Die Jaguarmänner in seiner Nähe zogen sich von ihm zurück.
Ein weiteres unverständliches Wort ließ die Meute davoneilen. Sie teilten sich vor ihm, als wäre er ein Fels in der Brandung. Jene, die an ihm vorüberhuschten, streiften ihn nicht einmal sanft.
Als der letzte Krieger im Tunnel verschwunden war, trat der Krieger aus der Nische.
»Bereust du es, ihn mir überlassen zu haben?«, fragte Quetzallis Bruder ruhig.
»Nein. Ich hätte mir gewünscht, dass es länger gedauert hätte.«
Volodi hatte Yuri vor drei Tagen am frühen Abend mit dem Befehl, feines Leinen für Verbände einzukaufen, auf den großen Stoffmarkt nahe der Goldenen Pforte geschickt. Er hatte gewusst, dass der Heiler von diesem Einkauf niemals zurückkehren würde. Necahual und einige andere Jaguarmänner hatten dem Heiler in einer dunklen Gasse aufgelauert und ihn in die Höhlen tief im Weltenmund verschleppt.
»Ich bin mir sicher, meine Schwester wird keine gnädige Gebieterin über Juh Ries Seele sein. Er wird den Tag verfluchen, an dem er zum ersten Mal zu ihr gekommen ist.«
»Ja«, sagte Volodi lahm. Die Befriedigung, die er im Augenblick von Yuris Tod empfunden hatte, war nun fast verflogen. Er fühlte sich leer. Und er fürchtete die leere Kammer, in die er zurückkehren würde. Noch hing dort Quetzallis Geruch in der Luft. Zumindest manchmal … Vielleicht wurde er auch verrückt und bildete es sich nur ein.
Der Unsterbliche griff unter das Jaguarfell und zog einen Dolch hervor, den er dort verborgen getragen hatte. Er reichte die Waffe seinem Schwager. »Quetzalli war überzeugt davon, dass diese Klinge verflucht ist. Sie hat mich eindringlich gebeten, sie nicht zu tragen. Damals habe ich es für dummen Aberglauben gehalten …« Er schwieg einen Augenblick lang und wünschte sich wieder einmal, er hätte auf sie gehört. Seit er Koljas Dolch an sich genommen hatte, war ihm alles verloren gegangen, was ihm im Leben wichtig gewesen war.
Necahual zog die Klinge zur Hälfte aus der Lederscheide und betrachtete sie lange. »Eine schöne Waffe.«
»Ich habe dich vor ihr gewarnt«, sagte Volodi matt. »Ich kann es nicht mehr ertragen, sie in meiner Nähe zu wissen. Hätte ich sie nur ins Meer geworfen, als ich gen Süden gereist bin. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen.«
»Ich werde sie einem unserer Feinde schenken.« Der Jaguarmann schob die Klinge in die Scheide zurück. »Ich glaube, ich weiß schon, wer sie sich verdient hat.« Er verneigte sich knapp. »Ich danke dir für diese überaus nützliche Gabe, Volodi, der über den Adlern schreitet. Und nun folge mir. Ich werde dich hinauf zu den Gärten führen, zu einer verborgenen Pforte in der Mauer, die unsere Tempelstadt umfasst. Wir wollen unser Glück nicht herausfordern. Es ist besser, wenn wir nicht zusammen gesehen werden.«
Träume aus Kristall
Artax fühlte sich zu schwach, um zu stehen. Er sah zu Shaya. Sie war bleich und ausgezehrt. Er sah ihr an, dass auch sie sich nicht erholt hatte, obwohl sie ihm schon seit zwei Tagen vormachte, dass es ihr wieder gut ging.
Sie beide warteten im kleinen Empfangssaal des Palastes auf Mataan, den er hierher befohlen hatte. Auf dem Thronpodest stand nun ein zweiter vergoldeter Sessel mit hoher Lehne für seine Königin. Artax wusste, dass es deshalb über kurz oder lang Ärger geben würde. Kein anderer Unsterblicher hatte eine Frau an seiner Seite, die so offensichtlich ihm gleichgestellt war. Es widersprach den Plänen der Devanthar. Sie wollten die Unsterblichen als über alle Menschen erhaben herausstellen. Eine Sterbliche an seiner Seite, die mit ihm herrschte, relativierte seine Einzigartigkeit. Artax würde sich diesem Streit stellen. Er wollte Shaya nie wieder verlieren.
Die doppelflügelige rote Tür öffnete sich. Mataan trat ein. Kaum, dass er über die Schwelle geschritten war, schlossen sich hinter ihm die schweren Flügeltüren. Der Satrap war sichtlich nervös. Außer ihm war niemand anwesend.
An den Thron gelehnt stand das Schwert, das Artax seinen Beinamen König Geisterschwert eingebracht hatte. Seit dem Erlebnis mit der Daimonin, die ihn und Shaya überfallen hatte, hielt er die Klinge stets in Griffweite.
Mataan ging schwer auf seinen Stock gestützt. Vom athletischen, sonnengebräunten Fischerkönig, der er einst gewesen war, war nichts geblieben. Seine Haut war bleich und wirkte teigig. Er war dick geworden. Und in seinen Augen stand Furcht. Dabei waren sie einmal fast Freunde gewesen.
Drei Schritt vor dem Thron hielt Mataan inne und versuchte niederzuknien.
»Bitte lass das«, sagte Artax sanft. Er erhob sich unter Schmerzen von seinem Thron und griff nach seinem Schwert. Auch Shaya stand auf. Vorsichtig hob sie das kleine, mit Perlmuttintarsien verzierte Kästchen aus ihrem Schoß. Seite an Seite traten sie vor Mataan, dem blanker Schweiß auf der Stirn stand.
»Es freut mich zu sehen, dass es Euch besser geht, Unsterblicher.« Sein Blick wanderte zu dem Schwert, das Artax in Händen hielt.
Trotz seiner unübersehbaren Furcht wich Mataan um keinen Zoll zurück. Manche Dinge hatten sich doch nicht geändert, dachte Artax zufrieden.
»Ich möchte mich auf ganz besondere Weise für die langen Jahre treuer Dienste bei dir bedanken, Mataan.« Er deutete zu Shaya, die dem Satrapen nun das kleine Holzkästchen entgegenhielt. »Der Löwenhäuptige hat mir gestern auf meinen ausdrücklichen Wunsch ein Geschenk für dich gebracht. Es soll dich für das entschädigen, was du für mich erlitten hast.«
Mataan nahm das Kästchen entgegen. Seine Hände zitterten, er hatte Schwierigkeiten, den Verschluss zu öffnen. Endlich klappte der Deckel auf. Auf weißer Seide lag ein grüner Kristall, halb so dick wie ein Kinderfinger. Verwirrt sah der Satrap zu ihm auf.
»Dies ist ein Stück Traumeis«, erklärte ihm Shaya. »Du wirst es in deinen Körper stoßen müssen, um es zu nutzen. Es wird dir ermöglichen, dich in den Mann zu verwandeln, der du einst warst. Einen Mann, der keinen Stock mehr braucht, auf den er sich stützt.«
Mataan wirkte unsicher. Er blickte auf den Kristall, dann sah er wieder sie beide an. »Ich weiß nicht …«
»Du musst es tun!«, beharrte Artax. »Du sollst wieder der Mann sein, der mich einst zur Pirateninsel Kyrna gebracht hat. Der, der sich im Steinhorst schützend vor mich warf und sein Leben für mich wagte. Es war mir eine Qual anzusehen, welch hohen Preis du dafür gezahlt hast. Wie du verstümmelt wurdest und nur noch ein Schatten deiner selbst bist.«
Mataans Hände zitterten noch stärker. »Der Kristall wird mir meine Kraft zurückgeben?« Seine Stimme bebte.
»Mehr als das, mein Freund. Er wird dich zu dem Mann machen, der du sein willst. Es sind deine Wünsche, die bestimmen, auf welche Art du dich veränderst. Ich weiß, dieser Kristall hat die Kraft, einem verstümmelten Mann einen Arm nachwachsen zu lassen. Er kann all deine Narben verschwinden lassen, ja, er vermag dir sogar eine jugendliche Gestalt zu verleihen, wenn du dies wünschst. Er erlaubt dir, alle Lasten, die Krieg und Alter uns aufbürden, abzustreifen.«
Mataan sah erneut auf den Kristall. Sein Antlitz war eine Maske des Zweifels.
»Ich weiß von Männern, die Zeugen einer solchen Verwandlung waren«, warf Shaya ein. »Es werden Tage voller Schmerzen vergehen, bis du dich neu erschaffen hast. Aber es ist nicht nur eine Geschichte. Es ist die Wirklichkeit.«
Der Satrap klappte das Kästchen zu. »Ich werde es tun, mein Gebieter«, sagte er steif, als würde er einem Befehl folgen. »Doch habe ich eine Bitte an Euch, Herrscher aller Schwarzköpfe. Gestattet mir, mich nach Taruad zurückzuziehen. Ich möchte es auf meiner Insel tun. Ich vermisse das Meer, die Möwenschreie, mit meinen Fischern hinauszufahren. Ich war zu lange in Nangog und an Eurem Fürstenhof in Akšu. Ich will die einfachen Freuden meiner Heimat genießen und unter den meinen sein.« Er senkte demütig den Blick. »Ich bin der Kämpfe und Intrigen müde geworden.«
Artax hatte das Gefühl, dass noch viel Unausgesprochenes in den Worten schwang. Wenn er ihn jetzt ziehen ließ, dann würde er Mataan nicht mehr wiedersehen. »Kehre heim, mein Freund.«