»Was meinst du? Wovon redest du?« Volodi erhob sich aus seinem Stuhl. Seine Glieder fühlten sich an, als wären sie aus Blei gegossen. Selbst die paar Schritt zum Feuer erschöpften ihn.
Necahual erzählte ihm von der Nacht, in der die Daimonen gekommen waren. Von Quetzallis einsamer Flucht durch den Tunnel. Davon, wie sie Wanya die Hand auf Mund und Nase gepresst hatte, damit er sie beide nicht durch einen Laut verraten konnte. Und davon, dass dies die Seele seines Sohnes getötet hatte. Sie, die einst nur hatte Fleisch sein sollen und dies alles mit wachem Verstand hatte erleben müssen, hatte ihr Schicksal an ihrem Sohn erfüllt. Wanya hatte die Nacht überlebt, aber alles, was ihn ausgemacht hatte, war gegangen. »Er war wie ein lebender Toter, Volodi.«
Der Drusnier dachte daran, wie ruhig sein Sohn in seinem Bettchen gelegen hatte. Wie er weder weinte noch lächelte. Und daran, wie er Wanya einfach nur für ein braves Kind gehalten hatte, ohne zu ahnen, was tatsächlich mit ihm geschehen war. »Warum hat sie es mir nicht gesagt?«
»Fragst du dich das wirklich?« Necahual drehte sich zu ihm um. Er deutete mit dem Holzstab wie mit einer Klinge auf ihn. »Horche in dein Herz! Weißt du wirklich nicht, warum sie geschwiegen hat?«
Hatte sie ihn gefürchtet? Das wollte Volodi nicht glauben. Sie hatten immer wieder gestritten, ja. Aber Quetzalli hatte niemals Angst vor ihm gehabt, und so anstrengend es gewesen war, wenn sie einander nicht verstanden hatten, er hätte keine andere Frau haben wollen. Warum also hatte sie geschwiegen?
»Du kommst wirklich nicht darauf?« Necahual schnaubte abfällig. »Sie wollte dich beschützen. Vor dem Gerede, das ihr gefolgt ist wie ein Schatten. Ihr war klar, was deine Untertanen gedacht hätten, wenn bemerkt worden wäre, dass dein Sohn, den du mit der Zapotehexe gezeugt hattest, keine Seele hat.«
»Das ist doch Unsinn!«, begehrte Volodi auf und riss Necahual den Stab aus der Hand. Verzweifelt starrte er auf die Schnitzarbeit. Für ihn waren dies nur Bilder. Er konnte nichts darin lesen. Sie erzählten ihm keine Geschichte.
»Es gibt einen Mann an deinem Hof, der erkannt hat, wie es um Wanya stand. Er hat sich das zunutze gemacht und meine Schwester erpresst.«
»Wer?« Volodi schrie die Frage heraus. Er wollte etwas haben, das greifbar war. Dieser Kerl … Er würde ihn dazu bringen zu reden. Er wollte es aus seinem Munde hören. Nicht von einem Holzstab, der nicht zu ihm sprechen wollte, aber zu Quetzallis Bruder. Warum hatte sie ihm nichts gesagt? Sie hätten einen Weg gefunden. Er war der Unsterbliche! Er hätte den alten Bären rufen können, den Devanthar, der über Drusna wachte. Sie hätte die Hilfe eines Gottes haben können. »Wer?«, fuhr er den Zapote erneut an, als dieser immer noch nicht antwortete.
Necahual hob resignierend die Hände. »Was das angeht, sind mir die Zeichen meiner Schwester ein Rätsel. Sie nennt den Mann, der sie erpresst hat, stinkender Fuß. Ist das vielleicht ein Spitzname? Für eure drusnischen Namen gibt es keine Zeichen in unserer Schrift.«
»Stinkender Fuß?« Volodi zermarterte sich das Hirn. Vom größeren Teil seiner Höflinge kannte er nicht einmal die Namen, geschweige denn die Spitznamen. Er war ein Krieger. Mit den Männern seiner Leibwache war er vertraut, ebenso mit den meisten Hauptleuten an seinem Hof und den Kriegsfürsten aus den Provinzen. Aber all die anderen Höflinge – die Schreiber und Verwalter, Diener und Stallknechte. Das waren Hunderte. Wer von ihnen konnte es gewesen sein? Wer hatte Quetzalli überhaupt nahe genug kommen können, um sie anzusprechen und zu erpressen? Plötzlich fiel ihm Jascha ein. Der Krieger, den sie eines Morgens tot in den Schweinepferchen gefunden hatten. Es hatte geheißen, er sei betrunken dort hineingestürzt. Volodi hatte sich das nie wirklich vorstellen können …
Hatten damals die Intrigen vielleicht schon begonnen, und ein Mitwisser war beseitigt worden? Er hasste diese Spiele. Er wusste, dass an jedem der großen Fürstenhöfe intrigiert wurde. Doch er war stets ein Mann für das offene Wort gewesen. Lügner, die auf diese niederträchtige Art um Vorteile kämpften, konnte er nicht leiden. Hatte er davor einfach die Augen verschlossen? Hätte er sehen können, was auf Quetzalli zukam?
»Ich kenne niemanden, der so genannt wird«, sagte er schließlich resignierend. »Was genau liest du dort?«
»Stinkender Fuß hatte mein Geheimnis entdeckt, und er hat mir damit gedroht, Schande über dich zu bringen, mein Geliebter. Ich hoffe, du wirst mir verzeihen können, was ich getan habe. Ich habe keinen anderen Weg gesehen, deine Ehre zu beschützen«, trug Necahual stockend vor.
Volodi traten Tränen in die Augen, als er das hörte, als Quetzalli ein letztes Mal durch den Mund ihres Bruders zu ihm sprach. Er erinnerte sich daran, dass ihr die drusnischen Namen oft Schwierigkeiten bereitet hatten. »Wie spricht man das aus? Was sind die Worte für stinkender Fuß?«
Necahual sah ihn nur verwundert an.
»Sag es in deiner Sprache zu mir. Los!«
»Juh Rie.«
Volodi keuchte.
»Yuri!« Er hätte es wissen müssen! Dass sie ihn zu ihrem Berater gemacht hatte, passte ganz und gar nicht zu Quetzalli. Sie hatte ihn nicht gemocht. Genauso wenig, wie er den Heiler hatte leiden können.
»Du weißt, wer der Mann ist?« Necahual stand wie eine Raubkatze vor ihm, bereit zum Sprung. »Überlass ihn mir. Ich weiß ihm ein Ende zu bereiten, das seiner würdig ist.«
»Nur unter einer Bedingung!«, entgegnete Volodi kühl.
Die letzte Gabe
Tiefer Trommelschlag grollte in der weiten Höhle. Es war ein Ton, der etwas in Volodis Innerstem vibrieren ließ. Fast so, als griffe eine unsichtbare Hand in ihn hinein, um etwas in ihm wach zu rütteln. Etwas, das besser verborgen geblieben wäre. Er schloss seine Fäuste. Die Krallen auf seinen Händen klickten leise. Er blickte zwischen den Zahnreihen des Jaguarhelms hinauf zur Tempelspitze. Den Kopf zu heben wagte er nicht. Er durfte nicht auffallen, stand er doch in der vordersten Reihe von mindestens dreihundert Jaguarkriegern.
Volodi hatte nicht gewusst, dass die Zapote über so viele dieser Bestien geboten, die fast all ihre Menschlichkeit abgestreift hatten. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des von Mauern eingefassten, künstlichen Sees, standen die Adlerkrieger mit gefalteten Flügeln. Sie waren noch zahlreicher als die Jaguarmänner.
Necahual hatte ihm die Rüstung eines Jaguarmanns verschafft und ihn in aller Heimlichkeit hier hinab in die Höhle gebracht. In jene Höhle, in der er einst hätte sterben sollen. Getötet von Quetzallis Hand. Sie hätte ihm nach dem Willen des Unsterblichen Acoatl und seiner Priesterschaft bei lebendigem Leib das Herz herausreißen sollen. Volodi zweifelte nicht im Mindesten daran, dass diese Bastarde das sofort nachholen würden, wenn sie herausfanden, wer sich in den Reihen der Jaguarmänner verbarg.
Verstohlen blickte er zu der Stufenpyramide am Ende des Sees, während er den Kopf stur geradeaus gerichtet hielt, so wie all die anderen Jaguarmänner. Auf der mittleren der sieben großen Stufen, zu denen sich das Bauwerk erhob, war ein Scheiterhaufen errichtet, groß wie ein Haus. Zuoberst lag eine zierliche Gestalt. Volodi wusste, dass Quetzalli in feinste Seide gewickelt worden war. Ihr schwarzes Haar war gekämmt und mit Duftölen behandelt. Wie ein weiter Fächer hing es über das aufgeschichtete Holz. Sie trug den schweren Goldschmuck einer Hohepriesterin.
Das Bild verschwamm Volodi vor den Augen. Er blinzelte gegen die Tränen an. Ihr hätte das hier gefallen, versuchte er sich zu trösten. Er wusste, dass sie all das hier schmerzlich vermisst hatte. Sie war ein Leben lang darauf vorbereitet worden, eine der wenigen Auserwählten zu sein, die nun auf der obersten Terrasse der Stufenpyramide erschienen. Vier Priesterinnen, ganz in Weiß, flankierten den Unsterblichen Acoatl, der seine Adlerrüstung trug. Neben dem Herrscher der Zapote stand ein nackter Mann mit einer mächtigen Federkrone. Er war von gedrungener, muskulöser Gestalt, ein Krieger. Als ihm ein Priester eine brennende Fackel brachte, reckte er sich und hielt die Fackel hoch empor. Dann schritt er mit katzenhafter Anmut die Stufen hinab. Trotz der Entfernung erkannte Volodi den blauschwarzen, stilisierten Jaguarkopf, der fast die ganze Brust des nackten Mannes ausfüllte. Es war Necahual.