»Die Sturmruferin ist tot!«, wiederholte Langarm seine Litanei. »Die Himmelsschlangen sind hier.«
»Bleib ruhig, Bruder. Sie haben sich noch nie in die Kämpfe eingemischt«, wandte das Lebende Licht ein.
Der Gefiederte hatte seinen Bruder, der sich so gerne als Lichtgestalt zeigte, nie sonderlich geschätzt. Er hielt ihn für überspannt, verweichlicht und den falschen Zielen zugewandt. Aber jetzt tat er endlich einmal das Richtige und half ihm. Es war eine verdammte Plage, alle dazu zu bringen, gemeinsam zu handeln. Es gab zu viele Intrigen, zu viele selbstverliebte Individualisten, zu …
Deutlich spürte der Gefiederte die fremde Macht, die nahte. Viele Präsenzen. Er spürte auch die Anspannung seiner Brüder und Schwestern. Er erhob die Stimme:
»Wir alle haben einen Plan gefasst. Und dieser Plan war gut! Lasst ihn nun Wirklichkeit werden! Niederlagen beginnen meist damit, von seinen einmal gefassten Vorsätzen wieder abzulassen. Gehen wir Drachen töten! Rächen wir unsere Schwester!« Ohne sich umzusehen, ohne ihnen Zeit für weiteres Wortgeplänkel zu lassen, flog er dem Albenpfad entgegen. Es war leicht, sich im Nichts zu bewegen. Man brauchte nur den Willen und ein wenig Zauberweberei.
Er freute sich auf den Kampf. Endlich hatten nicht nur Išta und der Löwenhäuptige ihren Spaß. Er hatte nicht verstanden, warum die beiden die Sturmruferin mitgenommen hatten. Sie war nie wirklich eine Kriegerin gewesen. Vielleicht war sie auf einige Drachenelfen gestoßen? Sie waren alle mit verwunschenen Klingen bewaffnet und konnten selbst einem Devanthar gefährlich werden.
Der Gefiederte näherte sich dem breiten Goldenen Pfad. Flüchtende Heerscharen zeichneten sich als Schatten darauf ab. Und dann sah er einen fahlgelben Drachen. Ein Hochgefühl überkam ihn. Er war ein Jäger, und solche Beute hatte er sich schon immer gewünscht! Der Devanthar fasste seinen Speer fester und beschleunigte seinen Flug. Vor Freude wie ein Adler schreiend, stürzte er auf den Drachen nieder, der in seinen Krallen einen Zwerg trug. Die Bestie versuchte auszuweichen, doch in elegantem Bogen folgte er ihrer Fluchtbewegung. Er umkreiste sie halb, zog die Beine an, als ein gieriges Drachenmaul nach ihnen schnappte. Dann schleuderte er seinen Speer. Die lange Spitze bohrte sich in eines der seltsamen Augen des Drachen. Wie klares Glas sahen sie aus, ganz ohne dunkle Pupille. Das Speerblatt zerteilte das vermeintliche Glas und verschwand tief im Kopf des Drachen, der im Todeskampf, von einem Krampf geschüttelt, den Zwerg zerquetschte, den er getragen hatte.
Zwei auf einen Streich, dachte der Gefiederte zufrieden, rief ein Wort der Macht und ließ den Speer zurück in seine Hand schnellen.
Einige seiner Brüder und Schwestern zogen es vor, sich auf die Albenkinder auf dem Goldenen Pfad zu stürzen. Für sie hatte er nichts als Verachtung übrig. Es war unwürdig, sich an Gegnern zu messen, die derart unterlegen waren. Er wollte jetzt einen großen Drachen. Einen Räuber, der über Jahrhunderte an Erfahrung verfügte. Er flog ein Stück den Weg entlang, lauschte dem Geschrei und genoss die Panik unter ihren Feinden. Viele Albenkinder sprangen jetzt freiwillig ins Nichts.
Plötzlich sah er Išta. Neben ihr schwebte der Löwenhäuptige. Beide winkten ihm zu.
»Wir haben uns geirrt!«, rief die Geflügelte. »Sie sind gekommen! Sieh nur! Dort!« Sie deutete mit ausgestrecktem Arm voraus. »Einer von ihnen – er ist noch zu weit entfernt. Benutze dein Verborgenes Auge, dann wirst du ihn sehen.«
Išta hatte recht. In der magischen Welt sah ihn nun auch der Gefiederte ganz deutlich. Die Aura der Himmelsschlange überstrahlte alles in seiner Nähe. Er war wie ein Mond unter Sternen. Gewaltig! Und er kam auf sie zu.
»Ich glaube, seine Brüder sind mit ihm gekommen«, knurrte der Löwenhäuptige. »Ich spüre sie. Sie sind weiter oben am Weg. Näher beim nächsten Albenstern.«
Der Gefiederte spürte nichts, aber er vertraute dem Löwenhäuptigen. Er verabscheute den rebellischen Unsterblichen, den sein Bruder sich erwählt hatte, doch davon abgesehen war er ein guter Jäger. Besser als die meisten; er hatte die Instinkte eines Raubtiers.
»Schnappen wir uns den Einzelgänger«, schlug Išta vor. »Fliegen wir zu ihm, packen ihn und springen zu dem Albenstern, durch den wir hierhergekommen sind. Dort können wir ihn in aller Ruhe abstechen, ohne dass seine Brüder ihm zu Hilfe kommen werden.«
Der Gefiederte dachte daran, wie er mit Išta und Langarm gegen den Purpurnen gekämpft hatte. Sein Bruder war dabei so schwer verwundet worden, dass ihm die Lust auf einen zweiten Kampf mit einer Himmelsschlange für alle Zeiten vergangen war. Auch wenn sie den großen Drachen von seinen Nestbrüdern trennten, würde es ganz gewiss nicht einfach werden, ihn abzustechen.
»Tun wir es«, entschied der Löwenhäuptige und flog mit Išta der Himmelsschlange entgegen. Kurz zögerte er, verärgert, dass die beiden nicht auf seine Entscheidung gewartet hatten. Dann folgte er ihnen doch. Er wollte nicht als Feigling dastehen. Zugleich spürte er die Panik der anderen Devanthar. Sie alle konnten nun spüren, dass nicht nur gewöhnliche Drachen, sondern auch die Drachengötter Albenmarks gekommen waren. Langarms panisches Geschwafel hatte sich als wahrhaftig gewordene Prophezeiung erwiesen.
Seine Brüder und Schwestern waren keine Feiglinge, doch schreckten sie davor zurück, unerwartet in den Kampf mit fast ebenbürtigen Gegnern zu treten. Ihr wunderbarer Plan war dabei, sich in eine katastrophale Niederlage zu verwandeln. Nur Mut konnte das noch ändern.
Der Gefiederte schloss das Verborgene Auge. Jetzt war die Himmelsschlange zu erkennen. Der Drache war vom Grün junger Frühlingstriebe. Auch er hatte sie entdeckt und begrüßte den Löwenhäuptigen, der ihm am nächsten war, mit einem Flammenstrahl. Sein Bruder wich den Flammen fast aus. Nur seine Mähne fing Feuer. Einen Herzschlag nur, dann erstickte ein Wort der Macht die Flammen.
Während Išta und der Löwenhäuptige versuchten, nach den Enden der Drachenschwingen zu greifen, hielt der Gefiederte auf den langen, schlangenhaften Hals des Ungeheuers zu.
Der Drache drehte sich um seine eigene Achse und versuchte, sie abzuschütteln. Dabei traf ein Schwanzhieb Išta. Die scharfen Schuppen zerfetzten ihr Gewand.
Diesen Moment nutzte der Gefiederte, streckte sich und berührte den Hals der Bestie. Zugleich wich er vor dem Kopf zurück, der sich zu ihm herabbeugte. So gelenkig der Drache auch war, vermochte er seinen Hals doch nicht so weit zu krümmen, dass die Fangzähne ihn erreichten.
»Jetzt!«, rief der Löwenhäuptige mit Donnerstimme.
Der Gefiederte umschlang mit beiden Armen den Drachenhals, vermochte ihn jedoch nicht einmal zur Hälfte zu umfangen. Fest dachte er an jenen Albenstern, an dem sie in das Nichts getreten waren, und sprach ein Wort der Macht. Es fühlte sich an, als würde ihn eine unsichtbare Riesenhand packen und ihn davonschleudern. Einen Lidschlag lang glaubte er, es müsse ihn zerreißen und sein Innerstes würde sich nach außen kehren. Dann war es vorbei. Er spürte die magischen Schwingungen des nahen Albensterns. Das kraftvolle Pulsieren.
Die Himmelsschlange bäumte sich auf. Sie stieß einen wilden Schrei aus.
Der Gefiederte konnte sich nicht länger an den glatten Schuppen halten. Er wurde davongeschleudert. Er sah, wie der Drache mit seinen Klauen auf den Löwenhäuptigen losging, der mit Zaubermacht einen Schild herbeirief, um sich zu schützen. Doch der Drachenzorn zerfetzte das Metall, und sein Bruder trug tiefe Wunden davon.
Išta versuchte, der Himmelsschlange ihren Speer in die Seite zu rammen, wurde aber von einem Flügelschlag weggefegt.
Der Gefiederte hob seine Waffe und schleuderte sie voller Zorn. Wütend rief er ein Wort der Macht, um den Flug seines Speers kraft seines Willens zu lenken. Die Waffe beschrieb einen weiten Bogen und raste auf die Drachenbrust dicht unterhalb des Halsansatzes zu. Die Spitze des Speers erglühte durch die zornbebende Zaubermacht.