»Ist er wach?« Der Größere der beiden beugte sich tief über die große Wiege und wedelte mit der Hand vor Wanyas Gesicht.
Quetzalli konnte sich die Namen der wechselnden Wachen nicht merken. Für sie sahen die Krieger alle ähnlich aus. Groß, bärtig, mit goldenem oder rotem Haar, und meist stanken sie nach Honigbier und ungewaschenen Kleidern.
»Geh von der Wiege weg!«, sagte sie leise.
»Das ist doch nicht normal. Er hat die Augen auf, aber er reagiert gar nicht auf meine Hand.« Der Krieger wandte sich zu Quetzalli um. »Was hast du mit ihm gemacht, du …«
»Darf ich mal, Makar?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich Yuri an dem Leibwächter vorbei. Er legte Wanya die Hand auf die Stirn. »Fieber«, erklärte er. »Da sind die Kleinen schon mal durch den Wind. Los, gib mir mal deine Hand. Wanya glüht regelrecht.«
Das konnte nicht sein, dachte Quetzalli. Wanya hatte sich heute Morgen zwar ein wenig wärmer als üblich angefühlt. Aber …
Yuri warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Na, hast du Angst, den kleinen Prinzen zu berühren«, neckte er den Krieger. Dann griff er nach Makars Rechter und führte die Fingerspitzen zur Stirn des Kindes.
»Er scheint wirklich etwas erhitzt zu sein …« Der Krieger wirkte unsicher.
»Wie viele Kinder hast du großgezogen, Makar?« Yuri bedachte den baumlangen Kämpfer mit einem warmherzigen Lächeln.
»Keines …«
Der Heiler nickte. »Dachte ich mir. Du hast mit anderen Worten keine Ahnung. Manchmal bekommen sie für ein paar Stunden Fieber, und dann ist alles wieder gut. Dabei schlafen sie auch gerne mal mit offenen Augen. Sie sind schon seltsam, diese kleinen Würmchen. Und sie halten verdammt ’ne Menge aus … Willst du Wanya mal auf den Arm nehmen?« Ohne die Antwort abzuwarten, hob Yuri den Kleinen hoch und drückte ihn Makar in die schaufelgroßen Hände. Der Krieger wirkte verlegen, grinste, und Quetzalli bemerkte, dass er vor Anspannung den Atem anhielt.
Sie wusste, warum Yuri das tat, aber es gefiel ihr ganz und gar nicht, ihren Sohn in den Händen dieses Tollpatschs zu sehen.
»Makar, Makar.« Der Heiler schüttelte übertrieben den Kopf. »Du machst ja ein Gesicht, als hätte ich dir ’nen frischen Kuhfladen in die Hand gedrückt.« Er nahm den Jungen wieder an sich, wiegte ihn kurz und legte ihn zurück in sein Bett »Ich denke mal, ihr beiden geht jetzt besser wieder auf eure Posten.« Er seufzte. »Und entschuldigt den Wirbel, den ich veranstaltet habe.«
Yuri verneigte sich demütig vor Quetzalli. »Bitte vergebt mir, Herrin. Ich hätte niemals daran zweifeln dürfen, dass Ihr eine vorbildliche Mutter seid. Doch bitte, haltet Euch nicht dem Hof fern. Die Menschen brauchen es, Euch zu sehen. Wir alle waren in tiefer Sorge um Euch und Wanya.«
Makar und sein Kamerad zogen sich eilig zurück und schlossen die Tür hinter sich. Kaum, dass sie verschwunden waren, wich auch alle Demut aus Yuris Antlitz. »Du glaubst, du kannst mit mir spielen, Hexe?«
»Du glaubst, du kannst mir sagen, was ich zu tun habe, Heiler?«
Yuri zog die Brauen zusammen, bis sie ein einziger buschiger weißer Strich wurden. »Hast du nicht begriffen, was ich dir gerade gezeigt habe? Ich hätte deine Leibwächter dazu bringen können, deine Türe aufzubrechen. Sie waren voller Sorge um ihren Prinzen. Sie haben gemerkt, dass hier etwas nicht stimmt. Und ich habe den Sturm, den ich heraufbeschworen habe, dank ein paar geschickter Worte zu einem lauen Lüftchen abklingen lassen. Wecke nicht meinen Zorn, Weib! Ich erwarte, dich an diesem Abend mit Wanya im Langhaus zu sehen. Du wirst dich kleiden, wie es sich für eine drusnische Herrscherin geziemt. Und du wirst mich vor aller Augen mit deiner Freundlichkeit ehren. Du wirst mir einschenken und mir mein Fleisch auf das Holzbrett legen.«
»Was willst du? Sollen sie denken, dass ich dich ehre wie Volodi? Willst du seinen Platz?«
»Ich will den Ehrenplatz zurück, den dein Mann mir gestohlen hat. Du wirst ihn mir geben. Und weißt du was, du wirst ihn sogar vor deinem Mann verteidigen! Solltest du hoffen, dass all dies vorüber ist, wenn Volodi zurückkehrt, dann hast du dich getäuscht. Er liebt dich. Er wird alles für dich tun. Obwohl …« Er hob in gespielter Resignation die Hände. »Was man so hört, liegt er auch gerne im Bett einer heißblütigen Drusnierin. Vielleicht ist seine Liebe zu dir ja gar nicht so groß, wie du vermutest. Vielleicht sollte ich zu ihm gehen und ihm erzählen, dass du die Seele seines Sohnes deinen blutdürstigen Göttern geopfert hast. Wird er mir glauben oder dir? Dein Sohn isst und atmet, aber er hat so viel Verstand wie eine Pflanze. Hast du es ihm gesagt, bevor er gen Süden gezogen ist?«
Quetzalli hielt Yuris Blick mit unbewegter Miene stand. »Bist du sicher, dass du dich zwischen uns beide drängen kannst? Glaubst du wirklich, dein Wort wiegt schwerer als meines?«
»Ich bin geneigt, es herauszufinden«, entgegnete der Heiler mit entmutigender Ruhe.
»Was willst du? Wozu treibst du dieses böse Spiel?«
»Heute Abend in der Halle werden Bittsteller vor dich treten. Frag mich um Rat, wenn sie zu dir gesprochen haben.«
Quetzalli traute ihren Ohren nicht. »Du willst herrschen?«
»Vielleicht bin ich ja ein weiser Berater? Finde es heraus! Womöglich werden wir ja sogar eines Tages Freunde sein, wenn du meinen Wert zu schätzen weißt. Oder verweigere dich und sorge dafür, dass die Herrschaft deines Mannes in Schimpf und Schande vergehen wird. Dass alle von ihm als dem Trottel reden, der eine Hexe neben sich auf den Thron holte, die ihr eigenes Kind verzaubert hat. Oder geschah diese Untat vielleicht sogar mit seinem Wissen … Wenn Gerüchte erst einmal in Umlauf sind, sind sie nicht mehr zu beherrschen.«
»In meinem Volk hat man ein Wort für Kreaturen wie dich, Yuri. Man nennt sie Schlangenzunge.«
Der Heiler zuckte mit den Schultern. »Was juckt mich dein Volk? Ich lebe hier. Es interessiert mich auch nicht, was du mit Wanya angestellt hast. Ich weiß von den Dienerinnen, die du aus deiner Kammer verbannt hast, dass er vor ein paar Wochen noch ein ganz normales Kind gewesen ist. Was immer du ihm angetan hast, die Götter strafen dich dafür, indem sie dein Schicksal in meine Hand gegeben haben.«
Quetzalli hatte das Gefühl, dass ihr der Kopf platzen müsste. Sie war gefangen. Und es war ihre Feigheit, die ihr dieses Gefängnis errichtet hatte. Ihre Angst vor den Schwertern der Daimonen. Wäre sie nur oben in der Halle geblieben, dann wäre Wanya noch gesund. Oder hätte sie ihm die Hand nicht auf Mund und Nase gedrückt. Was immer Yuri ihr antat, sie verdiente es. Sie hatte Schuld auf sich geladen und die Gunst der Götter verloren. Und ihr Schicksal würde auch Volodis Glück zerstören. Sie war ihm eine schlechte Frau …
Dennoch, vor diesem Mann würde sie davon kein Wort sagen. Stattdessen zischte sie: »Was glaubst du, wie lange Wanyas Zustand dem Hofstaat verborgen bleibt? Was glaubst du, wie lange du dein böses Spiel mit mir treiben kannst? Zwei Wochen? Einen Mond? Ganz gleich, was ich tue, das Ende steht fest. Alles wird herauskommen. Warum sollte ich das Letzte aufgeben, was mir noch geblieben ist? Meinen Stolz und meine Selbstachtung.«
»Lass deinen dummen Stolz hinter dir. Lass uns vor aller Augen Freunde sein. Und wenn die Zeit gekommen ist, in der meine Stellung bei Hof meinen Wünschen entspricht, dann werde ich erklären, dass Wanya ein plötzliches Fieber bekam. Er wird über Nacht sterben. Ich werde hart um sein Leben gekämpft haben und genauso gebrochen sein wie du, wenn Volodi vor dem Hofstaat den Tod seines Erstgeborenen verkündet. Aber solche Tragödien geschehen. Es wird kein Schatten auf dem guten Ruf deines Mannes zurückbleiben, ja, nicht einmal auf die Zapotehexe wird ein Verdacht fallen.«
Quetzalli rang um Worte. »Du willst Wanya töten?«
»Mütter bringen so etwas gemeinhin schwer über ihr Herz.« Yuri warf einen Blick in die Wiege und lächelte. »Es wird ein leichter Tod sein. Er wird keine Qualen erleiden. Und du hast keine andere Wahl. Wenn herauskommt, was mit ihm ist, wird es Volodi schaden. Ein Volk erwartet von seinem Herrscher Weisheit. Doch wie weise ist ein Unsterblicher, dessen Samen ein Kind ohne Verstand gezeugt hat? Es wird Gerede geben. Auch über dich. Und wie ich schon sagte, wenn Gerüchte erst einmal geboren sind, verschwinden sie niemals wieder ganz. Ich überlasse dich nun ganz deinem kleinen Pflänzchen.« Er tätschelte Wanya über den Kopf, der dabei keine Regung zeigte. »Ich vertraue auf deine Weisheit.«