Alles, was Ilmari dem entgegensetzen konnte, waren seine Erfahrungen als Meuchler. Es würde kein leichter Kampf werden. Außerdem musste er auch darauf achten, keine zu gute Figur zu machen. Erweckte er den Eindruck, ebenfalls ein erfahrener Kämpfer zu sein, dann warf das Fragen auf, auf die er keine guten Antworten hätte.
Die Wäscherin kam zu ihm, kauerte sich vor ihm nieder und sah ihm eindringlich in die Augen. Dann schüttelte sie sacht den Kopf. In den drei Tagen, die es gedauert hatte, bis die Wolken über den Tafelbergen aufgebrochen waren und eine Säule aus strahlendem Licht auf den Marktplatz von Tiefwasser fiel, hatte sie immer wieder versucht, ihn von diesem Zweikampf abzubringen. Seit seiner Kindheit hatte Ilmari nicht mehr erlebt, dass sich jemand um ihn sorgte.
»Mach dir keine Sorgen. Die Götter beschützen die Gerechten.« Er glaubte das zwar nicht wirklich, aber er hoffte, ihr so ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Wenn er doch wenigstens ihren Namen wüsste! Sie konnte nicht schreiben, konnte sich nur durch Gesten mitteilen. Zu wenig, um einen Namen zu verraten. »Alles wird gut«, sagte er sanft und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
In ihrem Blick lag nun blanke Panik. Sie schüttelte wieder energisch den Kopf. Seltsam, dass sie kein Vertrauen in die Götter hatte. Dabei trug sie ein billiges Amulett mit einer schlecht gefertigten Flügelsonne aus Bronze. Abergläubisch war sie ganz offensichtlich.
»Seid ihr bereit, uns den Willen der Götter zu offenbaren?«, erklang die volltönende Stimme Solomons über den Marktplatz.
Alle Bewohner der kleinen Stadt hatten sich um den Markt versammelt, um dem Spektakel beizuwohnen. Ilmari erhob sich, streckte sich und dehnte seine Sehnen. Durch Kraft würde er nicht gewinnen. Ohne seine Tunika sah Rufus noch mehr aus wie ein Bulle. Seine Brust war mit dichtem schwarzen Haar bedeckt. Darunter wölbten sich mächtige Muskeln. Seine Fäuste wirkten, als könnte er damit Marmorplatten zerschmettern.
Rufus hatte ihm in den letzten Tagen mehrfach angeboten, einfach aufzugeben. Vielleicht hätte er annehmen sollen?
»Die Regeln des Kampfes sind sehr einfach«, erklärte Solomon und bedachte Ilmari mit einem gehässigen Seitenblick. »Es gibt keine Regeln. Wer zu Boden geht und in der Zeit, die ich benötige, um bis drei zu zählen, nicht wieder aufstehen kann, ist der Verlierer. Sollte Rufus unterliegen, war die Wäscherin des Totenhauses keine Diebin. Ist es hingegen der Totenträger Ilmari, der niedergestreckt wird, dann gilt die Schuld der Wäscherin als erwiesen, und es ist Rufus erlaubt, mit ihr zu verfahren, wie es ihm beliebt.«
Solomon machte eine Pause und ließ seinen Blick über das Publikum wandern. »Die Augen der Götter ruhen auf uns!« Er hob theatralisch die Arme, legte den Kopf weit in den Nacken und sah hinauf zu der Öffnung in der Höhlendecke, über der ein türkisblauer Himmel leuchtete. »Mögen sie die Wahrheit ans Licht bringen!« Er gab einem seiner Priester ein Zeichen, und ein Gongschlag ertönte.
Rufus kam, ohne zu zögern, auf Ilmari zu. Er hatte beide Fäuste erhoben. Etwas zu lässig. Er rechnete nicht damit, dass sein Gegner ihm gewachsen sein könnte.
Ilmari hob ebenfalls die mit Lederriemen umwickelten Fäuste. Er tat so, als ahmte er den hünenhaften Wolkenschiffer nach. Leicht tänzelnd wich er zur Seite aus. Rufus bewegte sich mit ihm. Der Wolkenschiffer lächelte überlegen. Für ihn musste es so aussehen, als liefe er fort.
Plötzlich machte Rufus ein paar rasche Schritte nach vorn. Seine Fäuste schnellten vor.
Ilmari ließ es so aussehen, als strauchle er bei dem Versuch auszuweichen. Die Fausthiebe verfehlten ihn knapp.
Das Publikum begleitete den Angriff mit begeisterten Rufen. Die meisten standen auf der Seite des Wolkenschiffers.
Rufus trat zurück und gab Ilmari Gelegenheit, wieder auf die Beine zu kommen. Dafür erntete der Hüne noch mehr Beifall.
Nun hob er die Arme und spannte die Bauchmuskeln. »Komm, Totenträger. Du hast einen Hieb frei. Der Kampf ist zu ungleich. Es liegt keine Ehre in ihm.«
Zögerlich kam Ilmari näher. War es eine Falle? Aber das hatte Rufus nicht nötig. Also gut! Er versetzte ihm einen schnellen Hieb auf die kurze Rippe, in den er all seine Kraft legte.
Rufus keuchte überrascht auf und knickte sogar kurz ein. Doch sofort hatte der Wolkenschiffer sich wieder in der Gewalt. Im Reflex nahm er die Arme herab und deckte nun mit den Ellenbogen seine Rippen, doch Ilmari setzte nach und landete einen zweiten Treffer mitten im Sonnengeflecht.
Rufus grunzte wütend. Seine Fäuste schnellten vor. Es waren Hiebe, die Ochsen niedergestreckt hätten, doch Ilmari tänzelte zurück. Mit Genugtuung hörte der Totenträger, wie ein Raunen durch die Menge ging. Er hatte sie überrascht. Und dennoch war es schlecht! Er durfte sich nicht offenbaren.
Wieder wich er einem Hieb aus und duckte sich dieses Mal bewusst ein klein wenig zu langsam. Rufus’ Faust streifte ihn an der Schulter. Selbst das genügte, um ihn herumzureißen. Für einen Moment verlor er die Kontrolle, und der Wolkenschiffer setzte gnadenlos nach. Ein zweiter Hieb traf Ilmari in den Rücken, schleuderte ihn nach vorne und presste ihm die Luft aus der Lunge. Er spürte, wie die Haut unter den Bronzebeschlägen der Faustriemen aufplatzte und warmes Blut zu seiner Hüfte hinabrann.
Eilig floh er vor weiteren Treffern. Rufus hastete ihm hinterher. Die Zuschauer grölten. Sie standen auf den Steinblöcken, die den Marktplatz einfassten. Und sie feuerten nun beide an. Sie wollten noch mehr Blut fließen sehen.
Ilmari drehte sich um. Er wusste, dass er nicht endlos fortlaufen konnte. Solomon würde ihn dann einfach zum Verlierer erklären. Er duckte sich unter dem nächsten Hieb, schlug einen schnellen Konter, doch Rufus achtete nun auf seine Deckung, und so traf Ilmari nur den Unterarm, der jetzt die Rippen abschirmte.
Der Wolkenschiffer schlug aus der Deckung heraus eine schnelle Folge.
Ilmari wiegte den Oberkörper hin und her. Er schwankte wie eine Ähre im Wind.
Rufus überraschte ihn mit einem Tritt, der auf sein Knie zielte. Diesmal gelang es Ilmari nicht, schnell genug zu reagieren. Er spürte die Knochen im Gelenk krachen, knickte in sich zusammen und bekam gleich noch einen Schlag gegen die rechte Wange, der ihm fast den Kiefer brach. Er landete im Staub, und sofort war Solomon neben ihm.
»Eins«, rief der Priester mit ungebührlicher Begeisterung.
»Zwei!« Er machte keine Pause zwischen den Zahlen. Er wollte Ilmari verlieren sehen.
Der Totenträger kämpfte sich hoch.
»Lass das«, zischte ihm Rufus zu. »Es ist besser für dich, wenn du liegen bleibst. Ich will dich nicht zum Krüppel machen.«
»Sie hat die Kette nicht gestohlen«, entgegnete Ilmari. »Es gibt nur einen Weg, es zu beweisen …« Er stand nun wieder. Sein Mund war voller Blut, das er in den Staub spuckte.
»Du hast gerade den besten Rat ausgeschlagen, den du in deinem Leben bekommen hast«, sagte Solomon spöttisch lächelnd. »Aber um Tote zu tragen, braucht man ja nicht sonderlich viel Verstand. Lass Rufus nur weiter auf deinen Schädel einprügeln.«
Ilmari drückte den Rücken durch und hob die Fäuste, bereit zur Abwehr.
Solomon gab ein Zeichen, und erneut ertönte der Gong.
Ohne zu zögern, stürmte Rufus vor. Ilmari war immer noch leicht benommen. Es fiel ihm schwerer, den Schlägen auszuweichen. Seine Bewegungen waren fahriger. Kaum einmal schaffte er es, einen Schlag zu landen. Und wenn es doch einmal glückte, hämmerten seine Fäuste stets nur gegen die mit Leder umwickelten Unterarme des Wolkenschiffers. Er musste einen anderen Weg zum Sieg finden. Er wich zurück. Ließ sich treiben.
Rufus’ Gesicht war eine schweißüberströmte Maske kontrollierten Zorns. Sein Atem ging immer noch ruhig. Die Arbeit auf den Wolkenschiffen hatte aus ihm einen Mann aus Eisen gemacht. Ilmari ging in die Knie, wirbelte zur Seite und versetzte dem Hünen einen Schlag auf die Sehnen der Kniekehle. Abgesehen von einem wütenden Grunzen zeigte der Treffer keine Folgen.