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»Bist du dir sicher, dass das Traumeis deinem Sohn helfen kann?«

»Es hat einem verstümmelten Menschensohn den Arm nachwachsen lassen.«

Ailyn machte eine wegwerfende Geste. »Geschichten.«

»Ich weiß es aus den Erinnerungen eines Unsterblichen!«, begehrte Nandalee auf. »Das Traumeis ist so machtvoll, dass die Devanthar es an sich genommen haben und es nun im Gelben Turm verwahren.«

»Aber dort willst du nicht hin.«

»Nein, ich weiß, wo die Menschenkinder die Kristalle geerntet haben. Es ist ein von Geistern heimgesuchter Ort mitten im Nichts. Also, wirst du mit mir gehen?«

Ailyn wiegte den Kopf. »Ich bin bei Weitem nicht so versessen darauf zu kämpfen, wie man mir nachsagt. Und ich habe nicht viel übrig für Verzweiflungstaten. Du bist in meinem Lager nicht willkommen, Nandalee. Entferne dich nun. Ich brauche einen Tag Bedenkzeit. Dann werde ich dir mitteilen, wie ich mich entschieden habe. Bis dahin bleibt dein Schwert hier. Ich werde es mitbringen, wenn ich zu dir komme.«

Nandalee wollte aufbegehren, doch ein einziger Blick der Meisterin brachte sie zum Schweigen. Ein einziges falsches Wort mochte ihre ohnehin schon geringe Hoffnung ganz zerstören. Es gefiel Ailyn offensichtlich immer noch, sie zu quälen. Also schluckte die Jägerin ihren Ärger und zog sich zurück.

Der Tag der Närrinnen

Sie war unheimlich. Nandalee blickte zur Seite. Ailyn flog nur wenige Schritt neben ihr. Das grüne Licht, das über den Nordhimmel tanzte, ließ ihr ohnehin schon fahles Gesicht noch blasser aussehen. Nicht einen, drei Tage hatte sie sich Zeit gelassen, und sie hatte kein Wort darüber verloren, warum sie sich letztlich entschieden hatte, mit ihr zu kommen. Ailyn hatte ihr einfach Todbringer überreicht und gesagt: Gehen wir. Das war alles gewesen.

Die Meisterin war vorbereitet gewesen. Sie hatte Nandalee zum nächsten Albenstern geführt, und sie hatte gewusst, welchen Weg sie durch das Goldene Netz nehmen mussten, um so weit wie nur eben möglich nach Norden zu gelangen. Nun flogen sie über die Eiswüste unter einem Nordhimmel, der sich mit endlosen Bahnen grünen Lichts schmückte. Nandalee kannte diese Himmelserscheinung aus ihrer Kindheit in der Snaiwamark und Carandamon. Und dennoch – hier auf Nangog waren die Nordlichter anders. Sie wirkten intensiver.

Es waren drei breite Bahnen, die sich in schlangengleichen Bewegungen nach Norden zogen. Ganz so, als wollten sie ihnen den Weg weisen. Dorthin, wo der Abgrund lag, in den sie hinabsteigen musste.

Wieder blickte Nandalee verstohlen zur Seite. Ihre neue Gefährtin stand unbewegt auf dem Rücken einer schneeweißen Pegasusstute. Ailyn hatte das Gewand einer Drachenelfe angelegt. Das hautenge, hochgeschlitzte Kleid mit dem Stehkragen. Ihres war mit silberner Stickarbeit geschmückt. Auf dem Rücken trug sie ein gekrümmtes Schwert, das in einer weißen Lederscheide steckte. Ob sie es brauchen würde? Niemals würde Nandalee das Bild vergessen, wie Ailyn im Schnee zurückgeblieben war. Damals, in jener Nacht, als sie und Gonvalon gekommen waren, um sie vor den Trollen zu retten, und der Blaue Stern hoch am Himmel gestanden hatte. Als sie fliehen wollten, war Ailyns Pegasus getötet worden. Sie war allein und waffenlos unter den Trollen zurückgeblieben. Wie sie es geschafft hatte zu entkommen, hatte sie nie erzählt. Aber eines war gewiss. Sie brauchte keine Waffe. Sie war selbst eine Waffe.

Seitdem sie den Albenstern verlassen hatten, flogen sie schweigend nebeneinander. Nur einmal hatte Nandalee ein Wort der Macht gesprochen und um sich und Sternauge einen Kokon aus warmer Luft gesponnen, der die Eiseskälte des Winters von ihnen fernhielt.

Der Schlund, in den die Menschenkinder hinabgestiegen waren, konnte nicht mehr weit sein. Sie sollte euphorisch sein. Aber da war etwas im Wind … Sie wagte es nicht, Ailyn darauf anzusprechen, aus Furcht, sich lächerlich zu machen. Aber Nandalee hatte das Gefühl, dass etwas mit ihnen reiste. Unsichtbar im Sternenlicht. Etwas, das auf den Schwingen der Nacht ritt und zum Greifen nahe war, ohne sich zu zeigen.

Die Elfe spürte, wie nervös Sternauge war. Auch er schien es zu bemerken. Oder war es ihre Angst, die ihn unruhig werden ließ?

»Dort!«, rief Ailyn plötzlich und deutete nach Nordost. Ein schmaler Strich erhob sich senkrecht über die Eisebene.

Nandalee wusste aus Shayas gestohlenen Erinnerungen, dass es bei dem Abgrund eine Felsnadel gegeben hatte. Die Wolkenschiffer hatten der Heilerin davon erzählt. Ohne dass sie auch nur am Zügel gezogen hatte, schwenkte Sternauge auf den Felsen hin ab. Der Wind schien schärfer zu werden, als sie die Richtung änderten. Er heulte in ihren Ohren. War da eine Stimme, die ihr zuraunte? Nandalee verschloss sich gegen den Unsinn. So etwas gab es nicht. Sie hielt den Blick fest auf ihr Ziel gerichtet.

Es dauerte noch lange, bis die beiden Pegasi nahe der Felsnadel auf dem Eis landeten. In diesem seltsamen Licht über der spiegelnden Ebene waren Entfernungen schwer einzuschätzen.

Unmittelbar vor ihnen erhob sich eine primitive Unterkunft, die mit Segelplanen abgespannt war. Wie hatten die Menschenkinder hier nur überleben können? Nandalee sprang von ihrem Hengst und sah hinüber zu dem Trümmerhaufen am Fuß der Felsnadel. Es wäre genug Holz vorhanden gewesen, um Hütten zu bauen, die besser vor der Kälte geschützt hätten.

Sternauge schnaubte unruhig. Die Elfe strich ihm über den Hals. »Ruhig, mein Großer. Alles ist in Ordnung.«

»Nein, das ist es nicht!« Ailyn führte ihre Stute am Zügel heran. »Etwas ist hier und beobachtet uns.«

»Du spürst es auch?«

Die Meisterin sah Nandalee verwundert an. »Natürlich. Seit über einer Stunde.« Ailyn schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Aber wenn es sich nicht zeigt, hat es vielleicht auch Angst vor uns? Immerhin sind wir Drachenelfen. Vernunftbegabte Geschöpfe sollten uns fürchten.«

Sie hatte Humor! Nandalee konnte es nicht glauben. Die unnahbare Ailyn scherzte. Sie lächeln zu sehen war die beste Waffe gegen das, was da draußen war.

Schweigend gingen sie zum Krater. Von Raureif überzogen, stand ein primitiver Kran am Rand des Schlunds des bodenlosen Abgrunds, aus dem das Traumeis geborgen worden war. Das grüne Himmelslicht ließ die Innenwände des Kraters erkennen. Schnee lag auf schmalen Simsen. Kristalle vermochte Nandalee nicht zu entdecken.

»Da ist etwas im Wrack«, flüsterte Ailyn.

Die Jägerin blickte auf.

»Dort neben dem geborstenen Mast, wo der Rumpf aufgerissen ist. Ich konnte nur kurz einen Schattenriss sehen, aber es ist groß.«

Nandalee vermochte nichts Verdächtiges zu entdecken. Nur steif gefrorene Taue und zerfetzte Segelplanen, die sich im Wind bewegten. Aber da war ein Wispern. Gewiss war das nur der Wind, der durch geborstene Spanten und zersplitterte Planken strich, sagte sie sich und wusste es doch besser.

»Bist du sicher, dass du das für deinen Sohn willst?«

»Was?«

Die Meisterin deutete auf den in sich zusammengesunkenen Hautsack, umwunden von vertrockneten Tentakeln, der von der Felsnadel hing. »Wird Meliander das durchmachen müssen, wenn du ihn mit diesen Kristallen heilst? Wird er wie ein Schmetterling aus der Larve seines alten Körpers schlüpfen? Was wird er erleiden, bevor es so weit ist? Und wird das, was da schlüpft, wirklich noch dein Junge sein?«

»Es ist anders …«

»Und woher weißt du das? Hast du es gesehen?«

»Die Heilerin. Sie hat Männern geholfen, die Zeugen waren. Sie haben gesehen, wie einem Verstümmelten ein Arm neu gewachsen ist.«

»Das ist alles.« Ailyn sprach leise, resignierend. »Gestohlene Gedanken. Erinnerungen an Geschichten …«

»Das wusstest du doch schon zu Beginn unserer Reise. Was hat sich für dich geändert?«

Die Meisterin deutete erneut auf den riesigen Hautsack am Felspfeiler. »Das dort! Woher nimmst du die Gewissheit, dass nicht so etwas mit deinem Sohn geschieht?«

»Es gibt keine Gewissheit. Nur verzweifelte Hoffnung. Du weißt nicht, wie es ist, Meliander jeden Tag so zu sehen. So …« Nandalee stockte. Sie vermochte ihre Gefühle nicht in Worte zu fassen.