Damit hatte sie gerechnet. »Ich weiß Eure Sorge um mein Wohl sehr zu schätzen, mein Gebieter. Zu groß sind die Opfer, die der Jadegarten bereits für mich gebracht hat. Ich werde also niemanden aus Eurem Gefolge als Begleitung für diese Reise ins Ungewisse erbitten. Ich habe eine andere Wahl getroffen.« Sie nannte den Namen.
Der Dunkle lachte auf. Ihr versteht es stets aufs Neue, mich zu überraschen, meine Dame. Solltet Ihr in dieser Begleitung nach Nangog gehen, werde ich mich nicht um Eure wohlbehaltene Rückkehr sorgen. Doch gestattet mir ein offenes Wort: Ich bin zuversichtlich, wenn Ihr an diesem Entschluss festhaltet, werdet Ihr niemals gehen.
Stinkender Fuß
Volodi hatte geglaubt, dass er kommen würde. Den ganzen Tag hatte er auf ihn gewartet. Nur auf ihn! Er war der letzte Freund, der ihm geblieben war, so hatte er gedacht. Er hatte sich geirrt. Der Unsterbliche Aaron hatte wohl Besseres zu tun …
Volodi hielt eines von Quetzallis Kleidern in Händen. Immer wieder vergrub er sein Gesicht darin. Ihr Geruch haftete noch an dem Stoff, der nun nass von seinen Tränen war. Er hatte dieses Kleid nicht gemocht, weil es eine Opferszene zeigte. Er hatte nie begreifen können, was sie daran so wunderbar fand. Und er konnte nicht begreifen, warum sie es getan hatte. Mit Wanya in den Tod zu springen … Je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass sie ihm immer ein Rätsel geblieben war. Schon zu Anfang hatte er nicht erkannt, dass sie nur deshalb freundlich zu ihm gewesen war, weil sie ihn zu einem ihrer Opferaltäre hatte locken wollen. Und dann hatte sie sich in ihn verliebt. Ihr eigenes Leben hatte sie für ihn aufgegeben. Warum? Was war so liebenswert an ihm, dem Barbaren?
Er saß zusammengesunken in dem großen Stuhl gegenüber von Wanyas Wiege. Eigentlich war der Junge schon zu groß für dieses Bett gewesen. Quetzalli hatte nicht gewollt, dass er zu schnell erwachsen wurde.
Heiße Tränen rannen über Volodis Wangen. Jetzt hatte sie es erreicht. Sie hatte Wanya einfach mit sich genommen. Er würde für immer ein Kind bleiben.
»Warum?«, schrie er die Wiege an. »Warum?«
Er hatte mit Dienern und Höflingen gesprochen. Er hatte erfahren, dass Quetzalli gestern Abend erst Gericht gehalten hatte. Und sie hatte es gut gemacht. Zusammen mit Yuri. Warum sie den alten Heiler ins Vertrauen gezogen hatte, hatte er nicht verstanden. Er mochte Yuri nicht und hatte geglaubt, dass Quetzalli seine Abneigung gegen den Alten teilte. Aber Yuri schien sie sogar dazu bekommen zu haben, einen Abend lang in drusnischen Gewändern auf dem Hochsitz zu thronen. Er hatte sie nie dazu überreden können. Ich kleide mich doch nicht wie eine reich gewordene Barbarenmagd, hatte sie stets gesagt und dann sehr deutlich gezeigt, dass es für sie nichts mehr zu besprechen gab.
Allerdings hatte Volodi auch gehört, dass Quetzalli sich für mehrere Tage ganz auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Er starrte die umliegenden Wände an. Was war hier vorgefallen? Diese Mauern kannten Quetzallis Geheimnis, da war er sich sicher.
Wieder vergrub er sein Antlitz in Quetzallis Kleid. »Warum, meine Geliebte? Warum?«
Lange verharrte er so, unfähig, seine Trauer zu beherrschen. Lediglich das Bersten der Scheite durchbrach die Stille, immer schwächer erhellte das sterbende Feuer im Kamin den Raum. Volodi war es recht so. Er zog es vor, im Dunkeln zu sitzen. Mit einem Mal lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Er hatte das beklemmende Gefühl, nicht mehr allein im Zimmer zu sein.
Er sah zur Tür, die verschlossen war.
Plötzlich regte sich etwas hinter ihm. Seine Hand fuhr zu dem Dolch, der neben ihm auf dem Tisch lag. Dem verfluchten Dolch, der Kolja gehört hatte und von dem Quetzalli überzeugt gewesen war, dass er Unglück brachte. Sie hatte recht behalten.
»Heute müssen wir einander nicht bekämpfen.« Die Stimme sprach mit einem harten Akzent, der Volodi nur zu vertraut war.
Langsam drehte er sich um. In der Ecke hinter ihm stand eine Gestalt, die fast vollständig mit den Schatten verschmolzen war. Nur ein Kopf mit Reißzähnen schob sich aus dem Dunkel. Das Gesicht im Maul des Jaguarhelms war kaum zu erahnen.
»Necahual?«
»Mein Schwager.«
So hatte ihn der Anführer der Jaguarmänner noch nie genannt.
»Stimmt es, was geredet wird, Volodi?«
»Sie ist …« Er brachte es nicht über sich, es auszusprechen.
»Ich bin hier, um sie zu holen.«
Volodi war augenblicklich alarmiert. Immer noch hielt er den Dolch in der Hand. »Sie holen? Du? Für euch ist sie doch nur Fleisch. Eine Verräterin.«
»Das alles war sie«, entgegnete der Jaguarmann ruhig. »Aber wir beurteilen die Toten nach den letzten Taten in ihrem Leben. Sie war die Herrscherin an deiner Seite. Nie ist eine Zapote so weit aufgestiegen. In unserem Volk hat sie den Rang einer Hohepriesterin. Wir werden sie in allen Ehren bestatten.«
»Und du glaubst, du könntest sie gegen meinen Willen …«
»Es spielt keine Rolle, was ich glaube oder vielleicht auch kann. Du sagst, du liebst sie, Volodi. Was hätte sie gewollt?«
Er kannte die Antwort. Sie hatte die Vorstellung gehasst, eines Tages als Aas für die Vögel in den Ästen einer Eiche aufgebahrt zu sein. Die Heiligen Haine seines Volkes waren für sie Orte des Grauens gewesen. Die schlimmsten Ausgeburten drusnischer Barbarei. Mehr als einmal hatte sie ihn bedrängt, niemals auf diese Weise beigesetzt zu werden.
»Ich werde bei ihrem Totenfest mit einer Gesandtschaft zugegen sein.«
Necahual schüttelte den Kopf. »Das wird der Unsterbliche Acoatl niemals dulden. Er hasst dich fast ebenso wie den Unsterblichen Aaron. Du bist der Grund, dass unser Tempel geschändet wurde.«
»Ich werde bei ihrem Totenfest zugegen sein«, beharrte Volodi.
»Kaum ist sie tot, und schon bedeuten dir ihre Wünsche nichts mehr?«, begehrte der Jaguarmann auf. »Und du behauptest von dir, du hättest sie geliebt. Du …« Er wirkte plötzlich wie versteinert.
»Ich werde sie bestatten, wie es sich für eine Hohepriesterin geziemt. Ich werde einen großen Scheiterhaufen errichten.« Volodi war bewusst, welche Schwierigkeiten das machen würde. Im Heiligen Hain durfte kein Scheiterhaufen entzündet werden. Außerhalb aber sollte es keine Totenfeiern geben. Selbst jetzt noch sträubte sich Quetzalli gegen die drusnischen Bräuche.
»Darf ich mir das einmal ansehen?« Necahual ging nicht auf Volodis Worte ein, wie gebannt blickte er zum Tisch.
Volodi sah erst ihn, dann den geschnitzten Stab an.
»Deine Schwester hat ihn mir unmittelbar vor ihrem Tod als Geschenk überreicht.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Necahual. »Darf ich?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er den Stab, trat dicht ans Feuer und betrachtete lange die Schnitzarbeiten.
Volodi sah schweigend in die sterbenden Flammen. Die Worte des Zapote hallten in ihm nach. Kaum ist sie tot, und schon bedeuten dir ihre Wünsche nichts mehr. Der Unsterbliche wusste, was Quetzalli sich gewünscht hätte. Aber alles in ihm sträubte sich dagegen, sie an die Zapote zurückzugeben. Nicht einmal ihren toten Leib. Es fühlte sich an, als hätten jene, die sie einst nichts weiter als nur noch Fleisch hatten sein lassen, am Ende doch noch gewonnen.
Und dennoch, Quetzalli hätte es nicht gewollt, auf einem Baum in Drusna bestattet zu sein. Was sollte er tun? Jeder Weg schien der falsche zu sein.
Necahual war dichter an das Feuer getreten und drehte den Holzstab langsam in seinen Händen. »Sie hat deinen Sohn getötet«, sagte er beklommen.
»Natürlich!«, fuhr Volodi auf. »Sie ist mit ihm in den Armen von einem Wolkenschiff gesprungen!«
»Nein, es war früher …« Der Zapote sah unverwandt auf den Stab. »Er hat sie gequält. Er wusste es. Sie war seine Gefangene, als du gegangen bist. Aber sie hat gekämpft …« In den letzten Worten Necahuals schwang Stolz mit.