Die Herrscherin im Federmantel
Quetzalli betrat den Festsaal des Langhauses in ihrem Federumhang. Kaum, dass sie erschien, wurde es still. Die Drusnier liebten sie nicht, aber sie hatten Respekt vor ihr, dachte sie voller Genugtuung. Das war fast so gut wie der Anblick Yuris, der sichtlich darum kämpfte, nicht die Fassung zu verlieren. Die Priesterin hatte lange mit sich gerungen. Eigentlich hätte sie lieber das Kleid getragen, auf dem eine Opferszene mit einem goldhaarigen Mann dargestellt war. Erst im letzten Augenblick hatte sie entschieden, nicht unnötig Öl ins Feuer zu gießen, und ein Kleid angelegt, das mit langen roten Federn geschmückt war. Und natürlich war sie ohne Wanya gekommen. Ihr einziges Zugeständnis an Yuri war, dass sie hier war. In allem anderen hatte sie sich nicht gefügt.
Sie hob die Hände in einer priesterlich segnenden Geste. »Macht weiter, meine Freunde! Lasst euch nicht stören.« Vielleicht sollte sie sich doch öfter unter ihr Volk mischen. Die Überraschung in den Gesichtern war einfach köstlich.
Sie nahm Platz auf ihrem Hochsitz und winkte dem Haushofmeister Vladi. Der korpulente Säufer beeilte sich, zu ihr zu kommen. »Ich hätte gern ein Stück Fleisch. Schön blutig, dazu etwas von dem Brot, das ihr mit Zwiebeln würzt, und ein Horn voller Honigbier.«
Der Mund Vladis klappte auf und zu wie bei einem Fisch, der auf dem Trocknen lag. »Sofort, Herrin!«, stieß er schließlich hervor und machte sich auf den Weg, ihre Wünsche zu erfüllen.
Yuri erhob sich von seinem Platz. Selbst der Tisch für die bevorzugten Gäste, an dem sie ihm wieder einen Platz verschafft hatte, stand noch fast zwei Schritt von ihrem Hochsitz entfernt. »Darf ich vor Euch treten, Herrin?«
Sie winkte ihm mit zwei Fingern. So wie er aussah, war es möglich, dass ihn schon bald der Schlagfluss hinwegraffen würde. Vielleicht brach er ja zusammen, wenn sie ihn noch ein wenig mehr reizte.
»Wie kannst du es wagen, herausgeputzt wie ein Vögelchen hierherzukommen?«, zischte er sie an, ohne dabei sein falsches Lächeln aufzugeben.
Heucheln konnte sie auch, dachte Quetzalli und erwiderte das Lächeln. »Ich denke, als Herrscherin sollte ich die Freiheit haben zu tragen, was mir gefällt. Und mich als eine dicke Dorfkuh unter einem Bärenfell zu verkleiden ist nicht mein Stil.«
»Das wirst du …«
»Bereuen?« Ihr Lächeln wurde breiter. »Ganz sicher nicht. Du willst deinen Ehrenplatz dort unten an der Tafel behalten? Und du möchtest dich gerne als weiser Ratgeber aufspielen?« Sie richtete sich ein Stück weit auf und spähte zum anderen Ende des Festsaals. Blauer Rauch behinderte die Sicht, und die Halle war nur unzureichend beleuchtet, aber sie konnte Schattenrisse vor dem Haupttor erkennen. Bittsteller! Yuri war sich also ganz sicher gewesen, dass sie kommen würde, und hatte ein paar Auserwählte in die Halle eingeladen. Sie würde ihren Federmantel darauf verwetten, dass Männer dabei waren, denen er noch einen Gefallen schuldete.
»Du glaubst, du kannst mit mir spielen. Du …«
»Du bist nicht die Sorte Mann, die mein Wohlgefallen erregt. Mit einem wie dir würde ich niemals spielen. Und bevor du noch mehr von deinem nach Fisch stinkenden Atem vergeudest: Ich sehe nur zwei Wege für dich. Entweder nennst du mich in aller Öffentlichkeit eine Hexe und deckst auf, was mit Wanya ist. Dann werde ich vermutlich ein ziemlich unrühmliches Ende nehmen – ich weiß, dass ihr Drusnier leicht zu unbedachten Grausamkeiten zu verleiten seid. Aber was wird dann aus deinen hochtrabenden Träumen? Glaubst du, Volodi will den Mann in seiner Nähe haben, der für den Tod seiner Frau verantwortlich ist? Wenn ich nicht mehr bin, wirst auch du ein Nichts sein. Dein zweiter Weg ist, dich zu fügen. Ich gebe dir ein wenig von dem, was du dir wünschst, und du unterstützt mich nach Kräften.« Sie sah ihn herausfordernd an. Das Lächeln war von ihren Lippen verschwunden. »Du glaubst, ein weiser Mann zu sein, Yuri. Wie entscheidest du dich?«
»Es wird dir noch leidtun«, stieß er voller Zorn hervor.
»Glaubst du? Bist du dir darüber im Klaren, wen du herausgefordert hast? Ich bin Quetzalli, Tochter einer der edelsten Familien meines Volkes. Ich bin Priesterin der Gefiederten Schlange. Mir war es bestimmt, einst die Hohepriesterin meines Volkes zu sein. Ich habe mehr Männern, als ich mich zu erinnern vermag, den Brustkorb geöffnet, um meine Hand um ihr noch schlagendes Herz zu legen. Vermagst du zu ermessen, was es heißt, meinen Zorn auf dich zu lenken.«
Yuri schien um eine Spur blasser zu werden. »Ich wähle den zweiten Weg, für heute Nacht«, sagte er leise.
»Eine Entscheidung von bestechender Weisheit.« Quetzalli wusste, dass Yuri nicht einfach so aufgeben würde. Aber zumindest für diese Nacht hatte sie gewonnen. Und sie war fest entschlossen, sich nie wieder zur Sklavin seiner Launen machen zu lassen.
Die Halskette
»Sie ist eine Diebin!«
Ilmari schob den Toten in das Becken voller Schlamm und sah zur weiten Wendeltreppe, die nach oben führte.
»Holt den Hüter des Lichtes! Er wird wissen, was zu tun ist.«
Mit fliegenden Schritten eilte der Totenträger die Treppe hinauf. In der großen Eingangshalle lag die Totenwäscherin am Boden. Blut troff von ihrer aufgeplatzten Lippe, ihre linke Wange war rot und begann anzuschwellen. Es war einer der wenigen Tage, an denen Gäste in das Totenhaus gekommen waren, um Abschied zu nehmen. Sie standen um den schön geschnitzten Tisch versammelt, auf dem die Leiche einer alten Frau lag. Die Tote war bereits in ein Leinentuch eingeschlagen. Nur ihr Gesicht war noch zu sehen.
»Sie hat meine Mutter bestohlen!« Vor Ilmari baute sich ein großer, bulliger Kerl auf. Helle Narben zogen sich über seine Arme. Sein Gesicht war flach, die breite Nase krumm und offensichtlich mehrfach gebrochen. Seine sonnenverbrannte Haut verriet, dass er ein Wolkenschiffer war. Vermutlich einer von Tarkons Auserwählten.
»Dort, wo ich herkomme, schlägt man keine Frauen«, sagte Ilmari ruhig. »Ich möchte euch bitten, euren Zorn zu zügeln. Wir stehen neben einer Toten.« Er blickte zu den übrigen Gästen, zwei etwas pummeligen Frauen und einem jungen Mann, der ebenso sonnengebräunt war wie der Wortführer. Nur dass es ihm an den Muskeln des Schlägers fehlte.
»Da, wo ich herkomme, tut man mit Diebinnen noch ganz andere Dinge, als ihnen nur eine gehörige Backpfeife zu versetzen. Und jetzt machst du mir Platz, Totenträger. Ich werde aus der Kleinen schon herausprügeln, wo die Kette meiner Mutter steckt.«
Ilmari vertrat ihm den Weg. »Ich glaube nicht, dass sie zu dir sprechen wird.«
»Reize mich nicht, Totenträger. Mit dir habe ich keinen Streit.«
»Sie hat keine Zunge mehr.«
»Sie hat Beine, das genügt! Sie wird mich zum Versteck ihres Diebesguts bringen!«
»Rufus, bitte …«, flehte die ältere der beiden Frauen. »Vielleicht ist die Kette ja verloren gegangen.«
Er fuhr herum, und so, wie die Frau zusammenzuckte, war Ilmari sich sicher, dass auch sie schon Erfahrungen mit den Fäusten dieses tobenden Fleischklopses gemacht hatte.
»Verloren? So eine Kette geht nicht verloren. Die wird geklaut. Ich begreife immer noch nicht, warum ihr sie Mutter nicht abgenommen habt. Was habt ihr nur im Hirn, ihr dämlichen Gänse? Die Kette ist ein Vermögen wert. Das gibt man nicht einfach auf.«
»Es war ihr letzter Wunsch, die Kette auf ihrer letzten Reise zu tragen«, entgegnete die Frau kleinlaut. Sie hielt sich dabei geduckt, als würde sie jeden Augenblick mit Schlägen rechnen.
Ilmari erinnerte sich an die Kette. Sie war aus schweren Goldstreifen gefertigt gewesen, die sich wie ein Fächer über der Brust der Toten ausgebreitet hatten. Die Hälfte der Streifen war mit dunkelblauem Emaille geschmückt gewesen. Der Schläger hatte recht. Dieses Schmuckstück war ein Vermögen wert.