Nahe beim Sänger stand eine einzelne Öllampe. Artax sah die Tränen in den Augen des jungen Valesiers. Ein hagerer Mann tupfte mit einem Tuch über das Gesicht des Sterbenden. Es lag im Schatten, war kaum zu erkennen. Noch ein dritter Mann kauerte in stummer Trauer dort. Er hielt eine Hand des Verwundeten.
»Wer ist sich das?«
»Eine Heilerin …«
Lag da Bitternis in der Stimme des hartherzigen Feldherrn?
»Ist sich sehr beliebt?«
»Sie war einzigartig«, sagte Arcumenna mit rauer Stimme. »Es sind die Guten, die es immer zuerst erwischt. Sie ist zurückgegangen, um einen ihrer Kranken zu retten, als das Ungeheuer angegriffen hat. Sie hätte einfach fortlaufen können. Stattdessen hat sie sich der Gefahr gestellt wie eine Kriegerin … Sie wurde durchbohrt. Ihre Eingeweide sind zerfetzt. Eigentlich hätte sie schon tot sein sollen. Aber sie hört nicht auf zu kämpfen. Fast könnte man meinen, sie warte auf etwas. Als wollte sie noch Abschied nehmen …«
Artax musste unwillkürlich an die geheimnisvolle Heilerin denken, die ihn während des Feldzugs im ewigen Eis gerettet hatte. Er hatte sie nie gesehen, hatte in tiefer Bewusstlosigkeit gelegen, als sie um sein Leben kämpfte. Und er hatte sie trotz aller Mühen nicht finden können. Nur die Geschichten über sie. Ihren Mut, ihre Opferbereitschaft … So viele waren ihr begegnet.
»Wie heißt sie?«, fragte er leise, besorgt, das Sterbelied mit seinen Worten zu stören.
»Shaya«, raunte der Feldherr.
Für einen Moment lang stand Artax wie versteinert. Das konnte nicht sein! Das … Er beugte sich vor, hob die Öllampe auf und leuchtete ihr ins Gesicht. Sie war es! Die Lampe entglitt seinen Händen und schlug auf die Decken. Hastig hob sie der Alte, der Shayas Hand hielt, auf und bedachte ihn mit einem bösen Blick.
Artax schob ihn zur Seite, kniete sich nieder.
Das durfte nicht wahr sein! So grausam war das Schicksal nicht! So kurz er ihr Gesicht nur im Licht der kleinen Flamme gesehen hatte, es konnte keinen Zweifel geben. Es war seine Shaya! Und sie lag im Sterben. Ihr Gesicht war schmal und von Schmerzen gezeichnet.
Er nahm ihre Hand. Sie fühlte sich kalt an, als wäre das Leben schon von ihr gewichen.
»Shaya«, hauchte er in ihr Ohr. »Ich habe dich gefunden. Endlich. Ich …« Ihm versagte die Stimme. Heiße Tränen rannen über seine Wangen. Wie hatte er zu spät kommen können!
Sie schlug die Augen auf. Ein Lächeln lag in ihrem Blick. »Aaron …«, hauchte sie kraftlos.
»Sie kennt ihn«, hörte er Arcumenna hinter sich flüstern.
Volodi antwortete etwas, doch Artax hörte nicht hin. »Ich werde dich nie wieder gehen lassen, hörst du. Du wirst wieder gesund …«
Ein Zittern lief durch ihren Körper. Ihr Blick veränderte sich. Er hatte das Gefühl, als würde sie ihn um Verzeihung bitten. Arcumennas Worte drängten in seine Erinnerung und löschten jeden anderen Gedanken. Fast könnte man meinen, sie warte auf etwas. Als wollte sie noch Abschied nehmen …
»Du wirst nicht gehen!«, schrie er auf. Er wandte sich zu Volodi. »Das Traumeis! Hol einen Splitter davon. Wir werden sie damit heilen.«
Sein Freund folgte, ohne zu zögern, dem Befehl.
»Löse ihren Verband!«, herrschte er den hageren Mann an, der Shayas Stirn abgetupft hatte.
Der Heiler schüttelte den Kopf. »Das ist eine unnötige Qual. Sie ist nicht mehr zu retten. Ich werde das nicht tun.«
»Du wirst meinem Befehl gehorchen!« Artax vermochte seinen Zorn kaum zu bändigen. Fast hätte er den Mann geohrfeigt.
»Das ist der Unsterbliche Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe. Folge seinen Wünschen, Hattu«, sagte Arcumenna hinter ihnen.
»Ein unsterblicher Narr ist er«, murmelte Hattu, schlug aber die Decke zurück.
Artax zerriss es das Herz, als er den blutdurchtränkten Verband sah.
Der Heiler zog ein kleines Messer und durchtrennte die Leinenstreifen. Mit spitzen Fingern zog er sie zurück. Sie waren mit der Wunde verklebt. Als er sie schließlich gänzlich entfernt hatte, rann wieder Blut aus dem zerfetzten Bauch.
Hattu bedachte Artax mit einem vorwurfsvollen Blick.
Der Unsterbliche fühlte sich, als wäre ihm selbst eine Klinge in die Eingeweide gerammt worden. Es war nicht das erste Mal, dass er eine solche Verletzung sah. Seine Finger schlossen sich fest um Shayas Hand.
Der Blick der Prinzessin war leer. Ihre Augen waren noch offen, doch sie war nicht mehr hier.
Eilige Schritte erklangen auf dem Holzdeck. Volodi brachte ihm einen Kristallsplitter, etwa so groß wie sein kleiner Finger. Behutsam legte ihn Artax in die offene Wunde und drückte ihn in das geschundene Fleisch.
Shaya zuckte zusammen. Für einen Herzschlag wurde ihr Blick wieder klar. Er war voller Schmerz.
»Es wird gleich wieder gut«, stammelte Artax. »Er wird dich heilen, der Kristall. Er hat magische Kräfte. Du wirst sehen … Du brauchst nur ein wenig Zeit. Vertraue mir. Ein wenig Zeit …«
Hattu schnalzte abfällig mit der Zunge. »Heilende Kristalle«, murmelte er. »Bauernaberglaube!« Dann wandte er sich zu dem jungen Heiler, der verstummt war. »Sing weiter, Enak. Er tut alles, um sie noch schneller durch das letzte Tor zu geleiten.«
Artax blickte auf die schreckliche Wunde. Er hatte erwartet, dass etwas zu sehen sein würde. Ein Leuchten wie das Licht der Grünen Geister. Oder dass die Wunde sich vor seinen Augen wie von Zauberhand berührt verschloss. Doch gar nichts geschah … Er musste sich gedulden, ermahnte er sich. Die Macht des Kristalls brauchte wohl ein wenig. Sie hatte Kolja einen neuen Arm wachsen lassen!
»Bitte, Shaya, halte durch. Der Kristall wird dich retten …« Ihr Blick war wieder leer geworden. Plötzlich hatte Artax das Gefühl, als würde das traurige Lied des Jungen Shaya mit sich ziehen.
»Still!«, fuhr er den Sänger an.
»Ihr Atem geht immer flacher«, sagte Hattu und klang dabei seltsam friedlich, so, als hätte er das schon unzählige Male erlebt. »Ihr solltet jetzt von ihr Abschied nehmen, Unsterblicher. Es ist fast vorüber.«
Das konnte er nicht! Artax tastete nach der Wunde. Nichts geschah! Das Traumeis half nicht. In verzweifelter Wut ballte er die Fäuste. Dann schrie er den Namen des Löwenhäuptigen heraus. Sollte er kommen! Er war ein Gott. So lange schon diente Artax ihm und hatte nie um etwas gebeten. Sollte der Devanthar erscheinen und Shayas Leben retten.
Als nichts geschah, ließ Artax die Hand der Prinzessin los. Er konnte nicht einfach hilflos neben ihr sitzen und zusehen, wie ihr Leben verrann. Wenn sie gehen musste, dann würde sie das nicht allein tun. Er könnte es nicht ertragen, sie noch einmal zu verlieren.
Er stand auf und ging.
Volodi griff nach seinem Arm und wollte ihn zurückhalten, doch er streifte die Hand des Freundes ab. »Ich will allein sein«, sagte er barsch. »Sorge dafür, dass mir niemand folgt!«
Entschlossen ging Artax auf das Ende des Flugdecks zu. Er konnte es nicht ertragen, sie gehen zu sehen und hilflos zu sein. Aber wenn sie sterben sollte, dann wäre er an dem Ort, zu dem sie hingehen würde. Er würde sie erwarten. Er wollte nie wieder ohne sie sein.
Ein Leben für ein Leben
Er stand am Rand des Flugdecks. »Komm! Tu es sofort, oder alles wird enden, wie es begonnen hat, mit einem Sturz aus dem Himmel!«
Artax blickte wild um sich, doch der Löwenhäuptige war nicht da. Nur einige Wachen und Wolkenschiffer blickten verstohlen zu ihm herüber. Volodi hob den Arm und hielt sie zurück. Niemand bewegte sich oder wagte es auch nur, ihn anzusprechen. Er war ein Unsterblicher. Was er tat und warum, war normalen Menschen ein Rätsel.
»Wenn sie stirbt, dann endet auch mein Leben.«
Gleißendes Licht flutete das Deck. Erschreckte Rufe erklangen. Ein Schatten wurde aus dem Licht geboren. Eine mächtige Gestalt mit einem Löwenkopf trat Artax entgegen.