Im Nichts
Der Hieb kam einfach zu schnell. Nyr wich ein Stück zurück, und dennoch schrammten die Krallen der löwenhäuptigen Kreatur funkenstiebend über seinen Schuppenpanzer. Er wurde nach hinten gerissen und trat über den Rand des Weges hinweg. Erschrocken keuchte er auf, ließ seine Axt fahren und versuchte, nach dem Goldenen Pfad zu greifen, doch es war zu spät. Er trieb ins Nichts. Ein Schrei kam ihm über die Lippen, ungewollt. Er ruderte mit den Armen, strampelte. Es half nichts – er glitt immer weiter ins endlose Dunkel.
Das also war das Ende! Er kämpfte gegen das Grauen an. Gegen die Verzweiflung. Er hatte sich immer vorgestellt, in einem ehrenhaften Kampf zu fallen. Und nun war er beiläufig vom Weg gestürzt. Wut übermannte seine Furcht. Und mit der Wut kam seine Fähigkeit, klar zu denken, zurück. Obwohl er das Gefühl hatte, wie ein Stein in einen bodenlosen Brunnenschacht zu stürzen, entsprach das nicht dem Bild, das sich seinen Augen bot. Der Goldene Pfad war nicht mehr als zehn Schritt entfernt. Und er selbst stürzte nicht senkrecht in die Tiefe, sondern trieb seitlich vom Pfad fort in die Finsternis.
Nyr versuchte es mit Schwimmbewegungen, doch er vermochte es nicht einmal, sich um seine eigene Achse zu drehen. Und natürlich half es auch nicht, mit den Armen zu rudern. Er trieb immer weiter vom Goldenen Pfad ab, ganz gleich, was er auch tat. Und so wie ihm erging es Dutzenden anderen. Sie schwebten in die unterschiedlichsten Richtungen davon.
Ein gellender Wutschrei ließ Nyr zurück zum Goldenen Pfad blicken. Dort griff Galar den Löwenhäuptigen an. Wütend drosch er mit seiner Axt auf den Devanthar ein und schaffte es, den Gott einen Schritt zurückzudrängen.
Nyr hielt den Atem an.
Die Klauen des Löwengottes fuhren nieder. Dem Schmied wurde die Axt aus der Hand geprellt. Er wurde an der Schulter getroffen. Krallen durchschlugen sein Kettenhemd und zerfetzten die Eisenringe. Dann hob der Löwenhäuptige seinen Freund mit einem wilden Brüllen hoch empor und schleuderte ihn ins Nichts hinaus.
Eine Spur unregelmäßiger, seltsam wabernder Blutstropfen folgte Galars Weg. Er trieb viel schneller davon als Nyr. Vielleicht lag es an der Wucht, mit der der Gott seinen Freund hinaus ins Dunkel geworfen hatte.
Wieder ruderte Nyr mit den Armen. Es geschah nichts! Er blieb auf der Bahn, die ihn in langsamem Flug von der Schlacht fortführte. Und mit jedem Atemzug entfernte sich Galar weiter von ihm.
Er hörte den Schmied fluchen, den feigen Katzenkopf verdammen. »Komm her und kämpf wie ein Mann mit mir, Pissmähne! Oder hast du Angst vor meinen Fäusten?«
Der Gott ignorierte Galar, der schließlich aufgab und seine Hand auf die Wunde an der Schulter presste.
Erschüttert sah Nyr, wie sich die beiden Devanthar immer weiter über den Goldenen Pfad vorarbeiteten. Es schien, als wäre es ihnen wichtiger, die Albenkinder ins Nichts zu stürzen, als sie zu töten. Immer mehr ihrer Krieger schwebten hilflos in der großen Dunkelheit. Sie würden verdursten, an ihren Wunden langsam verbluten oder vom Entsetzen, das das endlose Nichts jeder Seele einflößte, in den Wahnsinn getrieben werden. Die Götter der Menschen waren grausam! Sie gewährten ihnen nicht die Gnade eines schnellen Todes.
Nyr entdeckte unter sich zwischen den treibenden Kriegern auch Hornbori. Ihr Heermeister war eine auffällige Erscheinung. Er trug einen prächtigen Helm, der mit goldenen Adlerschwingen geschmückt war, und einen scharlachroten Umhang, der nun, da er im Nichts schwebte, wie eine Fahne hinter ihm wogte. Er war der Einzige weit und breit, der einen Umhang angelegt hatte. In der stickigen Hitze vor Temil war jedes unnötige Kleidungsstück nur eine Qual. Krieger, die nicht kämpfen mussten, hatten im Lager kaum mehr als einen Lendenschurz getragen. Etliche der Kobolde und die über und über tätowierten Minotauren waren sogar ganz nackt herumgelaufen. Nur Hornbori stellte das Bedürfnis, seinen Rang durch angemessene Kleidung zu zeigen, stets über sein Bedürfnis nach Bequemlichkeit. Galar nannte ihn deshalb einen eitlen Stutzer. Aber Hornbori war mehr als das. Auch wenn der Schmied es nie zugeben würde: Hornbori war ein Held! Die meisten Krieger, die ins Nichts gestürzt waren, schrien vor Entsetzen oder strampelten mit Armen und Beinen. Hornbori tat nichts dergleichen. Er hatte die Arme vor der Brust überkreuzt und war ganz ruhig. Eben ein Held, der gefasst seinem Schicksal entgegensah.
Ihr Feldherr vertraute offensichtlich darauf, gerettet zu werden! Sie sollten sich ein Beispiel an ihm nehmen, dachte Nyr aufgewühlt. Allein Hornbori mit seiner kalten Ruhe zu sehen gab ihm neuen Mut.
Sie würden hier herauskommen! Galar irrte sich in dem Heermeister. Hornbori war alles Erdenkliche, aber ganz gewiss kein Schisser!
Eine Göttin verführen
Hornbori war wie versteinert vor Entsetzen. Als diese schreckenerregende gefiederte Frau plötzlich aufgetaucht war, hatte er natürlich nicht nach seiner Axt gegriffen. Nur ein Narr legte sich mit Göttern an. Er hatte stattdessen die Arme über der Brust gekreuzt und versucht, sich vor diesem Flügelweib zu verbeugen. So hatte er es auf Wandreliefs der Menschenkinder gesehen. Es schien eine übliche Geste der Demut zu sein, wenn die Götter vor sie traten.
Leider hatte es nicht geholfen. Die Geflügelte hatte ihn mit einem Tritt in den Abgrund jenseits des Goldenen Pfades befördert. Wie einen Hund, der einem schnuppernd hinterherlief. Sie hatte nicht einmal ihre Waffe gegen ihn erhoben. Es war so schnell gegangen, dass er kein einziges Wort über die Lippen gebracht hatte.
Jeden Augenblick würde er auf etwas aufschlagen. Niemand wusste, was sich in der Dunkelheit neben den Goldenen Pfaden verbarg. Sicher scharfkantige Felsen, auf denen er zerschmettert würde. Allein der Gedanke daran erfüllte ihn mit kalter Furcht, die all seine Glieder durchströmte, als wäre er in Eiswasser gestürzt. Er war wie versteinert vor Entsetzen, ja, er konnte nicht einmal seine Panik hinausschreien. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und er glaubte an den Entsetzensschreien ersticken zu müssen, die von seiner Angst eingekerkert wurden.
Sieben lange Jahre war er als Heermeister in unzählige Schlachten gezogen. Und obwohl seine Männer in Scharen um ihn herum gestorben waren, war es ihm dank größter Anstrengungen immer geglückt, unbeschadet davonzukommen und zugleich wie ein Held dazustehen. Nun erwischte es ihn also doch noch. Dabei war er schon fast in Sicherheit gewesen … Hornbori hatte viele Geschichten über das Sterben gehört. Schließlich half es, gut informiert zu sein, wenn man dem Tod aus dem Weg gehen wollte. Alles um ihn herum schien langsamer geworden zu sein. Der Tod gab ihm noch ein bisschen Zeit, um seine Angst voll und ganz auskosten zu können. All die anderen Zwerge, die er sah, stürzten träge. Es war mehr so, als würden sie durch Wasser langsam auf den Grund eines finsteren Ozeans sinken. Er sah den dicken Ulur. Er schrie sich die Lunge aus dem Hals. So hatte sich der Schiffsführer seinen Abgang gewiss nicht vorgestellt.
Und da war noch etwas. Eine bedrohliche Gestalt mit Haaren, die in dicken Strähnen über die Schultern wogten. Eine Göttin, halb nackt und bewaffnet mit einem langen Speer, auf dem ein mächtiges Schwertblatt steckte. Sie stürzte nicht, sie flog, obwohl sie keine Flügel besaß! Dieses Miststück stach die Todgeweihten mit ihrer Klinge an und lachte! Jetzt hatte sie ihn entdeckt. Sie deutete mit der Spitze ihrer Waffe auf ihn. Und nun erkannte Hornbori, was mit ihrem Haar los war. Das waren keine dicken Strähnen! Der Göttin wuchsen lebende, sich windende Schlangen aus dem Kopf. Und sie hatte sich ihn als ihr nächstes Opfer auserkoren!
Plötzlich war die eisige Lähmung vergessen. »Du machst einen Fehler«, stammelte er, als sie nur noch wenige Schritt von ihm entfernt war. Sie musste ihn doch verstehen können, auch wenn er keine Sprache der Menschenkinder beherrschte. »Setzt mich auf den Weg, und ich verrate dir, wer unser Heerführer ist. Den wollt ihr doch sicher gefangen nehmen. Wenn ihr ihn ein wenig foltert, wird er ganz bestimmt jede Menge interessante Dinge erzählen können. Er ist ein Elfenfürst …«