lag eine Dienerin zusammengekrümmt in einer Blutlache. Quetzalli erinnerte sich nicht an ihren Namen. Sie war jung, ihre Brüste hatten kaum begonnen zu sprießen. Sie hatte am unteren Ende der Tafel in der großen Halle bedient.
Wanya schien eingeschlafen zu sein. Er lag ganz still in Quetzallis Arm. Sie drückte ihn an sich, streichelte sein Haar … Seine großen blauen Augen sahen starr zu ihr hinauf.
»Wanya?« Quetzalli zerzauste ihm das Haar.
Er regte sich nicht.
»Wanya!« Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Hatte sie ihm die Hand zu fest auf den Mund gedrückt? Hatte er nicht mehr atmen können?
Sie bettete ihn auf den Boden und fühlte nach seinem Herzen. Es schlug nicht mehr. »Nein!«, schrie sie auf. »Bei den Göttern! Nein!« Sie drückte auf seine Brust, beugte sich zu ihm hinab und blies mit aller Kraft ihren Atem in seinen Mund.
»Atme!«, beschwor sie ihn keuchend und drückte wieder auf seine kleine Brust. »Atme!«
Ein dünner Faden Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Seine Augenlider flatterten. »Bitte, ihr Götter, lasst ihn mir!«, flehte sie verzweifelt. »Nehmt mein Leben, nicht seins!«
Wanya blinzelte erneut. Doch seine Augen bewegten sich nicht, er blickte einfach starr geradeaus, als würde er etwas über ihr an der Decke des Tunnels betrachten. Deutlich spürte sie wieder seinen Herzschlag.
Unendlich erleichtert presste Quetzalli ihn an sich. »Alles ist gut, mein Schatz. Alles ist gut!«
Sie dachte an ihre Mutter, die immer kühl und abweisend zu ihr gewesen war. Sie konnte sich nicht erinnern, ein einziges Mal von ihr in den Arm genommen und getröstet worden zu sein. Nicht einmal nach jener Nacht, in der sie sich eine Dornenranke eng um die Zunge gewickelt hatte, um den Göttern ihren Schmerz zu schenken. Sie hatte keine Träne vergossen. Nur drei von fast hundert Mädchen hatten das geschafft. Damit hatte sie bewiesen, dass sie eines Tages würdig war, die Weihen einer Hohepriesterin zu empfangen. Als sie in das Haus ihrer Mutter zurückkehrte, hatte sich ihre Zunge entzündet. Sie hatte tagelang im Fieber geglüht und wäre beinahe an ihrer Zunge erstickt. Der Heiler, der ihrer Familie diente, hatte ihr die Zunge herausschneiden wollen. Und ihre Mutter hatte nichts getan, außer ihm zuzuhören und zu nicken. Sie hatte nicht zu ihr gehalten, ihrer eigenen Tochter. Ihre Mutter war immer der Überzeugung gewesen, dass man Liebe niemals zeigen durfte, weil die Götter einem stets das nahmen, was man am meisten liebte.
Es war ihr Vater gewesen, der sie vor dem Messer des Heilers gerettet hatte. Doch nicht, weil er ein freundlicher Mann gewesen wäre. Ohne Zunge hätte sie nicht zu einer bedeutenden Priesterin aufsteigen können.
»Das ist Unsinn, nicht wahr, Wanya? Die Götter stehlen nicht, was man liebt.«
Er lag ganz ruhig in ihrem Arm, strampelte nicht, versuchte nicht, sich aus ihrem Griff zu winden, wie er es sonst immer tat. Er war müde.
Quetzalli fröstelte es. Etwas von der Kälte, die mit der Dunkelheit gekommen war, schien im rußgeschwärzten Mauerwerk zurückgeblieben zu sein. Sie stand auf und ging auf das Tunnelende zu, das sie zum Palasthof führen würde. Quetzalli musste sich zwingen, nicht zu laufen. Unglück haftete an diesen dunklen Wänden. Sie schwor sich, nie wieder diesen Tunnel zu betreten.