Mataan seufzte erleichtert. Nachdem er sich verbeugt hatte, zog er sich demütig zur Flügeltür zurück. Das schwere Klacken seines Krückstocks war das einzige Geräusch, das zu hören war. Wieder öffneten sich die Türen wie von Geisterhand bewegt.
Als das Klacken draußen auf dem Flur verhallt war, setzte sich Artax auf die Stufen vor seinem Thron. Er wünschte, auch er könnte einfach so gehen. Aber das Versprechen, mit dem er Shayas Leben erkauft hatte, würde ihn für immer an sein Amt binden.
Die Prinzessin ließ sich an seiner Seite nieder und ergriff seine Hand. »Woran denkst du?«
Er lachte leise. »An den Geruch der Erde nach einem schweren Regen. An das Leben in einem Bauerndorf. Einfache Freuden …«
Shaya schürzte die Lippen. »Bauern … Sind das nicht alles Betrüger? Sie wollen für alles entlohnt werden. Wenn Nomaden ihre Herden an ihren Flüssen tränken, verlangen sie ein Stück Vieh. Gehört das Wasser nicht allen? Sie zerteilen das Land in kleine Stücke und wachen eifersüchtig darüber.« Die Reiterprinzessin schüttelte den Kopf.
»Und doch gäbe es ohne sie nicht das Mehl für eure Brotfladen«, wandte Artax ein.
»Man kann sich auch von Fleisch und Milch, Nüssen, Obst und Pilzen ernähren.«
»Nie wieder Brot oder Reis. Oder Hafer für die Pferde. Pferde, die mit Hafer gefüttert werden, laufen länger und ausdauernder.«
Shaya nickte widerwillig. Plötzlich grinste sie. »Ich ertrage dich als mürrischen Bauern, wenn du mich Pferde züchten lässt.«
Es würde niemals geschehen, und doch ließ ihn die Vorstellung lächeln. Allein darüber zu reden bereitete ihm schon Freude. Er dachte an Almitra zurück. Jene Frau, die es nur in seiner Vorstellung gegeben hatte. Als armer Bauer, ohne Hoffnung, jemals reich genug für eine Hochzeit zu sein, hatte er sie sich in Gedanken erschaffen und mit ihr endlose Zwiegespräche über das Leben, das er sich erträumte, geführt. Nun saß neben ihm eine wunderschöne Frau aus Fleisch und Blut, mit der er diese Gespräche führte. Sie war dickköpfig, altklug und zugleich doch auch weise. Und sie hatte ihm das Leben gerettet. Sie war so viel mehr, als Almitra je gewesen war. Vielleicht sollte er Augenblicke wie diesen mehr zu schätzen lernen, statt immer nur zu träumen.
Er nahm sie in seine Arme und küsste sie lang und leidenschaftlich.
Als sich ihre Lippen trennten, sah Shaya ihn verwundert an. »Wofür war das?«
»Dafür, dass es dich gibt.« Nie war er sich so bewusst gewesen, dass trotz aller Fesseln, die ihm auferlegt waren, die Wirklichkeit all seine Träume übertroffen hatte.
Lotussee
Nandalee zog an Sternauges Zügeln. Der Pegasus schwenkte in weitem Bogen nach Westen ab, fort von dem Lager, das sie in der Ferne entdeckt hatten. Von hier aus sahen die leuchtenden Zelte dort wie Laternen aus, die an einem Hang abgestellt waren. Hell strahlende Punkte in einer Landschaft, die sich in die Schatten der Dämmerung zurückzog. Der Abend brachte eine leichte Brise vom Meer, und doch war es immer noch bedrückend schwül. Nie zuvor war Nandalee so weit in den Süden gereist. Die Lotussee war bisher nicht mehr als nur ein Wort für sie gewesen. Ein Ort, um den sich vage Vorstellungen von seltsamen Völkern und Kreaturen rankten, die hier lebten. Bedrückende Fiebersümpfe, orgiastische Feste, bei denen nackte Nymphen in endlosem Reigen tanzten, während Kreaturen des Fleischschmieds – für die man im Norden noch nicht einmal Namen kannte – sich auf seidenbezogenen Lagern rekelten und den zierlichen Tänzerinnen zusahen. Zumindest zu Beginn der schwülen Nächte.
Der Lotussee fehlte die kalte Klarheit ihrer Welt. Niemals wäre Nandalee hergekommen, würde sich nicht hier ihre letzte Hoffnung verbergen. Der Dunkle hatte ihr gesagt, dass sie hier suchen sollte. Sie hatte ihm anfangs nicht glauben wollen, aber er wusste um alle Verstecke der Drachenelfen.
Sternauge fand einen Landeplatz auf einer breiten Schneise, die in das Buschland geschlagen war. Der Boden war hier zerfurcht, als wären riesige Krallenhände über die Erde gefahren. Nandalee sprang aus dem Sattel. Kurz untersuchte sie die Spuren. Baumstämme waren hier entlanggezogen worden. Bauholz? Sie hatte den Steinbruch nahe dem Lager gesehen. Die behauenen Blöcke. Aber es gab dort kein Bauwerk.
Die Elfe strich Sternauge über die Nüstern. »Warte hier auf mich, mein Großer. Bin ich bis zum Sonnenaufgang nicht zurück, fliegst du heim in den Jadegarten. Wenn der Dunkle erfährt, dass du ohne mich zurückkehrst, dann wird er wissen, dass ich in Schwierigkeiten bin.« Sie flüsterte ein Wort der Macht und öffnete Sternauges Verstand für ihre Befürchtungen.
Der große Hengst schnaubte nervös. Seine Ohren standen aufrecht. Mit weiten Augen sah er sie an. Er mochte es nicht, im Ungewissen zu warten. Er fürchtete nicht, mit ihr auf seinem Rücken in die Schlacht zu fliegen. Aber zu warten, ohne etwas tun zu können, war ihm zutiefst zuwider. Er war ein Kämpfer. Sie dachte daran, wie sie ihm das erste Mal begegnet war. Wie er für seine Herde gegen den Rotrücken gekämpft hatte, den gierigen Drachen, der die Pegasi an der Wasserstelle im Bainne Tyr, dem Milchland, der weiten Steppe nahe dem Jadegarten, angegriffen hatte.
»Mir wird nichts geschehen«, sagte sie mit fester Stimme.
Sternauge stampfte mit den Vorderhufen, als wollte er andeuten, dass er mitten in dieses Lager preschen würde, um sie herauszuholen, wenn sie nicht Wort hielt.
Nandalee klopfte ihm noch einmal mit der flachen Hand auf den Hals, dann schlich sie, tief zwischen die Büsche mit ihren schweren roten Blüten geduckt, zum Lager.
Die Albenkinder schienen sich sehr sicher zu fühlen. Es gab nur drei Wachposten, und die waren allesamt nicht sonderlich aufmerksam. An ihnen ungesehen vorbeizukommen war für die Elfe keine Herausforderung. Es war fast schon zu einfach. Lief sie vielleicht in eine Falle? Oder gab es hier schlicht keine Feinde, die es zu fürchten galt?
Nandalee duckte sich in ein Gebüsch am Rande des Lagers und beobachtete das Treiben dort. Nie zuvor hatte sie eine so gemischte Schar von Albenkindern gesehen. Stierhäuptige Minotauren gingen Seite an Seite mit Kobolden, die ihnen kaum bis zu den Knien reichten. Gedrungene Echsenmänner wateten in die großen Teiche, die auf dem terrassierten Hügelhang angelegt worden waren. Es sah aus, als würden sie sich dort im Schlamm zur Ruhe legen wollen. Hoch am Hügel, nahe den drei großen Kränen, die dort standen, entdeckte Nandalee einen Riesen. Er schwenkte einen gewaltigen Kupferkessel, der von dicken Eisenketten hing. Flammen schlugen aus dem Kessel, und Nandalee hatte das Gefühl, dass der Riese Signale an irgendjemanden draußen auf der Lotussee sandte, als wäre er ein lebendiger Leuchtturm.
Eine Gruppe kichernder Apsaras ging dicht am Versteck der Jägerin vorbei. Die Nymphen sahen fast aus wie Elfen. Sie waren etwas weniger zierlich und ihre Gesichter ein wenig runder. Sie trugen kurze weiße Kleider, die ihre Reize eher betonten als verhüllten. Durch den zarten Stoff schimmerte das rotbraune Bandag, mit dem sie ihre Leiber über und über mit schlangengleichen Glyphen beschrieben hatten. Nandalee erinnerte sich dunkel, was sie an der Weißen Halle über die Nymphen gelernt hatte. Es hieß, sie besäßen außergewöhnliche Kräfte als Heilerinnen und Seherinnen. Ihr größtes Mirakel aber waren die Schriftzeichen auf ihren Leibern. Wer sie zu entschlüsseln vermochte, dem blieben sie treu, bis der Weg ins Mondlicht die Entrückten auf immer von den Suchenden trennte.
Nandalee entschied, dass sie in diesem Durcheinander der Völker nicht sonderlich auffallen würde, auch wenn sie unter all den Bewohnern des Lagers keine einzige Elfe entdeckt hatte. Sie zog sich aus ihrem Versteck zurück und schlenderte dann über den Hauptweg ins Lager, als würde sie dazugehören. Neu eingekleidet in das weiße Prachtgewand einer Drachenelfe und mit dem großen Bidenhänder, den sie auf ihrem Rücken trug, hob sie sich deutlich von allen anderen ab. Einige Blicke folgten ihr, doch sprach sie niemand an.