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Nandalee vermied es, geradewegs auf das große blaue Zelt weiter oben am Hang zuzusteuern. Stattdessen blieb sie eine Weile bei einer Gruppe Kobolde stehen, die einen blutigen Hahnenkampf veranstalteten, kaufte für drei Kupferstücke an der Bräterei gleich nebenan den Schenkel eines Verlierers vergangener Kämpfe und sah eine Zeit lang einem fuchsköpfigen Kobold zu, der einem Minotauren zwei gekreuzte Äxte auf den Oberarm tätowierte.

Langsam, auf Umwegen, näherte sie sich dabei dem Zelt. Als sie nur noch wenige Schritt entfernt war, kauerte sie sich an einem der Teiche nieder, beobachtete die Dunstschwaden, die über dem dunklen Wasser trieben, und lauschte auf ein Gespräch mehrerer Apsaras, die sich vor dem Zelt über die Fortschritte beim Bau des Turms unterhielten, was Nandalee einigermaßen eigentümlich fand, denn es gab weit und breit keinen Turm zu sehen.

Irgendwo im Lager erklang das melancholische Spiel einer Hirtenflöte. Die Apsaras verstummten. Nandalee blickte über das trübe Wasser. Hin und wieder konnte sie ein einzelnes Augenpaar der Echsenkrieger im Mondlicht aufblitzen sehen. Sie lagen flach im Wasser wie Krokodile, die zwischen Wachen und Schlaf im Uferschlamm verborgen auf Beute lauerten.

Es war an der Zeit! Die Elfe erhob sich. Im Vorübergehen grüßte sie die Apsaras mit einem Kopfnicken, als wären sie alte Bekannte. Dann ging Nandalee zum Zelt. Vorsichtig spähte sie durch den Eingang. Ein schmales Feldbett, eine schlichte Kleidertruhe und ein großer Tisch, bedeckt mit Pergamenten, waren das einzige Mobiliar.

Noch einmal sah die Elfe sich um. Zur Flötenmusik hatte sich der Klang von Trommeln und Zimbeln gesellt. Das Lagervolk strebte einem großen Feuer im Herzen der Zeltstadt entgegen. Zwischen den Gestalten entdeckte Nandalee sich ekstatisch wiegende Tänzer. Niemand beachtete sie.

Sie würde im blauen Zelt warten, entschied die Jägerin. Dort war sie vor Blicken geschützt. Sie wollte kein Aufsehen erregen. Schließlich wusste sie nicht, wie ihre Auserwählte reagieren würde. Freunde waren sie nie gewesen.

Sie trat ein und blickte auf die Pergamente. Es waren Baupläne für einen großen, fensterlosen Turm. Verwundert betrachtete sie das Bauwerk und die vielen Skizzen für Schmuckelemente im Mauerwerk. Alle Zeichnungen waren mit Anmerkungen in einer kleinen, akkuraten Handschrift versehen. Turm der mondbleichen Blüten stand über dem Bauplan.

Plötzlich berührte sie eine kühle Hand im Nacken. Sie spürte einen kurzen Druck, wollte herumfahren, vermochte sich aber nicht mehr zu bewegen.

Die Meisterin

Es war ein Déjà-vu. Genauso wehrlos war Nandalee gewesen, als sie Ailyn gleich an ihrem ersten Tag dort vor der Weißen Halle begegnet war. Die Meisterin hatte sie gnadenlos mit dem Übungsschwert verdroschen. Nein, jetzt war es sogar noch schlimmer. Damals hatte sie zumindest noch die Illusion gehabt, sich wehren zu können. Sie hatte sich bewegen können. Jetzt stand sie wie versteinert. Kein einziger Muskel ihres Körpers wollte ihr noch gehorchen.

»Du erscheinst mit einem Schwert in meinem Zelt?«

Als Ailyn vor sie trat, konnte Nandalee nichts anderes tun, als sie anzusehen. Die Meisterin war feingliedrig und von zierlicher Gestalt. Ein wenig kleiner als Nandalee. Sie hatte sich mit Bandag bemalt, und so wie die Apsaras trug auch sie ein kurzes weißes Kleid. Doch ihrem knabenhaften Körper schmeichelte es nicht. Ihr Antlitz war hart, wie aus Granit geschlagen. Es gab keine weichen Rundungen in diesem Gesicht, nur gerade Linien und Winkel. Die Fähigkeit zu Gefühlsregungen schien das Leben aus diesen Zügen herausgemeißelt zu haben.

»Du bist mir vorhin im Lager aufgefallen. Außerordentlich frech, hier einfach reinzuspazieren.« Ailyn löste den Schwertgurt vor Nandalees Brust und nahm ihr die schwere Waffe ab.

»Todbringer.« Respekt schwang in Ailyns Stimme, als sie die Waffe auf ihren Kartentisch legte. »Wie ich hörte, hast du mit der Klinge so einiges angerichtet. Sollte ich nun auch einen Platz auf der langen Liste deiner Toten bekommen?«

Nandalee kämpfte gegen die Lähmung an, die Ailyns Berührung verursacht hatte. Zugleich wusste sie, dass es vergebens war. Die Wirkung würde noch mehr als eine Stunde anhalten, wenn Ailyn sie nicht aufhob.

»Eine Meuchlerin schleicht nachts in mein Zelt.« Ganz dicht trat Ailyn an sie heran. »Welchen Schluss sollte ich daraus wohl ziehen?« Sie lachte kalt. »Ich konnte mir nie erklären, ob Überheblichkeit oder Dummheit dein Handeln bestimmt, Nandalee. Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich überraschen?«

Sie legte ihr die Hand auf die Stirn. Ein ziehender Schmerz erwuchs in Nandalees Kopf. Es fühlte sich an, als würden glühende Fäden durch ihr Hirn gewoben, um sie dann langsam herauszuzerren. Ailyn versuchte, in ihren Gedanken zu lesen, um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Sollte sie nur! Das war nicht einmal den Himmelsschlangen gelungen. Nandalee hatte sich nie erklären können, warum nichts und niemand in ihren Erinnerungen zu lesen vermochte. Doch so war es schon immer gewesen.

Endlich zog Ailyn die Hand zurück. »Dieses Gerücht über dich stimmt also auch.«

Lag da ein Hauch von Bewunderung in ihrer Stimme?

»Du wirst mir also erzählen müssen, was du von mir willst. Fasse dich kurz. Meine Langmut ist äußerst begrenzt. Und versuche nicht, mich zu belügen, ich habe ein feines Gespür für Unwahrheiten. Solltest du hier sein, um mich zu ermorden, machen wir nicht viele Worte. Dann schlage ich ein Duell vor. Ich hoffe, du hast dazugelernt, seit du zum letzten Mal vor mir im Dreck gelegen hast.« Ailyn griff ihr erneut in den Nacken. Ein zweiter leichter Druck, und die Erstarrung endete. Die Meisterin trat einen Schritt von Nandalee zurück. Sie war bereit zu kämpfen.

Nandalee konnte die überhebliche Elfe nicht leiden, und doch kniete sie nieder. Sie könnte kaum eine mächtigere Verbündete für ihre Reise ins Ungewisse finden. Alles, was einmal zwischen ihnen gewesen war, musste nun hintanstehen.

»Ich bin hierhergekommen, um dich um deine Hilfe zu bitten, Ailyn, denn ich kann auf die Unterstützung von niemand anderem mehr zählen.« Die Worte waren wie Glassplitter auf ihrer Zunge. Sie sprach langsam und stockend. »Der Dunkle weiß, dass ich zu dir gehe, und er hat mir dringend davon abgeraten. Die Himmelsschlangen werden mir nicht ihre Unterstützung gewähren. Ich muss nach Nangog. In den äußersten Norden. Noch weiter als jene Stadt Wanu, in der du gekämpft hast. Alle haben mich davor gewarnt. Vor der ewigen Dunkelheit, der tödlichen Kälte, den Grünen Geistern und noch etwas Anderem, Unsichtbarem, das dort über die Eisebenen zieht, um jedem Tod und Verderben zu bringen. Ich will dort das Traumeis ernten. Ich brauche es für meinen Sohn Meliander, der verstümmelt geboren wurde, und für meinen Freund Eleborn, der durch meine Schuld ebenfalls zum Krüppel wurde. Verlange von mir, was immer du willst, Ailyn, aber bei den Alben, schenk mir deine Hilfe.«

»Ich habe den Apsaras versprochen, ihnen einen Turm tief im Meer zu errichten. Einen Turm, gebaut für die Ewigkeit. Mehr als siebenhundert Albenkinder sind hier versammelt. Ich soll sie alle verlassen, um jemandem einen Gefallen zu tun, den ich nicht einmal mag?« Die Elfe schnaubte verächtlich. »Glaubst du, ich werde all dies aufgeben, um dir zu helfen? Für wen hältst du mich?«

»Ich halte dich für eine Kriegerin, Ailyn. Vielleicht bist du die bedeutendste Kämpferin, die die Weiße Halle je hervorgebracht hat. Und du würdest es nicht für mich tun, sondern für Meliander und Eleborn.« Nandalee wusste, dass Ailyn Eleborn gemocht hatte. Meliander hatte die Meisterin nie gesehen.

»Stimmen die Geschichten, die man über deinen Sohn erzählt?«, fragte Ailyn unvermittelt.

Nandalee sah überrascht auf. »Welche Geschichten?«

»Die, dass er in deinem Leib verstümmelt wurde. Dass ihn dort etwas angegriffen hat …«

»Woher weißt du davon?«

»Düstere Geschichten reisen auf nimmermüden Flügeln. Und jetzt steh auf. Du bist keine Schülerin mehr. Wir haben den gleichen Rang.«

Nandalee erhob sich. »Wirst du mit mir kommen?«