Erneut machte der unfreundliche junge Priester seine Runde. Diesmal sammelte er die beschrifteten Scherben in einem leeren Krug ein. Ganz vorsichtig bettete Ilmari sein tönernes Los auf die anderen Scherben.
Wie um ihn zu verhöhnen, schüttelte der Priester den Krug, sodass die Scherben darin krachend aufeinanderschlugen. »Dir klebt das Unglück an den Händen, Totenträger. Wer sich mehr mit Leichen abgibt als mit Lebenden, der steht dem Tod auch stets ein Stück näher als alle anderen.«
Ilmari presste seine Lippen zusammen. Er musste diese dummen Reden schlucken, musste demütig sein. Wenn er sich mit dem Priester anlegte, würde er nur erreichen, dass seine Scherbe aus dem Krug genommen wurde.
Der Priester ging mit einem triumphierenden Lächeln weiter. Wenn er wüsste, wen er beleidigt hatte … Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da wäre Ilmari ihn in der Nacht besuchen gekommen, um ihm die Kehle durchzuschneiden.
Schließlich wurde der Krug zu Solomon hinaufgetragen und auf der breiten Brüstung der Kanzel abgestellt. Der Erste Hüter des Lichts streckte seine Arme feierlich der Sonne entgegen, die einen breiten Strahl klaren Lichts durch die Öffnung in der hoch über ihnen liegenden Höhlendecke hinabsandte.
»Höre mich, Große Göttin«, rief er mit wohltönender Stimme. »Heute wird nur eine Seele aus unserer Mitte deine Gnade erfahren. Zu zahlreich sind deine Feinde am weiten Himmel geworden, sodass der edle Tarkon nur eines seiner Schiffe auf die Reise schicken kann. Zeige deinen demütigen Dienern nun, wer der Würdigste unter ihnen ist.« Mit diesen Worten griff er in den Krug und begann geräuschvoll zwischen den Scherben zu wühlen.
Ilmari betete stumm zu Išta, der er in seinem Leben schon nahe gewesen war. Dabei blickte er angespannt zu Solomon auf. Die Edelsteine auf der goldenen Schmucktafel, die er vor seine Brust gebunden trug, schillerten in allen Farben des Regenbogens. Der Priester sah eindrucksvoll aus. So wie seine Brust vor Licht sprühte, mochte man meinen, die Große Göttin habe ihn berührt. Sicherheitshalber begann Ilmari auch ein Gebet für sie zu murmeln, als Solomon eine Scherbe aus dem Krug zog. Sie war nicht länglich.
Das Herz wurde Ilmari schwer.
»Mikael!«, rief Solomon laut von der Kanzel herab. »Es ist Mikael, den die Göttin in den Himmel aufsteigen lässt!«
Seine Beine vermochten ihn plötzlich nicht mehr zu tragen. Dort wo er stand, ließ er sich auf den gepflasterten Boden sinken. Er war nicht der Einzige, dem es so erging. Die meisten aber verließen stumm den Scherbenplatz.
Nur eine junge Frau schluchzte vor Glück. Ilmari kannte sie vom Sehen. Sie war eine auffällige Erscheinung. Eine Frau mit Haaren wie Gold. Sie und ihr Mann waren die einzigen Drusnier in Tiefwasser.
Solomon stieg von der Kanzel hinab und ging auf sie zu. Väterlich schloss der Priester sie in die Arme und drückte sie. »Ich beglückwünsche dich, Jelena. Deine Gebete sind erhört worden, und ich freue mich für dich. In einer Stunde schon werden meine Priester zu dir kommen, um Mikael abzuholen und auf dem ersten Stück seiner großen Reise zu begleiten.«
»Eure Gebete sind es, die erhört wurden«, stammelte sie dankbar und sank vor Solomon auf die Knie. Sie bedeckte seine Hände mit Küssen.
Er tätschelte ihr über den Kopf, wie man einen treuen Hund tätschelt. »Ich ziehe keine Seele in unserer Gemeinde einer anderen vor. Ich bin sicher, es waren deine Gebete, die deinen Mann zum Auserwählten machten. Nun geh und hilf, ihn auf seine Reise vorzubereiten. Vertue deine Zeit nicht mit mir. Dein Mann wird lange fort sein, und ich bin sicher, es gibt noch vieles, das ihr euch zum Abschied zu sagen habt.«
Wieder küsste sie seine Hand. Dann stand Jelena auf und lief eilends davon.
Solomon schritt weiter und blieb dicht vor Ilmari stehen. Väterlich lächelnd blickte er auf ihn herab. Sie waren keine Freunde. Dass er den Faustkampf gegen Rufus gewonnen hatte, hatte der Hohepriester ihm nie verziehen. Vielmehr hatte er Ilmari seither immer wieder bedrängt, von seiner Vergangenheit zu erzählen. Er schien ihm nicht mehr zu trauen.
»Es tut mir leid für dich.« In der Stimme Solomons lag keine Wahrhaftigkeit.
»Ich beuge mich dir.« Es kostete Ilmari Überwindung, diese Worte über die Lippen zu bringen. »Gib meiner Frau einen Platz im Licht, und du kannst ganz und gar über mich verfügen.«
Der Priester schüttelte den Kopf. »Ilmari, unsere Gemeinschaft ruht auf den Säulen von Gleichheit und Gerechtigkeit. Ich kann niemanden bevorzugt behandeln. Ganz gleich, was du mir bietest, meine Antwort wird nein sein. Die Göttin hat entschieden, wer in den Himmel reisen wird, und wer bin ich, mich über den Willen der Göttin hinwegzusetzen. Geh heim! Ich verspreche dir, ich werde für das Wohl deiner Gemahlin beten, so wie ich für jede Seele bete, die mir anvertraut wurde.«
»Bitte …« Ilmari beugte sich vor und küsste den Saum des Priestergewandes.
»Würdest du mit derselben Leidenschaft zur Großen Göttin beten, hätte sie dir deine Bitte sicherlich gewährt. Hast nicht auch du zur Sicherheit noch zu deinen alten Göttern gebetet? Falls ja, dann sei gewiss: Die Göttin schickt nur jene ins Licht, die rein im Glauben sind. Denn dies, Ilmari, ist der Schlüssel zu allem.«
Während der Totengräber so fest die Kiefer zusammenpresste, dass es schmerzte, tätschelte Solomon ihm großmütig den Kopf und fuhr fort: »Bemühe dich weiter, und du wirst erhört werden.«
Ohne Worte
Sie sah noch zerbrechlicher aus als sonst. Ihre Haut war wie Wachs. Die Augen in dunklen Höhlen eingesunken. Doch obwohl es ihr an Kraft fehlte, ihn anzusehen, hatte sie bemerkt, dass er zurückgekehrt war. Der Hauch eines Lächelns spielte um ihre schmalen Lippen.
»Solomon war einsichtig«, sagte er mit fester Stimme. »Oder besser gesagt, er war genauso gierig, wie wir schon immer vermutet hatten. Du bekommst deinen Platz am Himmel! Allerdings wird es uns die Hälfte der Schätze kosten, die du … zur Seite gelegt hast.«
Er hob sanft ihren Kopf und versuchte, ihr ein wenig von der Fleischbrühe einzuflößen, die er gekocht hatte.
»Du musst bei Kräften sein, meine Liebste. Also, bitte, mach keinen Unsinn. Heute werde ich die neuen Toten waschen. Und ich dulde keine Widerworte.«
Es kostete sie sichtlich Mühe, die Brühe zu schlucken. Ilmari stellte die Schale zur Seite. Er hielt sie mit einem Arm. So leicht war sie … Mit der freien Hand schüttelte er das mit Daunenfedern gefüllte Kissen auf, das er für sie genäht hatte. Sanft bettete er sie auf das helle Leinen. Sie gab einen leisen Seufzer von sich, als ihr Kopf in das Kissen einsank. Ihre Lider flatterten, und dann sah sie ihn an. In den sieben Jahren der Gemeinsamkeit hatte er gelernt, in ihren Augen zu lesen. Sie brauchten keine Worte mehr, um sich zu verstehen. Ihr Blick lächelte. Sie bedankte sich.
Ilmari lief ein Schauer über den Rücken. »Tu das nicht. Du wirst noch ein wenig durchhalten. Du kommst auf ein Wolkenschiff!«, flehte er. Er würde seine Lüge nicht aufgeben, doch sah er an ihrem Blick, dass es sinnlos war. Sie hatte ihn längst durchschaut. Sie wusste, dass es keine Hoffnung mehr auf eine Reise zur Sonne gab und auf sie nur noch Dunkelheit wartete.
Ilmari hatte jede Öllampe, die er finden konnte, in ihre Kammer getragen und entzündet. Nie war der Raum mit den kahlen Wänden so hell gewesen wie in diesem Augenblick. So viele Lampen waren es, dass sie eine angenehme Wärme verbreiteten und dem Grau der Wände einen goldenen Schimmer verliehen.
Sie rollte die Augen und sah zu der Wandnische auf, in der die kleinen, hölzernen Krieger standen, die er für Talam geschnitzt hatte. Ihre Schwerter und Speere waren längst abgebrochen. Ihr Sohn hatte die Figuren geliebt und sich viele Schlachten mit ihnen geliefert. Daneben lehnten die beiden Puppen, die Umme für Serin genäht hatte. Sie waren aus Tuchresten gefertigt. Augen und Lippen waren mit feinem Garn in die Gesichter gestickt. Umme hatte auf beiden Puppen Haar von sich aufgenäht. Serin war mit den Puppen im Arm gestorben. Mehr als ein Jahr war das nun her. Als drei Monde später auch Talam gestorben war, war etwas in Umme zerbrochen. Sie hatte weiter gearbeitet, gegessen, ihm ihre Liebe geschenkt, aber ihr Lebenswille, der sie so viele schwere Jahre hatte überstehen lassen, war mit dem Tod ihrer Kinder erloschen.