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»Nein, ich weiß nicht, wie es ist, Kinder zu haben.« Ailyns Stimme klang fremd. Weich. »Ich kann mir nicht vorstellen, was du leidest. Ich sehe nur, dass deine Vernunft aussetzt. Er ist dein Sohn, und er lebt. Wie kannst du ernsthaft erwägen, ihm dieses Traumeis zu geben, ohne sicher zu wissen, ob es ihm helfen wird?«

Nandalee verschloss sich vor Ailyns Worten. Sie würde das Traumeis finden. Und dann würde sie es Eleborn geben. Bislang hatte sie sich vorgemacht, dass sie an ihm ihre Schuld abtragen wollte. Aber vielleicht war das nur die halbe Wahrheit. Vielleicht wollte sie sehen, wie es an ihm wirkte, bevor es Meliander bekam.

Etwas bewegte sich im Schiffswrack. Zwischen den gebrochenen Spanten trat eine Gestalt hervor, die sich auf einen Speerschaft stützte. Hinkend kam sie auf sie zu. Ein Menschensohn von kleiner, gedrungener Statur. Seine Bewegungen wirkten seltsam. So, als fiele es ihm schwer, seine Glieder zu beherrschen und in Harmonie miteinander wirken zu lassen. Er trug einen zerrissenen Wickelrock, der im Wind flatterte. Auf sein abgewetztes Lederwams war eine stilisierte Schwalbe gestickt.

»Vorsicht«, flüsterte Ailyn und zog ihr Schwert.

Jetzt sah es auch Nandalee. Das Gesicht des Manns. Es war zur Hälfte weggerissen. Lippen und Wange fehlten auf der rechten Hälfte. Es war nur noch blanker Knochen übrig, und sein Kiefer hing, als wäre er im Gelenk gebrochen.

Nandalees Rechte schnellte zum Griff von Todbringer, der über ihrer Schulter aufragte.

Der Wind erstarb. Das Raunen, das darin gelegen hatte, verstummte.

Ich grüße euch. Das Ding, das auf sie zukam, sprach! Nein. Es bewegte den Mund, aber die Bewegung seiner zerfetzten Lippen passte nicht zu den Worten. Die Stimme war in ihrem Kopf!

»Wer bist du?«, fuhr Ailyn die hinkende Kreatur an.

Eine gute Frage. Was du hier siehst, diesen Körper, er heißt Nabor. Ach, sie machen uns so wütend, diese Menschenkinder. Unvorstellbar, wie schlecht sie mit ihren Leibern umgehen! Das Ding schüttelte den Kopf, der auf groteske Weise hin und her pendelte. Diesen hier haben sie einfach in den Abgrund geworfen. Ihr hingegen habt schöne Leiber. Auch diese Flügelpferde gefallen meinen Brüdern und Schwestern sehr gut.

Trotz des Zaubers spürte Nandalee, wie es kälter wurde, als die Kreatur sich näherte. Ihre Augen sahen aus wie zerschrammtes Eis. Sternauge hinter ihr schnaubte ängstlich. Auch Ailyns Stute scheute.

»Was willst du von uns?« Nandalee zog ihr Schwert. Der Fremde war jetzt kaum mehr als fünf Schritt entfernt. Auf diese Distanz konnte die Elfe deutlich erkennen, wie zerschunden der Körper war. Sein linker Oberarm war gebrochen. Der Knochen ragte aus dem gefrorenen Fleisch.

Eure Götter haben verhindert, dass unsere Mutter uns die Leiber schenken konnte, die sie schon für uns erschaffen hatte. Nun, nach Jahrhunderten, waren eure Götter zumindest so freundlich, uns ein paar andere Körper zu schicken.

»Glaubst du wirklich, du kannst dir meinen Leib nehmen?«, fragte Ailyn herablassend.

Ja.

Die Eisaugen hatten etwas an sich, das Nandalee zutiefst erschauern ließ. Diese Kreatur war fest überzeugt, dass sie siegen würde.

»Wir wollen nur ein paar Kristalle aus dem Abgrund holen. Wir werden nicht lange bleiben.«

Nicht? Das zerstörte Antlitz verzog sich zur Parodie eines Lächelns. Ihr werdet sehr tief hinab müssen. Falls es überhaupt noch Traumeis gibt. Die Menschenkinder waren sehr gründlich. Danach haben wir alle Kristalle zerstört, die wir noch finden konnten. Aber wer weiß … Wenn ihr sehr lange Seile und viel Geduld habt …

Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! »Du wirst dich nicht an den Werken deiner Göttin vergangen haben!«, fuhr Nandalee ihn an.

Nicht? Du würdest dich wundern, was enttäuschte Geister tun. Jetzt bedauere ich es. Wir haben unseren Frieden mit Nangog gemacht. Sie wird jedem von uns einen neuen Leib geben. Sie beginnt zu wachsen. Bald wird sie überall sein.

Nandalee dachte an ihre Begegnung mit der Riesin. Sie hatte Augenwimpern, groß wie Festungstürme, gehabt, und jetzt wollte sie noch weiter wachsen? Was sollte das bedeuten?

»Wenn du deinen wunderbaren Körper behalten willst, solltest du dich nun verziehen«, drohte Ailyn.

Der geschundene Leib wippte nach vorn wie eine Puppe, die man an Fäden tanzen ließ. Was er da aufführte, sollte wohl eine Verbeugung gewesen sein. Wir sind immer ein wenig näher, als ihr denkt. Bald schon werden wir in euch wohnen. Wenn der Schlaf euch übermannt oder ein Schneesturm aufzieht und ihr die Hand nicht vor Augen seht. Wir werden kommen … Hinkend zog er sich zurück zum zerschellten Wolkenschiff. Bald war er ganz aus ihrem Blickfeld verschwunden.

»Wir sollten jetzt gehen!«, sagte Ailyn entschieden. »Hier gibt es nichts mehr zu finden.«

»Er lügt! Ich muss nur tief genug steigen …«

»Begreifst du es nicht, Nandalee? Sie haben das Traumeis zerstört! Er hat erst dann gesagt, dass sie vielleicht etwas übersehen haben, als ihm aufgegangen ist, dass wir gehen werden, wenn wir keine Hoffnung mehr haben. Sie wollen, dass wir bleiben, weil sie überzeugt sind, dass sie uns dann kriegen werden.«

»Vielleicht ist es so …« Im Grunde ihres Herzens wusste Nandalee, dass Ailyn recht hatte. »Und dennoch werde ich hinabsteigen. Ich könnte mir niemals verzeihen, wenn ich es nicht getan hätte. Solange der kleinste Funken Hoffnung besteht, werde ich ihm nachjagen. Dich aber entlasse ich aus allen Pflichten. Du sollst nicht dein Leben wagen, weil ich eine Närrin bin.«

Die Meisterin fluchte. »Los, steig hinab, bevor ich es mir anders überlege. Heute scheint der Tag der Närrinnen zu sein.«

Am Abgrund

Die Stimmen im Wind wurden lauter. Es waren mehr von ihnen hier. Ailyn blinzelte gegen das Schneetreiben an und gegen die Müdigkeit. Seit sie hier waren, war nicht ein einziges Mal die Sonne am Horizont erschienen, aber es mussten mehr als zwei Tage vergangen sein, da war sie sich ganz sicher. Der Zwillingsmond war vor ein paar Stunden zum dritten Mal aufgegangen. Seit ihrer Ankunft hatte sie kein Auge zugetan. Nandalee war in den Krater gestiegen, und sie hatte nichts mehr von ihr gehört. Lebte sie noch?

Leise verfluchte sich Ailyn dafür, dass sie sich auf diesen Unsinn eingelassen hatte.

War da ein neues Geräusch? Klang das Flappen der steifgefrorenen Segelfetzen anders? Es fiel ihr schwer, zum Schiffswrack zu blicken. Der Wind kam aus Richtung des gestrandeten Wolkenschiffs, und er trieb mit dem Schnee auch feine Eiskristalle vor sich her, die wie Nadeln in ihr Gesicht und ihre Augen stachen.

Manchmal drehte sie ihr Antlitz mutwillig in den Wind. Der feine Schmerz hielt sie wach. Immer wieder fielen ihr für zwei oder drei Herzschläge die Augen zu. Das war, worauf die Geister warteten.

»Nandalee!«, rief sie aus Leibeskräften in den Abgrund hinab. »Komm zurück!« Ihre Stimme brach sich in Dutzende Echos. Sie lauschte. Wieder kam keine Antwort. Wo steckte die Jägerin? War sie in den Abgrund gestürzt? Es war eine Ewigkeit vergangen, seit sie das letzte Mal geantwortet hatte. Kurz danach hatte sie sich vom Sicherungsseil gelöst, um noch tiefer zu steigen. War Nandalee etwa gesprungen, um Nangog noch einmal zu begegnen?

Diese Elfe war verrückt! Das hatte sie schon gewusst, als sie ihr zum ersten Mal begegnet war. In jener Nacht, als die Jägerin nackt vor Heerscharen von Trollen durch den Schnee geflüchtet war. Ailyn war dagegen gewesen, sie in der Weißen Halle aufzunehmen. Sie hatte gehofft, dass Nandalee von sich aus gehen würde. Deshalb hatte sie sie auch in ihrem ersten Duell so gnadenlos mit dem Übungsschwert verprügelt. Aber diese zähe, kleine Närrin gab niemals auf. Diese Eigenschaft hatte Ailyn von ihrer ersten Begegnung an widerwilligen Respekt vor Nandalee abgerungen. Sie hatte …

Der Kopf der Meisterin ruckte hoch. Er war ihr auf die Brust gesunken. Sie war eingeschlafen! Es konnte nicht länger als ein Augenblick gewesen sein. Argwöhnisch sah sie sich um. Waren da Spuren im Schnee?