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Ilmari hatte sich ein Quartier in den oberen Räumen des Totenhauses gesucht. Er schlief in einem der Archivräume neben einem Regal voller Tontafeln. Nun folgte er der Wäscherin hinaus in die große Eingangshalle. Er trat auf das Mosaik, das den gewaltigen, schäumenden Strudel zeigte, dessen Mittelpunkt die Öffnung der Treppe nach unten war.

Ilmari fühlte sich ein wenig benommen. Als er die Stufen der Wendeltreppe hinabstieg, ließ er eine Hand über den kühlen Stein des zentralen Stützpfeilers gleiten. Noch halb in seinem Traum gefangen, hatte er das Gefühl, im Strudel zu versinken, als er tiefer stieg.

Die Wäscherin brachte ihn in die Kammer, in der sie arbeitete und schlief. Sie kniete neben einer großen Wasserschüssel auf dem Boden nieder. Das Licht einer einzelnen Öllampe spiegelte sich im Nass. Bedächtig schob sie die Schüssel zur Seite, dann holte sie einen Bronzedolch, den sie in ihrem Lager verborgen gehalten hatte. Als sie zu der Schüssel zurückkehrte, wirkte sie zögerlich. Schon kniend sah sie zu Ilmari auf, und es kam ihm vor, als flehten ihre Augen um Verzeihung. Dann schob sie den schmalen Dolch in eine Spalte zwischen den Bodenplatten. Vorsichtig hebelte sie eine Platte hoch. Darunter war ein Loch, in dem es golden funkelte. Sie nahm die Öllampe und hielt sie so, dass Ilmari ganz deutlich sehen konnte, was sich in dem geheimen Versteck verbarg.

Dort lagen allerlei Armreife, Ringe und Broschen und zuoberst die prächtige Halskette, die verschwunden war.

Ilmari musste lächeln. Sie war also doch eine Diebin. Jetzt begriff er, warum sie so verzweifelt versucht hatte, ihn von dem Zweikampf abzuhalten. Sie hatte Todesangst um ihn gelitten. Würden die Götter sich wirklich für die kleinlichen Streitereien der Menschen interessieren, dann hätte er sterben müssen.

Eigentlich hätte er wütend sein sollen. Doch wie sie so vor ihm kauerte, geduckt und den Blick gesenkt, als erwartete sie, dass er sie für ihre Lügen schlagen würde, konnte er nicht anders, als sich vorzubeugen und sanft über ihr struppiges Haar zu streichen. Er würde ihr niemals etwas antun!

Als sie zu ihm aufsah, hob er einen Finger an die Lippen, um ihr zu bedeuten, dass er schweigen würde.

Ihre Augen weiteten sich. Die Wäscherin blickte so unendlich erleichtert und dankbar zu ihm auf, wie Ilmari in seinem ganzen Leben noch nicht angesehen worden war.

Dieser Blick … Nie zuvor hatte ihn ein Mensch so angesehen. So voller Wärme und Erleichterung. So glücklich. In diesem Moment begriff er, wie arm sein Leben trotz all der Reichtümer war, die er durch seine Bluttaten erworben hatte.

Er kniete nieder, nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Ich werde bleiben und dich beschützen und all deine Geheimnisse mit dir teilen«, sagte er sanft.

Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Dann spürte er ihre Tränen auf seiner Haut. Eine Diebin und ein Mörder, dachte er. Sie passten zusammen. Vielleicht würden sie einander Frieden schenken können.

Ein verlorener Kampf

Wind vor regenschwerem Horizont glitt mit ruhigem Flügelschlag dem Sonnenuntergang entgegen. Hinter ihnen breitete die Nacht ihren dunklen Umhang über die Welt. Schon blitzte das erste Sternenlicht im samtenen Blau.

Artax war unruhig. Sie hatten gesiegt. Der Sohn der Göttin würde in einigen Stunden wieder aus seiner Lähmung erwachen. Die Daimonen hatten nur eine Felsklippe voller Ruinen erobert. Aber er, er hatte den höchsten Preis errungen. Das Traumeis! Er hatte es allen anderen entrissen. Es zu besitzen war das Einzige, das zählte.

Unruhig sah er zu den Wachen bei den Amphoren. Krieger aus Drusna und auch etliche seiner eigenen Männer standen dort. Er misstraute Volodi nicht, aber mehr Wachen waren besser. Er wünschte, sie wären schon in der Goldenen Stadt. Wünschte, die Götter würden ihm diesen Schatz und diese Bürde nehmen.

Wieder sah er auf zum Horizont. Der Tag verglühte wie ein ersterbendes Feuer. Die Nacht hatte fast schon gesiegt.

Jemand begann zu singen. Es war eine klare, helle Stimme. Artax verstand die Worte nicht, und doch berührte der Gesang ihn zutiefst. Es klang traurig. Wie ein Abschied.

Es ist ein Totenlied, sagte eine der Stimmen in seinem Kopf. Es war nicht der Aaron, der sich sonst zu Wort meldete und ihn so oft mit seinen gehässigen Kommentaren gequält hatte. Es sind die Heilkundigen Valesias, die dieses Lied erlernen. Wenn sie wissen, dass sie ihren Kampf verloren haben und der Tod nahe ist, dann singen sie es. Es soll den Sterbenden den Übergang ins große Dunkel erleichtern.

»Du bist anders …«

Wir waren nicht alle so wie dein Vorgänger. Er ist nur der mit der mächtigsten Stimme, weil er als Letzter hierherkam. Es gab auch weisere Herrscher als ihn.

»Aber warum sprecht ihr nicht zu mir?«

Vielleicht tun wir das, und du hörst unsere Stimmen nicht.

Das war Artax zu hoch.

Wenn du einen ganz neuen Einfall hast, einen Gedanken, der dir noch nie zuvor gekommen ist und der sich nicht aus der Summe der Erfahrungen deines Lebens erklären lässt, hast du dich dann noch nie gefragt, woher das kommt?

Artax gefiel das nicht. War dies eine neue, perfide Art, ihn zu quälen? »Du meinst, nicht all meine Gedanken sind wirklich von mir?«

Du hörst Stimmen in deinem Kopf. Wie kannst du da so eine naive Frage stellen?

»Ist sich unheimlich, dieses Lied.« Wie ein Geist war Volodi aus den Schatten des Flugdecks erschienen. Selten war Artax so froh gewesen, den Drusnier seine Sprache verdrehen zu hören. Er hatte sich in den letzten Wochen manchmal in Volodis Muttersprache mit ihm unterhalten. Sie war in ihm gewesen. Plötzlich …

Nein, nicht plötzlich. Immer schon, seit du zum Unsterblichen Aaron geworden bist.

Artax verbannte die Stimme. Er wollte keine Toten mehr hören. Nicht, solange dieses Lied erklang, das ihn so tief berührte.

»Sollte ich mich befehlen, still zu sein mit diesem Lied.«

Artax brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was sein Freund sagen wollte. »Nein. Sie nehmen Abschied von einem Sterbenden. Wir sollten uns da nicht einmischen.«

»Versteh ich mich nicht. Warum muss sich Sterbender als Letztes ein Geflenne solches anhören? Wenn sterbe ich, Quetzalli soll sein an meiner Seite. Soll sie mir flüstern in Ohr. Will ich mich hören Geschichten von besten Liebesnächten unseren. Ist sich sehr besonders mit ihr. Kann sie tun Dinge …« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich mich vermisse sie. Weißt du …«

Artax hob abwehrend die Hände. Er war sich ganz sicher, dass er nicht wissen wollte, was Volodi und Quetzalli in ihren besten Liebesnächten getan hatten.

Damit Volodi nicht auf die Idee kam, doch noch länger in Erinnerungen zu schwelgen, ging Artax in Richtung des kleinen Lagers für Verwundete, das Arcumennas Leute zwischen den fliegenden Bären aufgeschlagen hatten. Vielleicht war es auch einfach die Stimme, die ihn anzog. Dieses traurige Lied entsprach seinen Gefühlen. Er könnte ihm die ganze Nacht lauschen.

»Stören wir dich?« Arcumenna vertrat ihm den Weg. Etwas Herausforderndes lag in der Stimme des Feldherrn. Er hatte ihm wohl noch nicht verziehen, dass er den sinnlosen Kampf um die Ruinenstadt nicht hatte fortführen wollen.

»Ich mag das Lied«, sagte der Unsterbliche ruhig. Ihm war nicht nach kleinlichem Streit.

Volodi schob sich an seine Seite und bedachte Arcumenna mit einem finsteren Blick. Er wartete nur darauf, dass der Feldherr etwas Falsches sagte. Zu lange war Arcumenna der meistgehasste Mann in Drusna gewesen.

»Ihr seid gerne eingeladen, unseren Sterberiten beizuwohnen«, sagte Arcumenna frostig.

Artax atmete tief durch und blickte zu Volodi, doch der Drusnier hatte die Worte offensichtlich nicht als ironische Spitze empfunden.

Es waren nur wenige Verwundete auf das Schiff gebracht worden. Einige Krieger, die im Kampf gegen die Daimonen verletzt worden waren. Es war das letzte Lager, an dem der melancholische Sänger saß. Ein junger Mann mit schulterlangem, schwarzem Haar. Dieses Lager war abseits der anderen. Zwischen zwei geflügelten Bären, deren metallenes Fell Narben von den Hornsplittern aufwies, die der Meerwanderer verschossen hatte.