Muwatta ordnete eine Reihe von Wachstafeln, die eben erst gebracht worden waren, während Ashot an der Tür bereits weitere Tafeln in Empfang nahm. Von überall in der Stadt erreichten sie Berichte von Spitzeln, befreundeten Kaufleuten und Gesandten an den Höfen der anderen Unsterblichen.
»Nun haben wir die abschließenden Zahlen«, sagte Mataan bedrückt. »Von dreiundsiebzig Wolkensammlern, die bei unserer Ankunft über der Stadt an den Ankertürmen vertäut lagen, sind sechsundvierzig davongeflogen. Sie alle haben ihre Wolkenschiffe abgeworfen. Und das ist nicht das Ende. Sie werden die Rebellion auf ganz Nangog verbreiten.«
»Wie viele Tote gab es?« Artax blickte hinaus zum Himmel. Die Zwillingsmonde standen schon tief. Er wollte zurück in seine Gemächer.
»Schwer zu sagen …« Mataan hob eine der Tafeln auf und überflog flüchtig die Zeilen darauf. »Allein im Statthalterpalast von Drusna sind wohl mehr als zweihundert gestorben. Wind vor regenschwerem Horizont ist zurückgekehrt. Er scheint schwer verletzt zu sein.«
Artax fluchte innerlich. Wie hatte der Wolkensammler nur so leichtfertig seinen Brüdern mitteilen können, wozu das Traumeis dienen sollte.
Ashot schickte den Boten an der Tür fort. »Im Palast der Drusnier gehen seltsame Dinge vor sich. So wie es scheint, führen dort der Hauptmann der Leibwache und ein Heiler das Kommando. Volodi hat sich in die Trümmer des Langhauses zurückgezogen und lässt niemanden zu sich vor …«
Das wunderte Artax nicht. Hätte er nicht eingegriffen, wäre Volodi auf dem Deck des abstürzenden Wolkenschiffes sitzen geblieben. »Können wir den Drusniern im Augenblick helfen?«
»Wir könnten Heiler und Verbandsmaterial schicken«, sagte Mataan. »Und morgen vielleicht Arbeiter. Der ganze Palast dort ist ein Trümmerfeld. Überall liegen die Bären und unsere Löwen. Die Götter werden erzürnt sein, dass wir so schlecht auf ihre Geschenke achtgegeben haben.«
»Das sind die Sorgen von morgen«, entschied Artax. »Gönnt euch auch ein wenig Ruhe.«
»Eines noch …« Ashot stand breitbeinig in der einzigen Tür. »Du wirst sie doch nicht im Palast behalten, oder?«
Artax schob das Kinn vor und sah seinen Jugendfreund durchdringend an. Wie hatte er so dumm sein können, darauf zu hoffen, dass sich dieses Thema erledigt hatte. »Sie wird bleiben!«, sagte er entschieden.
Ashot stieß einen langen Seufzer aus. »Sie ist ein Küchenmädchen …«
»Sie ist die Heilerin, die mir im ewigen Eis das Leben gerettet hat. Du wusstest das, nicht wahr?«
Der Feldherr senkte den Kopf. »Ja.«
»Alle Satrapen, die darauf hoffen, eine ihrer Töchter mit dir zu vermählen, werden verprellt sein, wenn du ein Küchenmädchen in dein Bett holst. Wenn sie nur für ein paar Nächte …«
»Sie wird bleiben, und wir werden eine große Hochzeit feiern«, schnitt er Mataan das Wort ab.
»Das ist nicht klug. Du magst der mächtigste aller Menschen sein, aber in dieser Entscheidung bist du nicht frei«, setzte ihm jetzt wieder Ashot zu. »Du musst an das Wohl des Reiches denken.«
»Nein!«, entgegnete Artax knapp. Das würde er ganz sicher nicht tun. »Sie ist eine geheimnisvolle Frau. Sorgt dafür, dass die wandernden Geschichtenerzähler Dinge über sie erzählen, die mir passen. Streut selbst Gerüchte aus. Die Heilerin, die im ewigen Eis so vielen Männern geholfen hat, ist schon längst eine Figur in vielen Erzählungen über den gescheiterten Feldzug geworden. Sorgt dafür, dass bekannt wird, dass Shaya das war. Macht denen dort draußen klar, dass sie mehr ist als nur ein Küchenmädchen. Lasst sie geheimnisvoll erscheinen. Verbreitet meinetwegen, dass sie eine geflohene Fürstentochter ist. Denkt euch etwas aus. Nur eines will ich von euch nicht mehr hören, und das sind Gründe, warum sie nicht hier bei mir sein darf! Ihr seid meine Berater. Erfindet gefälligst Gründe, warum sie die eine Frau ist, die mein Herz erobert hat, und warum das nie einer anderen gelingen kann. Macht sie zur Heldin einer Geschichte, die zu Herzen geht.«
Artax schob sich an Ashot vorbei. Für heute hatte er genug Ärger gehabt. Zum ersten Mal seit langer Zeit freute er sich darauf, sich in seine Gemächer zurückziehen zu können. Jetzt waren sie endlich eine Zuflucht. Shaya machte sie dazu, und sie würde ihm helfen, für ein paar Stunden alle Sorgen hinter sich zu lassen.
Er trat auf den langen Flur hinaus, der zu seinen Gemächern führte. In regelmäßigen Abständen standen Wachen an den Wänden. In der Nacht wurden sie alle zwei Stunden ausgetauscht. Ashot und Ormu waren geradezu besessen davon, dass die Daimonen ihm nach dem Leben trachten könnten. Seit dem Angriff auf Volodis Palast hatten sie die Wachen sogar noch weiter verstärkt.
Artax sah das mit gemischten Gefühlen. Manchmal fühlte er sich in seinem eigenen Palast wie ein Gefangener. Außerdem war er davon überzeugt, dass man die Daimonen wohl nicht würde aufhalten können, wenn sie ihm wirklich ans Leben wollten.
Der Unsterbliche nickte den Wachen zu, wenn er sie passierte. Er kannte nur noch von der Hälfte der Männer die Namen, so viele waren es inzwischen geworden.
Am Ende des Flures öffneten zwei Krieger die große Flügeltür zu seinen privaten Gemächern. Müde trat er ein und löste den Schwertgurt. Er hatte ihn aus Gewohnheit angelegt. Eine Gewohnheit, die auf Ormu und Ashot zurückging, die beide so oft darauf bestanden hatten, dass er niemals unbewaffnet sein sollte, dass er inzwischen, ohne noch darüber nachzudenken, sein Schwert umgürtete, sobald er seine Gemächer verließ.
Er schritt durch den weiten Raum mit den Arbeitstischen, in dem er gelegentlich einige Vertraute empfing, und trat in die Schlafkammer. Fahles Mondlicht fiel durch die offene Tür zur Terrasse. Der Vorhang dort war zurückgezogen.
Das Licht stanzte ein langes Rechteck in die Dunkelheit, dessen Ende gerade eben das Fußende seines Bettes berührte. Er sah Shayas Füße. Sie sahen seltsam aus. Gekrümmt, als hätte sie einen Krampf.
Besorgt trat er zum Bett. Da war etwas! Eine Gestalt kauerte am Kopfende. Sie presste eine Hand auf die Stirn der Steppenreiterin. Die zweite auf ihr Herz!
Artax griff nach seinem Schwert. Ein Griff ins Leere.
Ohne zu zögern, warf er sich auf den Eindringling, doch dieser kam ihm zuvor. Er bewegte sich geradezu beängstigend schnell. Das konnte kein Mensch …
Artax wurde gepackt und aufs Bett geworfen. Die Gestalt kauerte sich auf seine Brust. Sie war nicht sehr schwer. Eine Strähne goldenen Haars löste sich unter der schwarzen Kapuze, die das Gesicht des Meuchlers im Schatten verbarg.
Eine schlanke Hand legte sich fest auf Artax’ Mund. »Du warst es, der mich hierhergebracht hat«, sagte eine fremde Stimme mit melodischem Akzent. Der Angreifer schlug die Kapuze zurück. Es war die Frau, die er aus Asugar gerettet hatte.
Artax versuchte, sich unter ihr hervorzuwinden, aber sie war trotz ihrer zierlichen Gestalt stärker als er. Gnadenlos hielt sie ihn nieder.
Er verdrehte die Augen, sah zu Shaya. Seine Geliebte lag grotesk verkrümmt im Bett. Ihre Augen und ihr Mund waren weit aufgerissen. Sie regte sich nicht.
»Ich werde dir nun weh tun.« Die Stimme klang tatsächlich bedauernd. »Ich hoffe, du hast ein starkes Herz, Menschensohn.« Sie griff seitlich an seinen Hals und drückte zu. Ein Schmerz, als würden all seine Adern zu weißglühenden Drähten, durchfuhr ihn. Er bäumte sich auf, drückte den Rücken durch und verharrte von Krämpfen gepeinigt. Jegliche Kontrolle über seinen Körper war verloren.
Die Meuchlerin zog die Hand von seinem Mund. Er vermochte nicht einmal mehr zu röcheln.
»Nun beginnt der unangenehme Teil.« Sie sagte das weder zynisch noch gehässig. Ihre Stimme war sachlich. »Ich bin leider nicht sehr bewandert in dem, was ich nun tun werde. Ich hoffe, du bist stärker als diese Frau.«