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Sie hatte die Marter lange durchgehalten. Wahrscheinlich länger, als er sie ertragen hätte. Ihn schauderte jetzt noch, wenn er an das Zischen dachte, mit dem sich ihr Fleisch in der Säure aufgelöst hatte. Išta war unbarmherzig gewesen. Stundenlang hatte sie Lyvianne verhört. Statt zu reden, hatte die Elfe irgendwann angefangen zu singen: Schattenweber, Träumegeber, schleichen durch die Nacht …

Der Ebermann schüttelte unwillig sein schweres Haupt. Nie wieder würde er dieses Lied vergessen.

»Hier entlang!« Išta deutete auf einen schmalen Felssteig, der sich die Steilwand hinaufschlängelte.

Unsicher trat der Ebermann auf den engen Pfad. »Das ist ein verdammter Ziegenpfad.«

»Dann hast du ja gerade die rechten Füßchen, um es dort hinaufzuschaffen«, zischte der Gefiederte.

»Nehmt mir den verdammten Balken von den Schultern! Der Weg ist zu eng. Wenn ich damit gegen den Fels stoße, werde ich abrutschen.«

»Hast du etwa Sorgen, dass dich das umbringen könnte?« Išta lachte ihm ins Gesicht. »Hast du so viel Zeit mit der Elfe verbracht, dass du deine eigene Unsterblichkeit vergessen hast?«

»Ich bin schon einmal von einem Wolkenschiff gestürzt. Ich weiß, wie es sich anfühlt, sich jeden verdammten Knochen im Leib zu brechen.«

»Dann wirst du jetzt sicher vorsichtig sein«, stichelte nun auch Langarm. »Los, hoch mit dir! Mir ist kalt.«

»Bringen wir es doch gleich hier zu Ende«, verlangte der Gefiederte. »Warum plagen wir uns mit ihm? Er hat uns verraten. Richten wir ihn! Ich verstehe nicht, was diese endlose Wanderschaft in den Bergen soll.«

»Wir bringen ihn zu dem Platz, den ich für ihn vorgesehen habe.« Išta sprach in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Der Ebermann fragte sich, was für ein Ort das sein würde, zu dem sie ihn brachten. Was hatte Išta mit ihm vor? Vorsichtig stieg er auf den vereisten Saumpfad. Wie er befürchtet hatte, war er so eng, dass er sich mit dem Rücken zur Felswand drehen musste, um nicht von dem Balken behindert zu werden, der wie ein Ochsenjoch über seinen Schultern lag.

Išta schwang sich in die Lüfte und flog neben ihm her. Sie war schön. Und sie wusste das. Sie sah ihn lange schweigend an. Er wollte nicht reden. Was gab es auch schon zu sagen? Sie war für all das verantwortlich. Sie hatte zugesehen, wie Langarm ihm Nägel durch die Hände getrieben hatte. Sie hatte ihm diesen Marsch erwählt.

»Die Elfe hat dich verraten, Bruder.«

Er versuchte, den Kopf zu heben, doch das Joch verhinderte es. Das war eine Lüge. Lyvianne war gestorben. Sie wäre niemals zurückgekehrt, wenn sie Verrat geübt hätte.

»Sie hat all eure Geheimnisse ihrem Drachen verraten. Hast du wirklich geglaubt, eine Drachenelfe würde das Wort, das sie einem Devanthar gegeben hat, über die Treue zu ihrer Himmelsschlange stellen. Sag mir, dass du nicht so dumm gewesen bist.«

Er schwieg weiterhin. Er hatte Lyvianne vertraut.

»Ihr Drache hat euch beide verraten.«

Sein Kopf ruckte hoch und schlug hart gegen das Holz. »Ihr Drache!«

»Was glaubst du, woher ich wusste, wo und wann ihr beide zu finden seid?«

Er lehnte sich gegen die Steilwand. Ihn schwindelte. Unter ihm wirbelte Schnee. Der Abgrund war ein Chaos aus tobendem Weiß. Die Felsen, auf denen er zerschellen würde, waren nicht zu sehen. Seine Beine begannen zu zittern. Das Weiß lockte … Doch es würde ihm kein Vergessen schenken. Er würde nicht sterben, wenn er auf den Talgrund schlug. Er würde nur noch mehr Schmerzen leiden. Wollte Išta das? Er dachte an die perfide Strafe, die sie für Anatu ersonnen hatte. Auf ewig gefangen im Schädel des toten Geliebten. Was Išta wohl für ihn bereithielt?

Was immer es war, er würde sich stellen. Er richtete sich auf, ging weiter den vereisten Steig hinauf. Er war nicht Anatu! Er würde nicht wahnsinnig werden!

»Du gibst nie auf zu kämpfen, Bruder. Das habe ich schon immer an dir geschätzt.«

»Wie solltest du vom Goldenen über meine Pläne erfahren haben? Ich nehme nicht an, dass du so töricht warst, dich mit einer Himmelsschlange zu treffen.«

Sie lachte. »Glaubst du wirklich, ich erzähle dir das? Dir, der du so lange hinter meinen Geheimnissen hergeschnüffelt hast. In einem anderen Zeitalter vielleicht …«

Bedeutete die Antwort, dass sie ihn nicht ermorden würde? Alles sprach dafür. Sie hätte ihn in Anatus zerfallenem Palast töten können oder in der Schmiede Langarms. Sie wollte etwas anderes … Wieder dachte er an das Schicksal Anatus, die im Schädel ihres Drachen eingesperrt wahnsinnig geworden war. Manchmal war es besser, tot zu sein.

Der Ebermann zog es vor zu schweigen, und Išta stieg höher in den Himmel hinauf, bis sie im Schneegestöber verschwand. Sie stieg zu den Sternen empor, und er ging am Rand des Abgrunds. Er war kurz davor, alles zu verlieren.

Nach langem Aufstieg, immer wieder angetrieben von seinen beiden Brüdern, erreichte er eine Klamm, die gerade weit genug war, dass er mit seinem Joch hindurchpasste. Es war inzwischen so kalt, dass der Schnee auf seinem struppigen grauen Fell nicht mehr schmolz. Auch die Hitze der Ketten war abgeklungen. Doch die Wunden in seinen Händen bluteten wieder. Die Sicht in der Klamm war schlecht. Alle paar Schritt stieß er mit dem Balken gegen einen Felsvorsprung. Jedes Mal gab es einen schmerzhaften Ruck, dort wo die Nägel sein Fleisch durchdrungen hatten.

Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ganz gleich, welche Niederträchtigkeit ihn hier erwartete, er würde seine Niederlage zumindest erhobenen Hauptes tragen. Als sich die Klamm zu einem kleinen Tal weitete, ging der Gefiederte an ihm vorüber.

»Folge mir!«, befahl er barsch.

Durch die Last auf seinen Schultern in eine gebückte Haltung gezwungen, konnte der Ebermann nicht sehen, was auf dem ansteigenden Pfad vor ihnen lag. Endlich erreichten sie eine Spalte im Fels, in die ihn seine Wächter grob hineindrängten. Sie waren unübersehbar erleichtert, ihr Ziel erreicht zu haben.

Schon nach wenigen Schritten erweiterte sich der schmale, tunnelartige Einstieg zu einer großen Tropfsteinhöhle. Ein Prickeln überlief den Ebermann. Der Ort war durchdrungen von Magie. Schimmerndes Eis bedeckte die Wände. Dahinter schienen Lichter gefangen zu sein. Sie sahen wie kleine Flammen aus und wanderten zur Decke hinauf, wo sich ihr Licht in Hunderten schillernder Eiszapfen verfing. In der Höhle war es fast so hell wie auf einer Wiese an einem wolkenlosen Sommertag.

Staunend sah der Ebermann sich um. Etliche der Tropfsteine waren zu mächtigen Säulen verwachsen. Sie ließen die Höhle wie einen Thronsaal aussehen. Deutlich spürte der Ebermann die Kraftlinien, die sich hier kreuzten. Es waren fünf. Sie bildeten ein Tor, über das jedoch ein machtvoller Zauber gelegt war. Išta schwebte von der hohen Decke herab. Woher war sie gekommen? Eben hatte er sie noch nicht gesehen.

»Gefällt dir das Domizil, das ich für dich auserwählt habe? Es ist von so wilder Schönheit wie dein Charakter.«

Der Ebermann schwieg. Gemeinsam mit Lyvianne hätte er den Krieg zwischen Himmelsschlangen und Devanthar beenden können, wenn sie Ištas Verrat aufgedeckt hätten. Jetzt aber war Išta nicht mehr aufzuhalten. Hatte Lyvianne das am Ende vielleicht gewollt? War sie gekommen, um zu scheitern? Um Išta in ihrer Arroganz zu bestärken? Ihre Erfolge würden seine Schwester leichtfertig werden lassen. Sie hielt sich für unbesiegbar. Išta war schon jetzt so mächtig, dass ihr fast alle anderen Devanthar ohne Widerspruch folgen würden. Hatten die Himmelsschlangen und die Alben bereits eine Falle für seine Brüder und Schwestern vorbereitet? Ja, vielleicht gingen Lyviannes Pläne sogar noch weiter. Hatte die Elfe sich aufgegeben, damit sich die alten Herrscher, die Devanthar und die Alben, in einem blutigen Krieg zerfleischten? Einige seiner Brüder und Schwestern glaubten, dass sich das Zeitalter der Drachen schon bald dem Ende zuneigen würde.