Augenblicklich reagierte der Götterdrache. Er spie ein Wort der Macht, und der Gefiederte spürte, wie sich die Echse der Magie bediente, die durch den nahen Albenstern floss, um seinen Zauber zu stärken.
Hunderte lindgrüne Schuppen lösten sich vom Drachenleib, sodass es aussah, als zerrte ein plötzlicher Sturmwind das Laub von einem Frühlingsbaum. Sie warfen sich dem Speer entgegen, ließen sich aufspießen und durchbohren, um den Flug der Waffe aufzuhalten.
Ihr Duell war zu einem Kampf des Willens geworden. Auch der Gefiederte griff nun nach der Zaubermacht, die das Goldene Netz erfüllte, und lenkte sie in seinen Speer. Er musste sein Ziel finden, durfte sich nicht aufhalten lassen. Unerbittlich durchdrang er Schuppe um Schuppe.
Eine neue Nuance wandelte die Magie des Drachen. Weitere Schuppen rissen von seinem Leib. In torkelndem Flug, gleich dem von Schmetterlingen, rasten sie dem Gefiederten, aber auch den beiden anderen Devanthar entgegen. Schon erreichte die erste von ihnen ihr Ziel. Auch wenn sie für den flüchtigen Beobachter wie Falter aussahen, waren es doch immer noch Drachenschuppen. Sie streiften das Antlitz des Gefiederten und zogen tiefe Schrammen über seine Wangen. Im Reflex schloss er die Augen.
Dann folgten Hunderte von ihnen. Sie zerfetzten sein Federkleid, zerschrammten seinen Schnabel und schlitzten seine Augenlider, als er sie schloss, um sich vor dem Sturm der messerscharfen Schuppen zu schützen.
Er hörte das Schmerzensgeheul Ištas und die Flüche des Löwenhäuptigen. Erbarmungslos zerfetzten die Schuppen sein Gefieder, schnitten in sein Fleisch – doch er schwieg.
Er könnte die Schmerzen beenden. Er müsste seine Macht nur nutzen, um sich zu verteidigen, statt anzugreifen. Doch das wollte er nicht. Er wollte siegen. Um jeden Preis! Also verdrängte er den Schmerz und konzentrierte sich ganz und gar auf den Speer. Er drückte ihn vorwärts, gegen den Sturm aus Schuppen, gegen den Willen der Himmelsschlange, und er spürte, wie die Spitze der Waffe das Fleisch des Drachen berührte, wie der glühende Stahl eindrang, wie das Drachenblut zu kochen begann und als heißer Dampf aus der Wunde austrat.
Sein eigenes Gesicht war inzwischen bis auf die Knochen abgeschält. Sein Schnabel nur noch ein trauriger Stumpf. Die Schuppenschmetterlinge zerschnitten seine Augen, bis glasiger Gallert aus den Augenhöhlen trat. Der Schmerz überschritt jedes Maß, das er gekannt hatte. Der Drache oder er. Nur wenige Herzschläge trennten sie beide vom Tod. Die Schuppen schrammten über den Knochen seines Schädels.
Er war ein Gott, er hatte die Welt der Menschen erschaffen! Er würde auch sich neu erschaffen, wenn er weiterlebte. Es war so verlockend nachzugeben. Ein Gedanke und ein geflüstertes Wort und er wäre in Sicherheit.
Gnadenlos trieb sein Wille den Speer tiefer ins Drachenfleisch. Er spürte, wie nah das pulsierende Herz der Bestie war. Und er spürte, wie sein eigenes Herz immer schwächer schlug. Er verlor zu viel Blut. Nicht nachgeben, war sein einziger Gedanke!
Der Speer stieß ins Drachenherz. Der mächtige Muskel bäumte sich auf und erschlaffte. Die schneidenden Schuppen fielen von ihm ab, trieben davon ins endlose Nichts. Doch der Schmerz hörte nicht auf. Er zerrte an ihm, wollte ihn hinabziehen in die Dunkelheit des Wahnsinns. Sein Herz pumpte nur noch in schwachen, unregelmäßigen Stößen.
»Wir sind bei dir, Bruder«, hörte er die Stimme Ištas ganz nah. Sie berührte ihn, und seine Pein steigerte sich in neue, nie gekannte Höhen. Er war nur noch Schmerz. Und ein letzter Gedanke.
Er gehört mir!, ließ er seine Stimme im Kopf seiner Schwester erklingen. Bringt ihn zum Blutteich. Er wird für immer mein sein.
Umme
»Priester, schafft die Scherben heran!«, befahl Solomon, der Erste Hüter des Lichtes, mit Donnerstimme.
Ilmaris Herz schlug schneller. Dies war die Stunde, die über Gedeihen und Verderben entschied. Er hatte sich gedemütigt und war am Morgen zum Hohepriester von Tiefwasser gegangen. Er hatte ihn angebettelt, seiner Frau zu helfen, ein einziges Mal dem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Der fette Priester war unerbittlich geblieben. So war ihm nichts geblieben, als auf das Scherbengericht zu hoffen. Auf die Gnade der Götter, die sich schon zwei Mal als grausam erwiesen hatten.
Ein kahlköpfiger Priester stand vor ihm und hielt ihm einen Krug voller Scherben hin. Sie hatten die Zeremonie vor ein paar Jahren geändert. Es wurde kein Scherbenhaufen unter Solomons marmorner Kanzel mehr aufgeschüttet, seit es wiederholt zu Tumulten sich streitender Sippen gekommen war. Der Erste Hüter des Lichts duldete nichts, was die Heiligkeit dieses Augenblicks störte. So mussten die Unglücklichen, die hierherkamen, nun blind ihre Scherben aus Tonkrügen ziehen.
Ilmari streckte die Hand durch die enge Öffnung des Krugs. Plötzlich war ihm kalt. Alles hing von diesem Augenblick ab. Von der Hand, die niemand im Dorf berühren wollte, weil sie zu viele Tote auf die letzte Reise gebracht hatte. Seine Finger tasteten über die Scherben. Welche würde die Eine sein? Welche würde die Reise ins Licht schenken?
»Mach hin!«, drängte ihn der Priester, der den Krug hielt. Es war ein junger Mann, der seine kalten grauen Augen mit schwarzer Farbe umrandet hatte. Wie alle von Solomons Untergebenen war er kahl geschoren. Nun, zur Zeremonie, hatte er sich Tupfer in allen Regenbogenfarben auf die Glatze gemalt. Trotz seiner Jugend neigte er bereits zur Fettleibigkeit. Die Priester waren die Einzigen in Tiefwasser, die dick waren. Selbst die ärmsten Bauern steckten ihnen regelmäßig Beutel mit Reis, Korn und geräuchertem Fisch zu, um sie sich gewogen zu halten. Alle wussten, dass sie auf kurz oder lang hier auf dem Marktplatz stehen und um ihr eigenes oder das Schicksal ihrer Liebsten bangen würden. So war das gnadenlose Gesetz der verborgenen Städte des Tarkon Eisenzunge.
»Wenn du dich nicht entscheiden kannst, wirst du gar keine Scherbe bekommen.«
»Einen kleinen Augenblick noch«, flüsterte Ilmari demütig. Seine Finger gruben sich tiefer hinab zwischen den Scherben. Das Glück lag nie an der Oberfläche. Es war nie zum Greifen nahe. Er ertastete eine lange, schmale Scherbe. Sie war anders als die anderen. Auffällig – das war gut! Seine Hand schloss sich darum. Er zog sie aus dem Krug, und der Priester schritt grummelnd weiter.
Mehr als siebzig hagere Gestalten hatten sich auf dem Markt versammelt, und Hunderte standen weiter oben auf den Stufen, die den Platz einfassten. Sie alle beteten stumm zur Großen Göttin, hatten ihre Glücksbringer mitgebracht oder ihren Glauben an die alten Götter ihrer Heimat Daia, deren Talismane sie unter den Kleidern verborgen trugen, weil sie Nangog nicht vertrauten.
Ilmari ritzte mit der Spitze seines Messers DIE STUMME in die Scherbe. Er hatte ungezählte Stunden damit verbracht, seiner Frau Namen aufzuzählen, um zu erfahren, wie sie geheißen hatte, bevor Urs ihr die Zunge geraubt hatte. Sie hatte stets nur den Kopf geschüttelt. Es war ein Spiel zwischen ihnen geworden. Er suchte auf jeder seiner Reisen in die anderen Städte nach neuen Namen. Bald war er davon überzeugt, dass es keinen zweiten Mann gab, der so viele Namen kannte wie er. Doch was immer er auch sagte, die Wäscherin schüttelte stets den Kopf. Als ihre kleine Tochter gelernt hatte, die ersten Worte zu brabbeln, nannte sie ihre Mutter Mama oder aber Umme, weil sie »die Stumme« noch nicht aussprechen konnte. Bei diesem Namen blieb Serin, bis sie den Höhlentod starb. Auch ihr jüngerer Bruder Talam übernahm diesen Namen.
Ilmari wusste, dass seine Frau ihn gern gehört hatte, auch wenn er nie aufgegeben hatte, nach ihrem richtigen Namen zu suchen.
Er starrte auf die Buchstaben auf der Scherbe. Vielleicht sollte er Umme aufschreiben? Außerhalb ihrer Familie kannte niemand diesen Namen. Hier im Dorf nannten alle seine Frau die Stumme. Womöglich vertrieb er so das Glück? Er kratzte die ersten Buchstaben fort, bis nur noch UMME auf der Scherbe stand. Leise sprach er den Namen aus, und es wurde ihm leicht ums Herz. Der Name, den ihre Kinder gefunden hatten, würde Glück bringen. Ganz sicher!