Er hatte sie zurück, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Sie war ein Geschenk der Götter, und er würde sie nie wieder ziehen lassen!
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Volodi das Zeichen des Horns schlug. Das Zeichen, um Böses von sich fernzuhalten.
Er war ein Barbar, dachte Artax. Der Drusnier hatte nicht begriffen, was geschehen war. Sie alle konnten es nicht verstehen. Der Löwenhäuptige war aus der Zeit herausgetreten. Nur er, Artax, war Zeuge des grausamen Wunders gewesen.
Er hielt Shaya fest umklammert und zog sich dorthin zurück, wo das Traumeis war. Dorthin, wo seine Wachen standen und die silbernen Löwen nah waren. Er wusste, es würde geredet werden. Aber diesmal würde er es ignorieren. Es würde nicht sein wie beim letzten Mal. Er würde Shaya nie wieder dem Gerede jener opfern, deren Geist zu beschränkt war, um die Wahrheit zu sehen.
Ein Schatten zwischen Schatten
Sie hatte ihn gespürt. So deutlich, wie sie Kleider auf ihrer Haut spürte. Jetzt war er wieder fort. Hatte auch er ihre Gegenwart bemerkt? Auf dem Flugdeck unter ihr war es unheimlich still. Der Sänger, dem sie seit Einbruch der Dämmerung gelauscht hatte, war verstummt.
Nandalee hielt den Kopf gesenkt. Sie war nur ein Schatten zwischen Schatten. Er durfte sie nicht finden. Sie würde hier sitzen bleiben und sich vom Schiff schleichen. Jetzt zu versuchen, an das Traumeis zu gelangen, war zu gefährlich.
Sie hatte die Wolkenschiffer belauscht. Sie glaubten, in spätestens vier Tagen in der Goldenen Stadt zu sein. Dann würde sie zuschlagen. Zwei oder drei Kristalle. Mehr würde sie nicht nehmen. Einen für Meliander, einen für Eleborn und einen für die Unwägbarkeiten, die die Zukunft verbarg. Sie war nicht gierig.
Sie legte die Hände auf ihre Knie. Sie wollten einfach nicht aufhören zu zittern. Mit jeder Faser ihres Körpers hatte sie die Macht des Devanthar gespürt. Er hatte den Lauf der Welt angehalten und sich gegen den Tod aufgelehnt. Warum hatte er das getan? Der Dunkle hatte sie eindringlich vor dieser Spielart des Zauberwebens gewarnt. Vor der Dunkelheit, die solche Zauber anzogen. Sie wusste nur zu gut um den Schatten, der auf der Seele Bidayns lag. Diesen Schatten hatte ihre Freundin aus Nangog mitgebracht. Er war an jenem Tag auf sie gefallen, als auch sie den Lauf der Zeit verändert hatte.
Solche Taten zogen Tragödien nach sich. Keiner, der damals zugegen gewesen war, war glücklich geworden.
»Gonvalon«, flüsterte sie leise. Die Leere, die er in ihr hinterlassen hatte, hatte sie nie wieder füllen können. Selbst Emerelle und Meliander vermochten ihr nicht zu geben, was sie an ihm verloren hatte. Manchmal, wenn sie aus tiefen Träumen erwachte, hatte sie das Gefühl, dass er noch neben ihr lag. Sie tastete dann nie mit der Hand zur Seite. Sie genoss den Augenblick der Illusion. Manchmal war ihre Einbildungskraft so stark, dass sie glaubte, ihn zu riechen und die Wärme seiner Hände auf ihrer Haut zu spüren.
Wenn das Schicksal ihr gnädig war, schlief sie dann, in wohlige Erinnerungen gehüllt, noch einmal ein, und er begegnete ihr im Traum. Doch Gnade war selten.
Ob sie den Menschenkindern zuteilwerden würde, die zugegen waren, als der Devanthar sich an der Ordnung der Welt verging? Wohl kaum. Auch auf ihre Seelen würde ein Schatten fallen, da war sie sich sicher.
Das Glück auf dem Ankerturm
Volodi war unendlich erleichtert, als er die Ankertürme der Goldenen Stadt am Horizont sah. Schnell kamen sie näher. Eine beklemmende Stimmung lag über dem Schiff. Die Valesier hatten sich abgesondert. Sie sprachen kaum noch mit den anderen Besatzungsmitgliedern. Neue Geschichten über König Geisterschwert machten die Runde. Geschichten, die noch düsterer waren als jene, die man sich über die Eroberung des Steinhorsts erzählte.
Volodi war damals ein Gefangener der Zapote gewesen. Er hatte keinen Anteil an der Schlacht gegen die rebellischen Satrapen Bessos und Eleasar gehabt. Und er hatte die Geschichten über Aarons Bluttaten nie glauben wollen. Doch jetzt war er sich nicht mehr sicher.
Sein Freund hatte das Leben Shayas gegen das des Heilers Enak eingetauscht. Daran konnte kein Zweifel bestehen.
Shayas raues Lachen hallte über das Flugdeck. Sie wusste wohl nicht, was geschehen war. Sie und Aaron sahen glücklich miteinander aus. Beide ignorierten die verstohlenen Blicke, die ihnen folgten. Oder waren sie in ihrem Glück blind geworden?
Hörner erklangen in der fernen Stadt. Sie waren gesichtet worden.
Volodi dachte an Quetzalli. Es war unverzeihlich, was er ihr angetan hatte. Jetzt, mit etwas Abstand, konnte er sich nicht mehr erklären, was er an Anisja gefunden hatte. Quetzalli war die eine, die er begehrte wie keine andere. Wie hatte er nur ein solcher Dummkopf sein können?
Seit Tagen hatte er sich eine Rede für sie zurechtgelegt. Er würde sie zurückerobern. Auf Knien würde er sie um Verzeihung bitten, selbst wenn der ganze Hofstaat dabei zusah. Er war entschlossen, sich auch sein Glück zurückzuerobern. Und es war ihm egal, was die anderen über ihn reden würden.
Volodi schloss die Augen. Er genoss den Wind auf seinem Antlitz und dachte daran zurück, wie er Quetzalli zum allerersten Mal begegnet war. Sie hatte ihm auf einem Markt der Goldenen Stadt zugelächelt, und er war ihr vom ersten Augenblick an verfallen gewesen, ohne zu ahnen, dass sie eine Menschenfängerin für die blutgierige Priesterschaft der Zapote gewesen war. Seit damals waren sie beide einen langen Weg gegangen.
Stumm betete Volodi zum Großen Bären, flehte den Devanthar darum an, dass Quetzalli sich in diesem Augenblick ihren geliebten Federumhang um die Schultern warf, Wanya auf den Arm nahm und über den Hof des Palastes zum Ankerturm eilte. Wenn sie dort oben auf ihn wartete, dann würde alles wieder gut werden.
Er wagte es nicht, die Augen wieder zu öffnen, aus Angst, der Enttäuschung ins Angesicht zu sehen. Er kannte Quetzalli nur zu gut. Zu vergeben gehörte nicht zu ihren Stärken.
Der Unsterbliche spürte, wie der Flügelschlag von Wind vor regenschwerem Horizont langsamer wurde. Deutlich hörte er jetzt auch das Plätschern und Knarren der großen Wasserräder der Stadt. Die Decksoffiziere riefen Befehle, die Ankertaue bereitzuhalten.
Es war töricht, es noch länger herauszuzögern, dachte Volodi bitter. Er musste sich den Konsequenzen seines Fehltritts mit Anisja stellen. Hoffentlich ließ Quetzalli ihm wenigstens Zeit mit Wanya. Er hatte den Jungen vor dem Aufbruch sträflich vernachlässigt. Er durfte seinen Sohn nicht nur den Weibern überlassen. Er sollte sich Zeit für ihn nehmen, ihn ein wenig Honigbier von seinen Fingern lecken lassen, damit er lernte, was gut war. Ihm gefiel der Gedanke, mit Wanya auf dem Schoß auf dem Hochsitz im Langhaus zu sitzen.
Ein Lächeln stahl sich auf die Lippen des Unsterblichen, und er öffnete die Augen. Der Ankerturm lag weniger als hundert Schritt steuerbord von ihm. Deutlich sah er Oleg, eine Schar von Kriegern und Hofbeamte. Den schillernden Federmantel Quetzallis sah er nicht.
Er straffte sich, kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals. Er hatte es geahnt. Sie war zu tief verletzt. Und das war ganz und gar seine Schuld. Wie hatte er Trottel darauf hoffen können, sie auf dem Turm zu sehen? Er würde sich ihre Liebe wieder verdienen müssen.
Auf den anderen Ankertürmen seines Palastes wurden Hörner geblasen, um ihn zu grüßen. Früher war er stolz gewesen, wenn er so empfangen worden war. Jetzt fühlte er gar nichts. Seine Seele war taub vom Schmerz, den er Quetzalli zugefügt hatte.
Schillerndes Rot drängte sich zwischen den Höflingen auf der gewundenen Außentreppe des Ankerturms hindurch. Ein Umhang aus den Federn dieser widerborstigen Vögel, die die Zapote so gerne in ihren Häusern hielten. Offenes Haar, schwarz wie die Nacht, breitete sich über das Rot. Quetzalli! Sie war doch gekommen. Mit Wanya im Arm erreichte sie die Plattform des Ankerturms. Volodi konnte sehen, wie sehr sie außer Atem war.