Выбрать главу

Nachtatem wandte sich wieder an Eleborn. »Ich freue mich darauf, mit Euch demnächst erneut über das Wesen der Schönheit zu disputieren, und hoffe, dass die Flamme Eures Idealismus nicht allzu schnell von der Wirklichkeit erstickt werden wird.«

Der Erstgeborene

Firaz brachte die weiße Ziege, nach der er verlangt hatte. Das Tier blökte erbärmlich. Es schien zu ahnen, was es erwartete. Auf dem Antlitz der blinden Seherin zeigten sich keine Emotionen. Sie kam ihrer Pflicht ohne zu murren nach, obwohl sie den Ziegen nicht unähnlich war.

Wie alle Gazala war sie ein Geschöpf des Fleischschmieds. Er hatte sie aus Elfen und Gazellen erschaffen. Lange, gebogene Hörner reichten ihr über das Haupt bis weit zum Rücken hinab. Ihre Beine waren die von Gazellen. Am ungewöhnlichsten jedoch waren ihre seherischen Fähigkeiten. Nachtatem lauschte oft tagelang ihrem Murmeln, wenn sie in Trance von der ständig sich wandelnden Zukunft erzählten. Vieles von dem, was sie sagten, blieb rätselhaft. Sie sahen einen toten Baum, der eine Bedrohung für Albenmark war, und eine Königin von Licht und Schatten.

Er nahm Firaz die Ziege ab und schickte sie fort. Seit er Nandalees ersten Sohn zu sich genommen hatte, verbrachte er viele Stunden ganz allein in der weiten, halb gefluteten Grotte, tief unter der Pyramide, die den Jadegarten beherrschte. Ein Wort der Macht nahm der Ziege jegliche Angst. Er setzte sie ab. Das brackige Wasser reichte ihr bis zum Bauch. Sie leckte ihm die Hände. Ein weiteres Wort der Macht ließ einen Steinquader in der Rückwand zur Seite gleiten. Niemand außer ihm wusste von diesem Versteck. Er hatte es vor langer Zeit eingerichtet, als die Gazala angstvoll begonnen hatten, von der Bestie zu sprechen, die da kommen würde. Ob die Seherinnen ahnten, dass diese Bestie bereits unter ihnen weilte? Meist waren sie so sehr in ihre Visionen verstrickt, dass ihnen nicht bewusst war, was in der Gegenwart geschah. Auch wussten sie nicht um ihr eigenes Schicksal. Keine von ihnen konnte vorhersehen, wann sie starb.

Nachtatem streichelte der Ziege geistesabwesend über den Kopf. Dann sah er zu dem Quadrat aus Dunkelheit, das in der Wand klaffte. Nichts rührte sich dort. Er war klug. Ob er auch vernunftbegabt war, vermochte der Drache nicht einzuschätzen. Bislang war es die Klugheit eines gefährlichen Raubtieres, die er an ihm beobachtet hatte. Sein Geist blieb ihm verschlossen, so wie bei Nandalee.

Er drang in den Verstand der Ziege ein. Ein wirres Gemenge aus Ängsten und Trieben. Sie hatte Hunger und mochte es nicht, durch das Wasser zu laufen. Er gab ihr die falsche Erinnerung ein, dass es im Dunkel einen Stein gab, an dem sie Salz lecken konnte. Die Gier nach dieser Köstlichkeit verdrängte ihre Angst. Sie roch den Aasgeruch. Er ließ ihn wie Salzgeruch erscheinen.

Der Erstgeschlüpfte dachte an die Prophezeiung, die die Gazala in den letzten Tagen dutzendfach wiederholt hatten. Der Jadegarten würde verwaist sein. Ein Ort, an dem nur noch wilde Tiere lebten. Die Alte Veste verlassen. Die Kobolddiener geflohen. Das Land weit über die jetzige Grenze der Wüste hinaus verbrannt. War dies das Werk der Bestie? Und wo war er selbst? Warum hatte er den Jadegarten verlassen? Würde der Krieg auf Nangog ihn zwingen, auf viele Jahrzehnte in der fremden Welt zu weilen?

Die Ziege streckte den Kopf in den Durchgang, der sich in der Wand geöffnet hatte. Sie meckerte ängstlich, als etwas aus dem Dunkel schnellte. Es sah aus wie eine Sichelkralle. Blut spritzte über das weiße Fell. Binnen eines Herzschlags war die Ziege im Dunkel verschwunden. Das Reißen von Fleisch war zu hören. Knochen, die in einem mächtigen Kiefer zerbarsten. Ein gieriges Hecheln.

Wie er wohl gerade aussah? Seine Gestalt war wandelbar. Der Fleischschmied hätte seine helle Freude an dem Kleinen. Nie hatte Nachtatem von einer solchen Kreatur auch nur gehört. Mal war die Haut des Kindes geschuppt, dann wieder zart wie Pfirsichblüten. Manchmal erinnerten seine Arme an die Beine von Raubvögeln, besetzt mit dolchscharfen Krallen. Dann wieder sahen sie aus wie die runzeligen, dürren Arme von Kobolden. Nur dass die Hände mal vier, fünf oder sieben Finger hatten. Suchte Nandalees Erstgeborener nach einer Form, die er dann behalten würde? Oder war der ständige Wandel seiner Gestalt sein Schicksal? Er schien zumindest teilweise zu beherrschen, welche Gestalt er annahm.

Nachtatem hatte beobachtet, dass, wann immer er den Kleinen fütterte, er ein Äußeres annahm, das ihn dazu befähigte, Beute zu reißen. Bevorzugt echsenähnlich. Und seine Schuppen waren von dunklem Grün oder Schwarz.

War diese Kreatur sein Sohn? Oder ahmte er ihn nach? Er hatte dem Kind keinen Namen gegeben. In seinen Gedanken war es stets nur die Bestie, die Kreatur oder bestenfalls Nandalees Erstgeborener.

Die Fressgeräusche waren verstummt. War er schon fertig? Er hatte einen beängstigenden Appetit. Milch hatte er nie haben wollen. Vom ersten Tag an gierte er nach rohem, blutigem Fleisch. Er war mit Zähnen auf die Welt gekommen und hatte von Anfang an gewusst, wie sie zu benutzen waren. Er hatte schon in Nandalees Leib damit begonnen … Der Dunkle wollte sich nicht an die Nacht seiner Geburt erinnern. War das sein Kind?

Er wuchs ungewöhnlich schnell. Seinen beiden Geschwistern war er weit voraus. Inzwischen brauchte er alle zwei Tage eine Ziege. Etwas regte sich im Dunkel. Ein zierlicher, nackter Junge trat aus dem Versteck. Ein Elfenkind. Mit schlanken Gliedern und heller Haut. Er hatte schulterlanges schwarzes Haar. Würde Meliander so aussehen, wenn er älter wurde?

Der Junge fuhr sich mit der Hand über den blutverschmierten Mund.

»Vater?«

Er hatte eine kristallklare Stimme. Seine großen hellbraunen Augen sahen sehnsüchtig zu ihm herüber.

Dieses Ding versuchte, ihn für sich zu gewinnen, dachte er kalt. Es wusste genau, wie es Gefühle in ihm weckte. Wie als Antwort auf seine Gedanken lächelte der Junge und zeigte ihm einen Mund voller nadelspitzer Zähne, zwischen denen noch Fleischreste hingen. Dann trat er zurück ins Dunkel. Er wusste, dass er eine Grenze überschritten hatte.

Nachtatem ließ den schweren Steinquader zurückgleiten. Vielleicht war es am besten, wenn er diese Wand nie wieder öffnete. Sollte dieses Ding verhungern!

Er nahm wieder seine eigentliche Gestalt an. Im Leib des Drachen fühlte er sich am wohlsten. Er reckte seine Glieder und streckte die mächtigen, ledernen Schwingen. Wie er das warme Wasser in der Grotte liebte! Doch plötzlich fühlte er sich unendlich müde. Er war es leid, immerzu zu kämpfen. Immer wachsam zu sein. Er könnte ein ganzes Jahrhundert verschlafen. Was sollte er mit Nandalees Erstgeborenem anfangen? Er fand ihn gleichermaßen abstoßend und faszinierend. Vermochte dieses Biest in seinen Gedanken zu lesen? War es der Grund dafür, dass der Jadegarten bald vergessen sein würde?

Der Erstgeschlüpfte schob die unlösbaren Fragen von sich und dachte an Eleborn. Der junge Elf würde scheitern. Die Welt brauchte Idealisten wie ihn. Sollte er frischen Wind in die Alte Veste bringen! Seine Drachenelfen würden erleben, wie Träume an der Wirklichkeit zerschellten. Nachtatem schnaubte und blickte über das dunkle Wasser in der Grotte. Auch er hatte einmal Träume gehabt. Er war damals überzeugt gewesen, dass der Verrat an Nangog eine gute Lösung war, um einen dauerhaften Frieden für alle drei Welten zu ermöglichen. Aber nichts war von Dauer. Am allerwenigsten Frieden, das hatten ihn die Jahrhunderte gelehrt. Wenn die Riesin erwachte, mochte es wieder ein Gleichgewicht geben. Aber ohne die zweite Hälfte ihres Herzens würde sie sich niemals erheben.