Nein. Sie blinzelte. Wieder wollten ihr die Augen zufallen. »Nandalee!«
Nur die Echos antworteten ihr aus dem Abgrund.
»Bald holen wir dich.«
Die Stimme klang im Wind. Wie machten sie das? Gab es noch andere Kreaturen als den besessenen Menschensohn, der sie bei ihrer Ankunft aufgesucht hatte? Sie sollte in dem Schiffswrack nachsehen, um sich endlich Gewissheit zu verschaffen. Aber dann müsste sie die Pegasi unbeaufsichtigt lassen. Und die Kreatur hatte ja gedroht, dass sie auch die Leiber der fliegenden Pferde begehrten.
Ailyn fluchte. Wie lange sollte sie noch warten?
Wieder rief sie Nandalees Namen. Und wieder erhielt sie keine Antwort.
Es schien mit jedem Augenblick kälter zu werden. Das mochte daran liegen, dass sie ihre Kräfte bis zum Rand des Zusammenbruchs strapaziert hatte. Der Zauber, den sie gewoben hatte, um sich vor dem tödlichen Frost zu schützen, verlor an Kraft. Schon zeigte sich Raureif im Gefieder der beiden Pegasi, die sie neben sich an den massiven Balken des Krans angeleint hatte, der über den Abgrund hinausragte. Die beiden Tiere drängten sich eng aneinander. Auch sie schienen noch nervöser als zuvor zu sein. Etwas ging dort drüben in dem Wrack vor sich.
Die Zwillingsmonde waren so klar zu sehen wie nie zuvor. Das ohnehin nur leichte Schneetreiben erstarb. Der Schatten des Felspfeilers fiel über den Abgrund. Mondstrahlen, die durch das Gerippe des Wolkenschiffs stachen, zeichneten ein scharf umrissenes Mosaik aus Schwarz und Weiß in den verharschten Schnee.
Sternauge schnaubte nervös. Beide Pegasi blickten unverwandt auf das Wrack. Ailyn konnte dort nichts entdecken.
Die Kälte nahm weiter zu, während das Doppelgestirn dicht über den Horizont wanderte. Jetzt stand es fast unmittelbar hinter dem Wolkenschiff. So schnell? War sie wieder eingenickt? Sie durfte nicht … Ailyns Blick gefror. Da, zwischen den Schatten der Spanten, die immer länger wurden, war eine Krallenhand.
Im Reflex zog die Elfe ihr Schwert und trat dem Schatten entgegen. Die Hand war verschwunden. Hatte sie sich das nur eingebildet?
Der Schatten des Wracks reichte nun fast bis zum Kran am Abgrund. Sie sollte nicht bleiben, bis er sie erreichte! Ailyn lachte auf. Was für ein absurder Gedanke. Gut, dass es keine Zeugen für ihre grotesken Ängste gab. Was hätte sie schon von einem Schatten zu befürchten!
»Nandalee!«, schrie sie aus Leibeskräften in den Abgrund.
»Lee … lee … lee«, hallten die Echos.
Apfelblüte, ihre Stute, stieß ein schrilles Wiehern aus. Beide Pegasi wichen, so weit es ihre Zügel erlaubten, vor den Schatten zurück.
Ailyn sah wieder die Krallenhand. Sie reckte sich zwischen den Schatten hindurch. Nur zwei Schritt war sie noch entfernt. Und die Schatten des Wolkenschiffs wurden immer länger.
Mit zusammengekniffenen Augen spähte die Elfe zum Wrack. Wenn es einen Schatten gab, dann musste dort doch ein Körper zu sehen sein, zu dem er gehörte. Aber da war nichts.
Ihr Atem stand ihr in dichten weißen Wolken vor dem Mund. Auf der Klinge ihres Schwertes bildeten sich Eisblumen. Ailyn spürte, wie ihr Herz schneller und schneller schlug. Wie sollte sie etwas bekämpfen, das unsichtbar war?
War es die Müdigkeit, die aus ihr so eine Mimose machte? Noch nie war sie vor einem Kampf geflohen. »Komm und stell dich!«, rief sie in Richtung des Wracks.
Leises Lachen lag im Wind. Eine Bö traf sie wie ein Schlag. Sie taumelte zurück, ängstlich darauf bedacht, nicht in die Schatten zu treten. Da war sie wieder, die Schattenhand. Ein Blinzeln lang nur, dann war sie verschwunden. Aber im Schnee blieben vier Furchen von Krallen zurück, als gälte es zu beweisen, dass die Hand mehr war als ein Schatten.
Die Kälte war vergessen. Sie musste diese Kreatur stellen! »Apfelblüte?«
Die Stute wendete den Kopf und sah sie an.
»Du bist mir in so viele Schlachten gefolgt. Ich habe dich immer beschützt. Vertrau mir.« Mit diesen Worten versetzte sie dem Pegasus einen Schlag mit der flachen Hand auf die Kruppe.
Die Stute machte einen Satz von ihr fort und trat in die langen Schatten. Ailyn blieb an ihrer Seite. Da war sie, die Krallenhand!
Das Schwert der Elfe schnitt durch die Luft. Nichts! Kein Widerstand.
Die Schatten des Wracks griffen nach der Flanke von Apfelblüte. Sie keilte aus, wieherte … Dann war sie still.
»Also doch nichts«, murmelte Ailyn erleichtert. »Nur Hirngespinste.«
Apfelblüte wandte den Kopf. Augen aus zerschrammtem Eis blickten auf die Elfe.
Ailyn schnappte nach Luft. Blankes Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu.
Das Opfer
Das winzige Licht, das sie gerufen hatte, verlosch. Sie hatte ihre Zauberkraft erschöpft. All ihre Kräfte waren erschöpft. Sie krallte sich in den Fels. Todmüde … Sie durfte nicht schlafen. Nur ein paar Herzschläge einzunicken hieße zu sterben. Wenn sie sich entspannte, würde sie aus der Felswand stürzen. Weiter oben hatte es noch Hunderte von Höhlen und Felsnischen gegeben. Hier war nichts. Kein Ort, der ihr erlaubte zu ruhen.
Sie spürte einen leichten, warmen Luftzug, der aus der Tiefe heraufstieg. Nangogs Atem? Wie weit war die Riesin entfernt? Immer wieder hatte Nandalee daran gedacht, einfach loszulassen. Würde Nangog ihr zuhören, wenn sie sie ein zweites Mal besuchte?
Die Elfe hatte kein Traumeis finden können. Wie lange sie jetzt schon suchte, wusste sie nicht mehr. Sie blickte nach oben. Da war nur Schwärze. Nicht einmal ein blasser Abglanz der Sterne zeigte sich noch auf dem Gestein. Vorsichtig tastete ihre Rechte über den Fels, bis sie einen schmalen Riss fand. Sie schob die schmerzende Hand hinein. Ihre Finger waren wund von den endlosen Stunden, die sie geklettert war. Ihre Nägel längst gesplittert.
Nandalee spannte die Muskeln, zog sich hoch. Ihr linker Fuß tastete nach einem Halt. Quälend langsam kämpfte sie sich die Felswand hinauf. Sie war zerschunden. Der Krater hatte sie zerbrochen. Es gab kein Traumeis mehr. Ihre verzweifelte Suche war zu Ende. Hier gab es nichts zu finden außer dem Tod. Sie konnte Meliander nur noch ein einziges Geschenk machen. Sich! Sie würde ihm eine liebende Mutter sein, so gut sie es vermochte. Ihre Träume würden hier zurückbleiben, so wie die Träume der Göttin, die in diesem Krater vor langer Zeit zu Eis geworden waren.
Verbissen kämpfte sie sich voran. Sie musste leben! Musste zurück zu ihren Kindern. Sie hätte erst gar nicht hierherkommen dürfen. Tränen hilfloser Wut standen ihr in den Augen. Sie hatte den Kampf einfach nicht verloren geben können.
Die Zeit floss träge. Es war ihr unmöglich zu sagen, wie lange der Aufstieg dauerte. Ihre letzten Kräfte waren aufgebraucht. Immer häufiger musste sie verharren. Sie stellte sich vor, mit dem Felsen zu verschmelzen, ein Teil von ihm zu sein. Nicht in die Tiefe zu stürzen … Ihre Kinder. Immer wieder sah sie ihre Gesichter vor ihrem inneren Auge, und dann schaffte sie es, erneut ihre Armmuskeln zu spannen und sich ein paar Zoll höherzuziehen, obwohl ihre Kraft längst aufgebraucht war.
Es waren Emerelle und Meliander, die sie aus der Dunkelheit bis zum Ende des Seils geleiteten. Erschöpft schlang sie es sich zweimal um den Leib.
»Ailyn.« Sie brachte nur heiseres Flüstern heraus. Unmöglich, dass die Drachenelfe es hörte. Aber sie vermochte auch nicht, noch weiter zu klettern. Energisch zog sie am Seil. Ailyn musste doch bemerken, wie es ruckte … Müde legte Nandalee den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum Sternenhimmel, der vom Kraterrand zu einem engen Kreis zusammengestutzt wurde. Ailyn war nirgends zu sehen. Nandalee ließ sich in das Seil sacken. Wie konnten der stets so aufmerksamen Drachenelfe die Bewegungen des Seils entgangen sein? Waren die Kinder Nangogs zurückgekehrt? Hatten die Grünen Geister Ailyn bezwungen?
Das Seil bewegte sich. Langsam wurde es nach oben gezogen. Nandalee war so unendlich erleichtert, dass sie sich erlaubte, ihre Augen zu schließen. Die Müdigkeit übermannte sie. Ihre Gefährtin holte sie aus dem Abgrund herauf. Sie war gerettet!