»Ich werde nicht …«
Die Dornen fraßen sich in ihre Kehle. Ein Ast zwang ihre Kiefer auseinander und schob sich wie ein Knebel in ihren Mund.
Schweig!
Sie spürte den kalten Zorn des Dunklen. Er sah zu ihr, und aller Schmerz der Welt lag in seinem Blick.
»Lasst von der Dame Nandalee ab!«
Enthülle, was du weißt!
»Ist ein Verdacht nicht das Gegenteil von Wissen? Wenn ich etwas sage, ohne es beweisen zu können, was ist es dann? Doch nicht mehr als nur üble Nachrede.«
Wen beschützt du?
Allein die Stimmen waren schon Marter. Sie zerrten an Nandalees Verstand, wüteten in ihr, wie der Sturm in dem kleinen Wald wütete. Plötzlich fiel ein seltsames blaues Licht durch die Wolken. Hinter Nandalee im Wald war das Krachen eines splitternden Baumstamms zu hören. Kaskaden von Ästen peitschten auf die Elfe ein. Eine mächtige Eiche stürzte auf die Lichtung nieder. Sie verfehlte den Dunklen nur knapp, der unerschütterlich mit erhobenen Händen stehen blieb.
Am Himmel erschien der Blaue Stern. Das fliegende Schiff, das den Sänger durch die Wolken trug. Das Schiff, auf dem Nandalees lange Reise zu den Drachenelfen begonnen hatte.
Fließende Lichter streiften durch den Wald. Sie waren schöner als alles, was Nandalee je gesehen hatte. Bei ihrem Anblick vergaß sie die Fesseln. Sie wollte ihnen nahe sein. Wollte, dass diese Lichter auf sie fielen. Sie verhießen das Ende allen Leids. Vollkommenheit. Wen dieses Licht berührte, der würde eins werden mit der Welt. Mit einem Mal fielen Nandalees Fesseln ab. Sie wollte nicht mehr an die Seite des Dunklen eilen. Sehen und staunen war alles, was sie noch vermochte.
Wen beschützt du?
Die Stimmen klangen nun freundlich. Wieso wollte der Dunkle nicht antworten? Sie hatten ein Recht, es zu erfahren!
»Kommt und lest in meinen Gedanken«, rief er in diesem Augenblick herausfordernd. »Nichts kann vor euch verborgen bleiben, wenn ihr es wirklich wissen wollt.«
Der Sturm ebbte ab. Die Wolken zerflossen am Himmel. Nandalee hatte das Gefühl, dass die Zeit schneller lief. Klares Mittagslicht erfüllte erneut die Lichtung. Es erschien ihr erbärmlich im Vergleich zu dem Leuchten, das sie zuvor zwischen den Bäumen gesehen hatte. Staubbesudelt ohne Strahlkraft … Sie ahnte, dass kein Licht, das sie je sehen würde, sich mit dem messen konnte, das nun verloschen war. Sie waren verschwunden. Alles, was blieb, war ein vom Sturm verwüsteter Wald in einem einsamen Tal.
Plötzlich brach der Dunkle in die Knie.
Der Bann, der Nandalee gehalten hatte, war gebrochen. Sie stürzte auf die Lichtung, kniete neben dem Erstgeschlüpften nieder. Mit einem Seufzer setzte er sich auf. Es war das erste Mal, dass er schwach wirkte.
»Was ist geschehen?«
Er blickte zum Himmel auf. Der Blaue Stern war verschwunden.
»Sie werden uns nicht helfen«, sagte er müde. »Sie wissen, dass derjenige, der die Refugien der Alben besuchte, seine Reise beendet hat. Vor Jahren schon. Er hat keine Spur hinterlassen, der man noch folgen könnte.«
Nandalee dachte daran zurück, wie nahe sie ihm gekommen waren. Fast hätten sie ihn gestellt, damals in dem Hafen, tief unter dem Berg.
»Hat er …« Sie wagte es nicht, ihren Gedanken auszusprechen. Dennoch spukte diese Frage immerzu in ihrem Kopf herum: Können Alben wirklich getötet werden?
Der Dunkle sah sie lange an. »Du hast sie heute erlebt. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie man einen Alben töten könnte. Sie müssen ihrem Mörder vertraut haben. Sie müssen ihn nah an sich herangelassen haben … bis zum letzten Augenblick arglos gewesen sein …«
»Aber das heißt, sie müssen ihn gekannt haben!«
Nachtatem seufzte. »Ja. Einem Devanthar hätten sie niemals so sehr vertraut. Es muss einer meiner Nestbrüder gewesen sein. Ein Mörder … Oder vielleicht hat er sie auch überredet, ins Mondlicht zu gehen.« Er sah zu dem silbern schillernden Tor, und Sehnsucht lag in seinem Blick. »Es heißt, dort liege eine bessere Welt. Der Ort, den Eleborn so gerne erschaffen möchte, es gibt ihn schon.«
»Aber wir könnten auch Albenmark zu so einer Welt werden lassen. Ich glaube an Eleborns Traum.«
Nachtatem schüttelte den Kopf. »Nein, das können wir nicht. Es liegt nicht in unserer Hand, solange es die Devanthar gibt. Sie haben einst geschworen, dass ihre Kinder niemals nach Nangog kommen würden. Nun leben sie dort zu Zehntausenden, und täglich werden es mehr.«
»Lassen wir sie doch gewähren. Was schert uns das …«
»Was uns das schert?« Seine plötzliche Wut berührte sie wie eine Flamme, der sie zu nahe gekommen war. Nandalee wich vor ihm zurück. Die Gefühle der Himmelsschlangen waren von solcher Intensität, dass sie für einfache Albenkinder körperlich spürbar wurden. Es gab keinen Zauber, der davor schützte. Sie waren den alten Drachen hilflos ausgeliefert.
»Liegt nicht auf der Hand, was die Devanthar tun werden, wenn sich ihre Menschenkinder über alle Maßen vermehrt haben und auch die Äcker Nangogs nicht mehr ausreichen werden, ihre hungrigen Mäuler zu stopfen? Sie werden hierherkommen! Sie werden uns unsere Welt stehlen und jeden niedermachen, der Widerstand leistet. Wenn du klar denkst, stellt sich nicht die Frage, ob das geschehen wird, sondern lediglich, wann. Wir müssen auf Nangog kämpfen. Wenn wir es nicht tun, geben wir schon jetzt unser Recht an unserer eigenen Welt auf.«
»Aber wenn das alles so klar ist, warum helfen die Alben uns dann nicht? Sie könnten die Devanthar doch besiegen!«
»Das habe ich sie auch gefragt.« Er senkte den Blick. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan, denn diesmal haben sie geantwortet. Sie haben uns Albenmark geschenkt. Es ist nicht mehr ihre Welt. Nicht mehr ihre Verantwortung. Was wir hier tun, obliegt allein uns. Diese Welt zu formen … Aber es ist sinnlos, wenn wir die Devanthar nicht besiegen können. Und sie haben uns Himmelsschlangen verboten, nach Nangog zu gehen. Die Alben pochen darauf, dass wir den Vertrag einhalten, den sie einst mit den Devanthar geschlossen haben.«
Nandalee war einen Moment lang sprachlos. Dann brach es voller Entrüstung aus ihr heraus: »Und wenn wir dieses Geschenk gar nicht hätten haben wollen? Niemand hat uns gefragt …«
Nachtatem lachte auf! Es war ein bitteres, zynisches Lachen. »Die Alben sind wie Götter. Mit solchen Bagatellen halten sie sich nicht auf. Sie fragen nicht, sie entscheiden. Und es ist unmöglich, sie umzustimmen.«
Der Verrat
Der Ebermann atmete tief ein. Die Luft hier oben in den Bergen war dünn. Längst hatten sie die Baumgrenze hinter sich gelassen. Sie gingen durch dichtes Schneetreiben einem ihm unbekannten Ziel entgegen. Obwohl er weite Streifzüge durch Daia unternommen hatte, war er hier noch nie gewesen. Drei Tage waren vergangen, seit sie hoch auf einer Klippe, über einem Meerarm, der sich tief ins Landesinnere gefressen hatte, aus dem Goldenen Netz getreten waren. Er verstand nicht, warum sie sich die Mühe machten, seitdem zu Fuß zu gehen. War es, um ihn zu quälen? Oder fürchtete Išta, eine Spur der Magie in der Matrix zu hinterlassen?
Langarm und der Gefiederte begleiteten sie, ohne Fragen zu stellen. Sie hatten ihn zunächst in die Schmiede Langarms gebracht. Dort hatten seine Geschwister ihn in die Knie gezwungen, um einen schweren Balken über seine Schultern zu legen. Sie hatten seine Hände darauf festgenagelt, eiserne Fesseln um die Knöchel seiner Eberbeine geschlossen und Ketten um ihn gewunden, die auf seiner Haut brannten, so sehr waren sie mit Magie durchwoben. Diese Zauber stahlen ihm seine Kraft, seinen Willen zum Widerstand. Alles war anstrengend. Selbst einfach nur zu atmen.
Gerade führte Išta sie über einen Gletscher, der sich an einer Steilwand vorbeischob. Der Ebermann hörte, wie das Eis tief unter ihnen arbeitete. Es schliff den Fels glatt, über den es dahinglitt. Es formte die Täler. Der Devanthar mochte den frischen Wind, der sein struppiges Fell zerzauste. Er linderte das Brennen der Ketten ein wenig. Die drei hatten Angst vor ihm, vor seinem unbändigen Zorn. Sie waren gut vorbereitet gewesen. So leicht hatten sie ihn überrumpelt. Und was sie Lyvianne angetan hatten – ein leises Grollen drang durch seine Lefzen. Die Elfen waren ihre Feinde. Sie zu töten war ihre Aufgabe. Aber nicht auf diese Art. Nicht …