Quetzalli nahm ihn in die Arme und zog ihn zurück auf den Boden.
Ihm war schwindelig, obwohl er lag. Alles begann sich zu drehen, als habe er zu viel Bier und gebrannten Wein getrunken. Yuris Gesicht erschien über ihm. Der Heiler drückte ihm einen Lappen auf die Brust. Er redete auf ihn ein, doch Volodi hörte nichts mehr. Er sah nur noch den Mund Yuris auf- und zugehen. Sah, wie sich die Augen des alten Mannes vor Schrecken weiteten. Volodi musste lächeln. Das wäre schon verdammtes Pech, wenn zwei Unsterbliche unter seinen Händen den letzten Atemzug taten. Wer würde noch einen solchen Heiler haben wollen?
Dunkel umfing Volodi. Nicht einmal die Stimmen in seinem Kopf waren da, die ihn sonst so unablässig quälten. Die Welt war still geworden. Nun kam er doch noch, der Schmerz. Wie eine Welle schlug er über ihm zusammen, zerrte an ihm, lockte mit der Verheißung ewigen Friedens, wenn er aufhörte zu kämpfen. Volodi war so müde. Er dachte an all die Schlachten, in denen er gefochten hatte. An die Siege, die er gemeinsam mit Kolja für den Unsterblichen Aaron errungen hatte. Er hatte drei zinnerne Münzen von Aaron erhalten. Seine Schuld war getilgt. Er war frei.
Bei diesem Gedanken hörte er auf, gegen den Schmerz anzukämpfen. Seine Reise war lange genug gewesen. Jetzt wollte er Frieden.
Der verlorene Schatz
Volodi rang keuchend um Atem. Er versuchte sich aufzusetzen, wurde von starker Hand aber sofort zurückgedrückt. Er fühlte sich, als wäre er beinahe ertrunken. Jeder Atemzug war ein Kampf. Blinzelnd sah er sich um. Er war doch gar nicht im Wasser gewesen. Jetzt erinnerte er sich. Das Dunkel, die Daimonen …
»Du solltest hin und wieder die Rüstung tragen, die ich dir gegeben habe«, brummte eine tiefe Stimme. »Das würde dir einigen Ärger ersparen. Und anderen auch …«
Volodi wollte sich erneut aufsetzen, doch die mächtige Hand des Devanthar hielt ihn niedergedrückt. Der Große Bär hatte ausnahmsweise Menschengestalt angenommen. Die Erscheinung eines mächtigen Kriegers mit einem Leib wie ein Fass und gewaltigen Oberarmen. Schwarzes, kurz geschorenes Haar wucherte über einer niedrigen Stirn. Seine Augen hatten die Farbe von dunklem Waldhonig. Sein Bart war genauso kurz geschoren wie das Haupthaar. Er spross so dicht, dass nur wenig sonnengebräunte Haut zu sehen war. Eine breite, mehrfach gebrochene Nase beherrschte das Gesicht.
Volodi sah, wie zwei leblose Gestalten fortgetragen wurden. Er war nicht mehr auf dem Hof. Er lag am Boden neben einem Kamin. Ein Bärenfell war über seine Beine gebreitet. Quetzalli stand neben dem Devanthar. Sie sah schweigend auf ihn hinab. Neben dem Gott in Menschengestalt wirkte sie winzig.
»Wer war das?« Volodis Stimme war nur ein atemloses Flüstern.
»Zwei deiner Krieger. Ich habe mich bei ihrem Blut und ihrer Lebenskraft bedienen müssen, um dich aus der großen Dunkelheit zurückzuholen.«
»Wie sehr bedient?«
»Mehr, als gut für sie war«, entgegnete der Devanthar barsch. »Du warst ausgeblutet wie ein aufgebrochener Hirsch. Und viel besser ausgesehen hast du auch nicht. Deine Rippen waren eingeschlagen. Eine steckte in deiner Lunge … Das alles wäre nicht nötig gewesen. Die Rüstungen, die Langarm für euch Unsterbliche gefertigt hat, schützen vor diesen verdammten Elfenschwertern!«
»Du hast zwei meiner Männer getötet?«
Der Große Bär funkelte ihn wütend an. »Ich? Du warst es mit deiner blinden Unvernunft! Ich hatte keine Wahl. Ich konnte nicht schon wieder einen Unsterblichen verlieren. Ihr werdet lächerlich, wenn ihr verreckt wie die Fliegen.«
»Aber hättest du nicht einen anderen Weg …«
»Was weißt du von Magie, Volodi von Drei Eichen? Was weißt du davon, was ich zu tun vermag und was nicht? Wie immer im Leben ist es leichter, etwas zu nehmen, als etwas zu erschaffen. Ich habe den beiden das Blut und die Lebenskraft gestohlen, die du so leichtfertig vergeudet hast.«
Volodi wollte dieses Geschenk nicht. Er schüttelte matt den Kopf. Dann erinnerte er sich an Kolja. »Hast du meinen Kameraden auch gerettet?«
Der Große Bär runzelte die Stirn. »Welchen Kameraden?«
»Ein Krieger hat ihn besucht«, sagte Quetzalli. »Er ist mit dem seltsamen Wolkensammler gekommen, der über dem Palast ankert. Ich habe ihn nie zuvor gesehen.«
»Ich habe niemand anderen als dich von der Schwelle des Todes zurückgeholt«, brummte der Devanthar. »Was glaubst du? Dass es einfach ist, den Tod um seine Auserwählten zu betrügen? Selbst für uns Devanthar gibt es Grenzen. Warum hätte ich ihn retten sollen?«
»Er kannte ein Geheimnis …« Volodi hatte einen schalen Geschmack im Mund. »Er hat etwas gefunden … Etwas, das Träume wahr werden lässt und die Welt verändern wird.«
Der Bär lachte auf. Es war ein schreckliches, lautes Geräusch. »Die Welt verändern? Da wäre er wohl besser zu dem Unsterblichen Aaron gegangen. Die Welt verändern ist etwas für Wirrköpfe. Ein vernünftiger Mann begnügt sich damit, sie in Ordnung zu halten. Ich habe bisher an dir gemocht, dass du keine verrückten Ideen hattest. Hat sich das etwa geändert, Volodi?«
Volodi nahm sich Zeit für die Antwort, horchte in sich hinein. Dann nickte er. »Ja, ich werde suchen, was Kolja versteckt hat. Ich weiß nicht, wo ich beginnen muss, aber ich bin überzeugt, dass das Traumeis es wert ist, sein Leben dafür zu wagen.«
Der Devanthar schnaubte. Dann plötzlich brach er in schallendes Gelächter aus. »Du kannst nicht einmal aus eigener Kraft stehen und willst schon wieder dein Leben wagen? Du bist verrückt, Volodi von Drei Eichen. Aber es ist eine Art von Verrücktheit, die deine Männer lieben werden. Diese Nacht hat deinen Namen größer gemacht.«
»Was ist an meinen Taten groß gewesen? Sie haben mich niedergemetzelt. Ich habe nicht einmal gesehen, wer es war …«
Der Devanthar grinste breit. »Deine Männer erzählen diese Geschichte schon jetzt anders. Mit nichts als einem Hemd am Leib hast du dich einer ganzen Schar Daimonen entgegengeworfen. Du hast sie vertrieben. Und obwohl sie es versucht haben, konnten sie dich nicht töten. Du bist ein Held! Deshalb war es mir zwei Leben wert, dich nicht sterben zu lassen. Deine Männer sehen zu dir auf. Sie werden dir folgen, wohin auch immer du gehst, und dein Mut wird ihnen Kraft geben. Wir gehen in einen schrecklichen Krieg, der gerade erst begonnen hat. Drusna braucht einen Unsterblichen wie dich. Ganz Nangog braucht dich!«
Volodi wollte diese Last nicht tragen. Er wollte aufbegehren, doch Quetzalli legte ihm ihre Hand über den Mund.
»Er braucht Schlaf, und er ist dir dankbar, Sonne des Nordens.«
»Sonne des Nordens?« Aus dem Grinsen wurde ein breites Lächeln. »So hat mich noch niemand genannt. Der Name gefällt mir.« Er wandte sich ab und ging zur Tür. Neben der großen Truhe am Eingang verharrte er, hob etwas auf und schleuderte es auf Volodis Lager. Es war der Brustpanzer aus weißem Leder, den Langarm für ihn gefertigt hatte. »Wenn du das nächste Mal in die Schlacht ziehst, nimmst du dir gefälligst die Zeit, eine Rüstung anzulegen. Ich werde nicht jedes Mal zur Stelle sein, um dich zu retten, Volodi, und ich werde …« Der Große Bär stutzte, dann hob er den Dolch auf, der auf der Truhe gelegen hatte. »Woher hast du das?«
»Ein Geschenk«, sagte Volodi knapp. Er wollte nicht länger über Kolja sprechen. Er war nicht im Reinen mit sich und seinen Gefühlen. Er hätte Kolja die Zähne einschlagen sollen. Der Drecksack hatte ihn verraten – und dann kam er heute einfach hierher, um mit ihm das Geheimnis um das Traumeis zu teilen. Und er war, ohne zu zögern, hinter ihm auf den Hof gesprungen, um an seiner Seite gegen Daimonen zu kämpfen. Ausgerechnet er, der im Kampf gegen Daimonen seinen Arm verloren hatte. Er hätte oben auf der Terrasse stehen bleiben können. In dieser Schlacht hatte es für ihn nichts zu gewinnen gegeben, aber alles zu verlieren.
Kolja war ein elender Hurenbock gewesen. Und ein wunderbarer Freund. Es würde nie wieder einen wie ihn in seinem Leben geben, dachte Volodi bitter. Und er könnte keinem vernünftig denkenden Menschen erklären, was ihn und Kolja verbunden hatte.