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Das Wolkenschiff war keine zwanzig Schritt mehr entfernt. Tentakel griffen nach den schweren, goldverkleideten Balken, die aus dem Mauerwerk ragten.

Volodi hatte nur Augen für Quetzalli. Ihre Wangen waren rot. Sie musste gelaufen sein, um noch rechtzeitig die Turmspitze zu erreichen. Sie hob den freien Arm und winkte ihm.

Volodi atmete schwer aus. Er konnte sich nicht erinnern, in seinem Leben jemals so erleichtert gewesen zu sein. Dort oben auf dem Ankerturm stand das Glück, und es winkte ihm zu.

Nur ein Schritt

Quetzalli machte einen weiten Schritt von der schwingenden Laufplanke, die das Schiff mit dem Ankerturm verband, und hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Volodi nahm sie in die Arme, kaum dass sie einen Fuß an Deck gesetzt hatte. Er küsste sie leidenschaftlich vor aller Augen. Sie ließ sich fallen, genoss es, in seinen starken Armen geborgen zu sein. So leidenschaftlich war er schon lange nicht mehr gewesen.

»Es tut gut, dich zu sehen«, hauchte er ihr ins Ohr. »Bitte verzeih mir meine Dummheit. Ich habe es bereut. Ich …«

Sie legte ihm sanft die Hand auf die Lippen. »Wie könnte ich verzeihen, was ich vergessen habe.« Sie lächelte und befreite sich aus seiner Umarmung. Immer noch hielt sie Wanya an sich gedrückt.

Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück. Sie war sich bewusst, dass sie angestarrt wurden. Eine so leidenschaftliche Begrüßung ziemte sich nicht für ein Herrscherpaar. Zwischen den Höflingen, die ebenfalls an Bord gegangen waren, entdeckte sie auch Yuri, der ihnen mit kalten Augen zusah. Da war sie wieder, die Wirklichkeit. Nichts war mehr so, wie es noch vor einem Mond gewesen war. Bevor die Daimonen den Palast angegriffen hatten. Nicht Volodi war es gewesen, der ihr Leben zerstört hatte. Nicht einmal Yuri. Sie hatte es getan. Ihre Angst hatte ihre Zukunft gefressen. Wäre sie doch nur nicht in den Versorgungstunnel geflohen. Sie hätte einfach nur im Langhaus ausharren müssen, und alles wäre gut gewesen.

»Komm, lass uns wo hingehen, wo wir nicht allen im Weg stehen«, sagte Volodi sanft und führte sie hinab auf das Flugdeck des Wolkenschiffs.

Quetzalli genoss es, ihn zu betrachten. Seinen großen, muskulösen Leib. Sein edel geschnittenes Gesicht, die tiefblauen Augen und das Haar, hell wie Sonnenstrahlen an einem Sommernachmittag. Sie hatte sich in ihn verliebt, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Auch wenn sie es sich damals noch nicht eingestanden hatte. Er war ein guter Mann gewesen. Er war gekommen, um sie aus der Sklaverei der Jaguarmänner zu befreien. Er hatte nie gefragt, was sie ihr angetan hatten, und er hatte ihr verziehen, dass sie versucht hatte, ihn zu den Opferaltären ihres Volkes zu locken. Sie wusste, wie wenige Frauen in ihrem Volk das Glück hatten, einen Mann zu finden, der so zu ihnen stand, wie Volodi immer zu ihr gestanden hatte. Ihr Glück hätte nur ein weniger länger dauern dürfen …

An seiner Seite schritt sie zwischen den Reihen von geflügelten Löwen und Bären hindurch zum Ende des Flugdecks. Sie hatte gute Jahre mit Volodi gehabt. Sie durfte ihm jetzt nicht zur Last werden. Was mit Wanya geschehen war, würde für immer als ein Schatten über seinem Königtum liegen. Entweder würde es heißen, die Zapotehexe habe die Seele des Königssohns geopfert, oder aber, der König sei schwach und seine Schwäche würde sich in dem Kind zeigen, das er gezeugt hatte. Yuri würde sie vielleicht loswerden können, aber andere würden dem Heiler folgen. Es wäre ein Kampf, der niemals enden würde. Wenn sie ihn wirklich liebte, dann durfte sie nicht zulassen, dass seine Herrschaft in den Schmutz gezogen wurde. Sie blieb stehen.

»Umarme mich, mein Geliebter«, sagte sie voller Wärme.

Volodi sah sie verwundert an. »Was ist los mit dir?«

»Es tut mir leid, dass wir gestritten haben. Wegen nichts …«

Er senkte den Kopf. Sie konnte sich vorstellen, was er jetzt dachte. Es war nicht ganz nichts. Es hatte die eine Liebesnacht mit Anisja gegeben, doch was bedeutete das schon?

»Ich …«, begann er, doch sie brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen. Sie wollte nichts mehr von dem hören, was zwischen ihnen gestanden hatte.

Lange verharrten sie eng umschlungen. Wanya zwischen sich. Sie drei waren eins. Ein letztes Mal.

Es fiel Quetzalli schwer, sich aus der Umarmung zu lösen. So gerne wäre sie mit ihm den Ankerturm hinabgestiegen. Sie hätten sich zusammen in ihren Gemächern im Langhaus eingeschlossen. Sie wären einfach nur für sich allein gewesen, wie damals, als sie sich in den Wäldern Drusnas versteckt hatten.

Quetzalli tastete nach dem Buchenholzstab, den sie sich in den Gürtel geschoben hatte. So viele Stunden hatte er sie gekostet. Doch jede einzelne war es wert. Er war jetzt über und über mit Schnitzereien bedeckt. Der Stab würde Volodi in den dunkelsten Stunden ein Licht sein. »Dies ist mein Geschenk an dich. Es erzählt von einer geheimen Geschichte.«

Volodi nahm das Kleinod entgegen und betrachtete es bewundernd. Seine Finger glitten über die Schlangen und Fabelwesen, die das helle Holz schmückten, die Zeichen und Symbole, die allein die Priester der Zapote zu deuten wussten.

»Er ist schön«, sagte er anerkennend. Er deutete auf eine Schlange, aus deren Schlund ein Frauenleib ragte. »Und ein wenig unheimlich.« Er lächelte. »Er passt zu dir, meine blutgierige Priesterin.«

Sie schluckte. Das wollte sie nicht hören. Nicht jetzt …

»Es war ein Scherz«, sagte er hastig. Er schien in ihrem Gesicht gelesen zu haben. Er kannte sie so gut. Sie seufzte. Sie schmeckte noch seine Küsse auf ihren Lippen. Eng drückte sie Wanya an ihre Brust. »Bitte, versprich mir eins, Volodi, vergiss niemals, was ich dir nun sage.«

Er legte die Stirn in Falten. »Was …«

»Ganz gleich, was du über mich hören wirst, all meine Taten wurden aus Liebe zu dir geboren.« Sie wich vor ihm zurück. Einen Schritt. Zwei …

Erst sah er sie nur verwundert an. Dann weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. »Nicht!«

Sie machte noch einen Schritt und trat ins Leere. Sie hielt Wanya eng umschlungen, als sie fiel. Die Zeit schien langsamer zu laufen. Überdeutlich sah sie die Höflinge und Lastenträger auf der Treppe des Ankerturms. Den Schrecken in ihren Gesichtern.

Sie stürzte, ohne zu schreien. Sie war eine Priesterin der Zapote. Beherrscht bis in den Tod. Beherrscht bis …

Am Rand des Flugdecks erschien Volodi. Das Grauen, das sie in seinen Zügen sah, brach ihr das Herz. Und doch, sie hatte keine andere Wahl gehabt. Sie bedauerte nichts.

»Lebe wohl, mein wunderschöner M…« Der Aufprall löschte all ihre Ängste.

Kampf um den Himmel

Artax sah Volodi am Abgrund schwanken. Er ließ Shaya los und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, über das Flugdeck. Als er seinen Freund beim Umhang packte, wollte der Drusnier gerade den Schritt tun, der ihn von Quetzalli trennte.

»Nicht!« Artax zerrte ihn zurück und warf ihn zu Boden. Er kniete sich auf Volodis Brust, drückte ihn mit aller Kraft auf das Deck. Sein Freund machte keine Anstalten, Widerstand zu leisten.

»Warum …« Volodis Stimme war ohne jede Kraft. »Sie hatte mich gerade noch geküsst … Alles war gut. Ich konnte es deutlich spüren. Alles war gut …« Immer und immer wieder sprach er diese drei Worte, als wären sie eine Zauberformel, die Quetzalli und Wanya zurück ins Leben holen könnte.

Artax wusste nicht, was er sagen sollte. Es gab keine Worte, die ihm Trost spenden konnten. Er legte Volodi einfach nur die Hand auf die Schulter und hörte ihm zu.

»Alles war gut …«

Das Wolkenschiff erbebte. Schreie gellten vom Palasthof. Verwundert blickte Artax auf. Etwa zweihundert Schritt entfernt lag ein anderer Wolkensammler vertäut. Er trug ein großes Lastschiff. Die Tentakel der Kreatur lösten sich von den Strebebalken des Turms. Fanghaken durchtrennten Ankerleinen. Tentakel griffen nach Wolkenschiffern, um sie von Bord zu zerren und in den Palasthof hinabzuschleudern.