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Mit weit aufgerissenen Kiefern flog die Bestie ihr entgegen, und Bidayn sah voller Schrecken, wie die Konturen des geflügelten Löwen verschwammen. Er war schneller als sie. Der Gestank von schwelenden Federn stieg ihr in die Nase. Das Netz zog sich um Sonnenfänger zusammen. Sie musste ihn schützen! Entschlossen sprang sie vom Rücken des Adlers. Sie entließ ihn aus dem Zauber, so wie sie ihre Gefährten entließ, die durch das Weltentor geflogen waren. Nun ballte sie all ihre Kraft, um im Duell mit dem Löwen zu bestehen. Die Konturen der silbernen Bestie wurden wieder scharf. Sein Flügelschlag wurde langsamer. Sie hatte ihn übertrumpft! Das Schwert vorgestreckt, stürzte sie seinem offenen Rachen entgegen.

Der Aufprall war mörderisch. Ihr Schwert spaltete den Oberkiefer des Löwen. Kreischend bog das Metall auseinander. Tief im Kopf der mechanischen Kreatur sah sie, eingebettet zwischen gezahnten Rädern und mechanischen Teilen, etwas grün aufleuchten. Bidayn spürte, dass dies der Quell der Macht war, der das widernatürliche Leben der metallenen Kreatur speiste.

Aufgebogenes Blech schnitt in ihren Unterarm. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, in Flammen zu stehen. Das magische Netz hatte sie gefangen! Rauch stieg von ihren Kleidern auf. Sie schrie. Griff in den aufgeschnittenen Kopf des Löwen hinein. Scharfkantiges Metall schnitt ihr in die Finger, bis sie an etwas wie einem Bügel einen sicheren Griff fand. Mit der Linken riss sie ihr Schwert aus dem Metallschrott. Mit einem weiteren Schrei löste sie den Zauber. Der Silberlöwe machte noch ein paar schwache Schläge mit seinen weiten Schwingen. Dann erstarrten seine Flügel. Wind pfiff unter ihnen hindurch, als er sich in einer weiten Spirale abwärts drehte.

Panik ergriff die Menschen auf dem Platz. Die Tentakel, die Bidayn abgeschnitten hatte, stürzten unter die Lastenträger, Krieger und Karawanenführer. Sie begriffen, dass der große Silberlöwe ebenfalls mitten zwischen ihnen niedergehen würde, und stoben in alle Richtungen auseinander. Doch der Platz war völlig überfüllt. Maultiere keilten aus und stießen gnadenlos nieder, wer ihnen im Weg stand. Sklaven warfen die Bündel fort, die sie auf dem Rücken trugen. Doch für die meisten gab es kein Entkommen. Sie schlugen aufeinander ein, kletterten über Gestürzte hinweg. Sie sah, wie sich Krieger in weißen Umhängen um einen hageren Kaufmann scharten, der ein kleines Mädchen an sich drückte. Ein Hengst durchbrach ihren Schutzwall, und obwohl ein abgebrochener Speer aus der Flanke des Schimmels ragte, stürmte er mit unverminderter Kraft voran. Der Kaufmann und das Mädchen verschwanden unter seinem kräftigen Leib.

Hundert Tragödien sah Bidayn binnen eines Herzschlags. Und sie wusste, ihre eigene Tragödie würde gleich Teil des Dramas werden. Sie hatte keine Kraft mehr, noch einen weiteren Zauber zu weben. Und es gab keinen Fluchtweg vom Kopf des abstürzenden Löwen. Ihr blieb die Wahl loszulassen, um allein in die wogende Menge zu stürzen, oder mit dem Löwen zu fallen.

Die Schwingen der mechanischen Kreatur waren eingerastet. Waagerecht standen sie vom Leib des Löwen ab. Sie würden wie riesige Schwerter mitten in die Menge schneiden.

Bidayn lächelte. An diese Nacht würden die Menschenkinder sich noch lange erinnern. Sie würde nicht loslassen. Sie entschied, gemeinsam mit dem Silberlöwen unterzugehen.

Ein Schlag traf sie in den Rücken. Stechender Schmerz grub sich unter ihre Schulterblätter. Sie wurde hochgerissen. Flog wieder dem Albenstern entgegen. Bidayn ließ den Kopf in den Nacken sinken. Blut rann ihren Rücken hinab. Weite braune Schwingen verdeckten den Nachthimmel.

»Sonnenfänger«, flüsterte sie und rang darum, das Bewusstsein zu behalten.

Der Adler verspottete die Menschenkinder mit einem wilden Schrei. Vereinzelte Pfeile sirrten an ihm vorbei, als er in das Dunkel des magischen Tors flog.

Bidayns Augenlider wurden immer schwerer. Sie durfte nicht das Bewusstsein verlieren. Noch nicht! Sie musste Sonnenfänger den Weg durch das Netz der Goldenen Pfade weisen.

Letzte Worte

Volodi fühlte keinen Schmerz. Das war nicht gut. Er war in seinem Leben schon oft verwundet worden. Meist war im ersten Augenblick kein Gefühl da. Die Gefahr des Kampfes tilgte den Schmerz, vielleicht betäubte ihn auch die Wucht eines Treffers für kurze Zeit. All das hatte er schon erlebt. Aber wenn man am Boden lag, dann kam der Schmerz. Immer. Außer bei jenen, die sich vorbereiteten, zu ihren Ahnen zu gehen.

Er konnte den Wind in den Bäumen des Geisterhains hören. Das Rauschen war sehr deutlich. Neben ihm stand Quetzalli und redete auf Yuri ein. Er verstand nicht, was sie sagte. Es war nur ein gleichförmiges Dröhnen. Volodi verdrehte die Augen. Neben ihm hingestreckt lag Kolja. Er sah übel aus. Sein schönes, neues Gesicht war in der Mitte gespalten. Die Lippen seines alten Weggefährten bebten. Er versuchte zu sprechen.

Volodi wollte etwas sagen, brachte aber keine Silbe heraus. Er war einfach zu schwach.

Kolja sah, dass er nicht verstand. Er rollte sich auf die Seite. Bei den Göttern, sein Gesicht … Der Schwerthieb lief ihm über die Stirn, hatte sein linkes Auge zerstört und die Wange bis zur Mundhöhle aufgeschlitzt. Ein Teil seiner Wange hing herab. Volodi konnte sehen, wie sich Koljas Zunge im Mund bewegte, als er sprach.

»Die Zinnernen … musst helfen! Ich … versprochen.«

Der Unsterbliche war überrascht, dass Kolja seine Söldner so sehr am Herzen lagen. Immer noch war er zu schwach, um zu sprechen. Volodi versuchte, seine Worte in seinen Blick zu legen. Die Zinnernen könnten immer zu ihm kommen. Schon jetzt gab es am Ende der Festtafel in der großen Halle jeden Abend Gedecke für seine alten Weggefährten. Alle wussten, dass er Männer, die einmal für ihn gekämpft hatten, nicht vergaß.

»Dolch …«, stammelte Kolja. »Meinen Dolch! Nehmen … tötet Daimonen …«

Volodi begriff nicht. Was für ein Dolch? Warum hatte der Trottel den Dolch eben nicht benutzt? Volodi versuchte, sich an den Kampf zu erinnern. Er hatte die Daimonen nicht einmal richtig gesehen. Er war auf den Hof hinabgesprungen, und plötzlich war alles Licht verloschen. Er erinnerte sich an die Entsetzensschreie seiner Krieger. Und an ein merkwürdiges Geräusch. Wie leises Glockenklingeln. Dann hatte ihn der Hieb getroffen. Er war aus dem Dunkel gekommen.

Eine zarte Hand strich ihm über das Gesicht. Quetzalli kniete neben ihm. War er bewusstlos gewesen? Eben hatte sie doch noch mit Yuri gestritten. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sie zu ihm gekommen war.

»Du darfst dich nicht bewegen.«

Ihre Stimme klang seltsam, als wäre etwas in ihr zerbrochen. Ihr fehlte die Kraft, die er sonst immer so sehr an ihr bewundert hatte. Quetzalli mochte klein und zierlich sein, aber dieser erste Eindruck täuschte. Sie war härter als die meisten Männer, mit denen er in den Krieg gezogen war.

»Du wirst mir nicht verrecken!«

Volodi musste lächeln. Das war wieder Quetzalli, wie er sie kannte. Er verdrehte die Augen, um nach Kolja zu sehen. Blut und Speichel troffen seinem Freund aus dem Mundwinkel. Er zitterte am ganzen Leib. Sie mussten ihm helfen. Er durfte nicht sterben. Wenn das geschah, dann war sein Geheimnis um das Versteck des Traumeises auf immer verloren.

»Traum…«, stammelte Volodi und brach ab. Ihm fehlte einfach die Kraft.

Kolja sah ihn mit weiten Augen an. Er wollte etwas sagen. Seine Lippen formten ein Wort, das Volodi nicht kannte. Dann wurde sein Blick starr. Die Augen glasig. Das durfte nicht sein! So durfte es nicht enden. Warum tat niemand etwas? Kolja war einer der besten Krieger der sieben Reiche. Er durfte nicht so sterben. Nicht im Vorübergehen von einem Daimon getötet, den sie beide nicht einmal gesehen hatten. So endete das Leben eines Helden und Schurken nicht.

Volodi versuchte sich aufzusetzen.

»Nein!«, schrie Quetzalli auf.

Volodi sah an sich hinab. Ein tiefer Schnitt klaffte in seiner Brust. Dunkles Blut quoll aus der Wunde. Er spürte immer noch keinen Schmerz. Das war nicht gut, dachte er erneut und sah, wie immer mehr Blut aus ihm herausströmte.