Eleborn wusste, jetzt ein einziges falsches Wort, und er hätte einen Vorwand für ein Duell geliefert oder sich selbst als Feigling bloßgestellt. Wie er solch törichtes Gehabe hasste! »Nein, so seht Ihr wahrlich nicht aus, edler Nodon, und deshalb könnt Ihr mich nun, ohne irgendetwas befürchten zu müssen, zur Dame Nandalee führen, denn ich bin nur ein harmloser Besucher.«
Nodon bedeutete ihm mit einer flüchtigen Geste, ihm zu folgen. Er ließ sich nicht anmerken, ob er über den Ausgang des Wortgeplänkels amüsiert oder verärgert war. Eleborn hätte auf Letzteres gewettet.
Der Schwertmeister führte ihn durch eine weite Eingangshalle über eine Treppe hinauf in einen Seitenflügel des Palas. In einem schmucklosen Flur mit weiß getünchten Wänden hielt er vor einer Tür, die sich durch nichts von den anderen Türen hier unterschied. Nodon klopfte und trat zurück.
Als sich die Tür öffnete, war es, als blickte Eleborn zurück in die Vergangenheit. Nandalee mochte Mutter geworden und durch tausend Gefahren gegangen sein, aber sie sah immer noch aus wie das Mädchen, dem er nachts im Wald begegnet war, als sie einen Eibenstamm für ihren Bogen geschnitten hatte.
»Eleborn!« Sie trat nicht vor, um ihn in die Arme zu nehmen, doch ihre Augen leuchteten auf, als sie ihn sah. »Das ist eine Überraschung … Ich … ich fürchte, ich bin auf Besuch nicht vorbereitet.«
»So wie früher?« Er lächelte. »Und doch konnten geprügelte Schüler und Vögel, die aus dem Nest gefallen waren, stets auf Zuflucht bei dir hoffen.« Er zögerte kurz. Ihm war der bohrende Blick Nodons in seinem Nacken nur zu bewusst. Nichts war mehr wie früher, ganz gleich wie sehr er sich bemühte, mit schönen Worten die Vergangenheit heraufzubeschwören.
Sie bat ihn hinein, und ihm entging der Blick nicht, den sie Nodon zugeworfen hatte. Machte sie dem Schwertmeister einen Vorwurf, weil er ihn zu ihr gelassen hatte?
In dem übersichtlich eingerichteten Zimmer roch es nach Kindern. Drei Fenster sorgten für viel Licht und Luft. Unter dem mittleren stand die grüne Lacktruhe mit den springenden Delphinen, die er ihr geschenkt hatte. Auf dem einzigen Tisch leuchtete ein zu einer abstrakt sich windenden Skulptur geschnittener Barinstein. Hübsch, dachte er und trat an die große Wiege, in der die beiden Kinder lagen. Eines, es hatte rehbraune Augen und kurzes, leicht gelocktes Haar, sah zu ihm auf. Das zweite schlief. Es zu sehen versetzte ihm einen Stich ins Herz. Sein Gesicht war von Narben entstellt, ebenso sein ganzer Oberkörper. Der linke Arm war dicht unter der Schulter abgetrennt.
»Sie heißen Emerelle und Meliander«, sagte Nandalee mit ungewohnt sanfter Stimme. »Meine kleine Prinzessin hier mag nie schlafen.« Mit diesen Worten hob sie den Lockenkopf aus dem Bett und wurde mit einem freudigen Quieken begrüßt. »Dafür schläft Meliander all die Stunden zusätzlich, die sie wach ist.« Sie strich ihrem Sohn sanft über den schwarzen Flaum auf seinem Kopf. »Ich glaube, er sammelt Kraft.«
Eleborn war versucht zu fragen, was Meliander geschehen war.
Nandalee musste es ihm angesehen haben. Sie schüttelte leicht den Kopf, dann ging sie zu dem großen Bett hinüber, das in der Ecke neben der Tür stand. Das Kopfende war mit Schnitzwerk bedeckt, das mit mehr gutem Willen als Können ausgeführt worden war. Es sollte wohl eine Blumenwiese darstellen.
»Ein Geschenk der Kobolde aus dem Jadegarten«, erklärte Nandalee. Es war unheimlich, wie genau sie wusste, was er dachte.
Sie zog ihr Kleid von der Schulter und legte Emerelle an ihre linke Brust.
Eleborn blickte verlegen zu den Fenstern.
»Sei nicht so schüchtern. Es ist nichts dabei, mich anzusehen, wenn ich meine Tochter stille. Dort, wo ich aufgewachsen bin, haben alle Frauen vor den Augen der ganzen Sippe gestillt.«
Der Elf räusperte sich und sah weiterhin zum Fenster. »Und dort, wo ich aufgewachsen bin, habe ich niemals eine Frau mit unverhüllter Brust zu sehen bekommen.« Er hatte das überaus unangenehme Gefühl, gerade rot zu werden.
Nandalee war gut darin, ihn verlegen werden zu lassen. Das hatte sie schon an der Weißen Halle regelmäßig geschafft. Der Elf stellte sich vor, wie sie ihn hinter seinem Rücken belächelte. Er sah zu der Wand zu seiner Linken. Dort hingen ihr Bogen und das verfluchte Schwert Todbringer, ein Zweihänder mit einer langen Geschichte voller Tragödien. Nie hatte jemand diese mörderische Klinge so lange besessen wie sie.
»Ich denke oft an unsere erste Nacht«, sagte Nandalee.
Da tat sie es schon wieder! Seine Wangen glühten noch ein wenig mehr. Es war ganz und gar nicht so gewesen, wie es sich anhörte, wenn sie darüber sprach. Er war durchaus nicht unerfahren im Umgang mit Damen. Aber Nandalee war einfach keine Dame.
»Wirst du gerade rot?«
»Ich war auf dem Weg hierher zu lange in der Sonne.«
Sie lachte leise. »Natürlich.«
Er musste das Gespräch an sich reißen, sonst würde sie so weitermachen. »Was ist eigentlich aus deinem kleinen Vogel geworden? Dieser Misteldrossel, die du in unserer ersten Nacht gefunden hast.«
»Du meinst den kleinen Gefährten, den ich mir ausgebrütet habe.« Nandalee klang plötzlich melancholisch.
Eleborn musste bei der Erinnerung lächeln. Ja, sie hatte das Ei, das sie gemeinsam gefunden hatten, tatsächlich ausgebrütet. »Piep hast du ihn genannt, nicht wahr?«
»Ja, so hieß er«, sagte sie leise.
Aus dem Augenwinkel sah der Elf, wie Nandalee Emerelle von ihrer Brust nahm und das Kleid wieder hochschob. »Er hat mir das Leben gerettet, mein Piep. Er hat Gonvalon zu mir geführt, als ich verloren war.« Sie seufzte. »So viel ist seitdem geschehen. Piep hat mich längst verlassen. Er hat eine Misteldrosseldame gefunden und ist noch manchmal mit seiner Brut zu meiner Fensterbank geflogen, um nach Brotkrumen zu betteln. Erinnerst du dich noch an das dunkle, saure Brot, das es manchmal gab?«
Eleborn nickte.
»Piep hat es geliebt, wenn es hart und krümelig geworden war.«
»Da war er wohl der Einzige.«
»Letzten Winter ist er gestorben. Ich konnte es spüren. Die Welt war plötzlich leerer geworden.« Sie stand vom Bett auf und legte Emerelle zurück in die Wiege. Die Kleine maulte leise.
»Weshalb bist du hier, Eleborn? Ist es die Einsamkeit?«
Er nickte. Er war ein offenes Buch für sie.
»Ich kenne dieses Gefühl nur zu gut. Das Gefühl, dass es keinen Ort mehr gibt, an den man gehen kann. Keinen Platz, an dem man von Herzen willkommen ist. Bist du sicher, dass du hier eine neue Heimat suchen willst? Gonvalon ist tot, weil er mir hierher folgte.«
»Und doch möchte ich es wagen. Könntest du beim Dunklen ein gutes Wort für mich einlegen?«
»Nein!«, sagte sie entschieden. »Sosehr ich dich mag, Eleborn, aber du verlangst zu viel.«
Die Heftigkeit, mit der sie das gesagt hatte, überraschte ihn. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wusste nicht, was er sagen sollte …
»Ich möchte ihm keinen Gefallen schulden.«
Er nickte, obwohl er nicht verstand, was zwischen ihr und dem Dunklen vor sich ging. Drachenelfen schuldeten ihren Herren keine Gefallen, sondern Gehorsam. Es war undenkbar, den Befehl einer Himmelsschlange zurückzuweisen. Doch hatte Nandalee nicht stets das Undenkbare gereizt?
»Wenn du wirklich im Jadegarten bleiben möchtest, kann ich dir raten, wie du den Dunklen neugierig machst. Doch überlege dir gut, was du dir wünschst. Dies ist ein erstaunlich dunkler Ort dafür, dass er inmitten einer sonnendurchglühten Wüste liegt.«
»Mein Entschluss steht fest. Ich möchte hierbleiben. Du weißt, ich neigte immer schon dazu, nicht das Vernünftigste zu tun.«
Sie lächelte. »Deshalb habe ich dich auch immer schon gemocht, Eleborn. Du musst es schaffen, den Erstgeschlüpften neugierig zu machen. Dies ist seine größte Schwäche. Seiner Neugier gibt er fast immer nach. Und du solltest in allem, was du tust, selbstbewusst sein. Am besten fängst du es auf folgende Art an …«