Tag um Tag sah er so vergehen. Mehr als eine Woche verstrich, bis er bereit war zu akzeptieren, was ihm so überdeutlich vor Augen stand: In dieser Höhle, die sie ihm zum Gefängnis bestimmt hatten, verstrich die Zeit anders! Ein Tag hier mochte ein ganzer Mond dort draußen sein.
Da erkannte der Ebermann, dass er das Ausmaß seiner Strafe gar nicht ermessen konnte! Er war ein Devanthar. Er würde weder Hunger leiden noch Durst, ganz gleich wie lange er hier gefangen wäre. Er war unsterblich. Zeit spielte für ihn keine Rolle, hatte er bislang immer gedacht … Wie sehr er sich getäuscht hatte! Seine Brüder und Schwestern würden die Welt verändern. Ohne ihn!
Noch immer zweifelte er nicht daran, dass er sich befreien konnte. Doch bis es so weit war, mochten dort draußen Jahrhunderte vergangen sein. Er hatte nach ihrem Sieg die neue Welt ohne Himmelsschlangen und Albenkinder miterschaffen wollen. Er hatte sie wachsen sehen wollen. Hatte Teil der Fehler und Triumphe der Menschenkinder sein wollen. Und sei es nur als Beobachter! Das war sein Lebenszweck gewesen. Und das hatte Išta ihm nun gestohlen.
In blinder Wut und Verzweiflung hämmerte er mit den Fäusten gegen die eisige Wand, die er nicht zu zerbrechen vermochte, während dahinter ein neuer Tag anbrach. Wäre er nur niemals dieser geheimnisvollen Drachenelfe begegnet!
Der letzte Weg
War ihre Freundschaft eine Lüge gewesen? Volodi blickte auf den ganz in weiße Tücher geschlagenen Leichnam. Ein himmelblauer Umhang war über den Leib gebreitet. So blieb verborgen, dass ihm kein Arm mehr fehlte. Er selbst hatte Kolja gewaschen und in seine Leichentücher geschlagen. Er würde seinem Freund eine Lüge auf sein letztes Geleit geben, und er war sich sicher, dass es dem Faustkämpfer gefallen hätte. Es waren stets die derben Scherze gewesen, die ihn hatten lachen lassen.
Quetzalli war dafür gewesen, ihn unauffällig mit all den anderen Toten nach Drusna zu bringen. Sie hatte den großen Begräbniszug ihm zu Ehren bis zuletzt abgelehnt. Sie wollte nicht, dass sein Name genannt wurde. Wollte ihm das Heldenbegräbnis verweigern. Sie hatte ihm nicht verziehen.
Als es nichts mehr zu tun gab, legte Volodi dem Toten die Hände auf die Schultern und küsste dessen mit Leinen bedeckte Stirn. »Lebe wohl, Kamerad. Du hast stets die großen Auftritte geliebt. Die Arena, die Triumphzüge nach den großen Siegen, die Geste in den Hurenhäusern nach den kleinen Siegen. Heute sollst du deinen letzten großen Auftritt haben.«
Der Unsterbliche richtete sich auf. Er war allein in der Festhalle. »Öffnet das Tor!«
Die vergoldeten Türflügel schwangen auf. Sechs Männer mit schweren Bärenfellen auf den Schultern traten ein. Oleg führte sie an. Es waren die Hauptleute seiner Leibwache. Silberne Krallen hielten die Felle über der Brust zusammen. Ein jeder von ihnen hatte eine schwere Axt im Gürtel stecken, deren Blatt aus den Schmieden der Devanthar stammte. Drei von ihnen trugen Speere.
Mit feierlich langsamem Schritt traten sie an die schwere Eichenplatte, auf der Kolja aufgebahrt lag. Sie schoben die Speere durch die Ringe unter der Platte. Dann knieten sie nieder, stemmten die Schultern unter die Speerschäfte und hoben die Tischplatte mit dem Leichnam von den Böcken, auf denen sie geruht hatte.
Schweigend führte Volodi das letzte Geleit seines Freundes aus der Halle. Auf dem Hof unter der Terrasse waren dreiundzwanzig weitere Männer aufgebahrt. Als der Unsterbliche den rechten Arm hob, erklangen Hörner von allen Ankertürmen rings um den Palast. Auf das Signal hin wurden die anderen Krieger angehoben. Auch ihre Leichen waren in weißes Leinen gekleidet. Ihre Waffen lagen ihnen auf der Brust. Auf Stangen drapiert wurden ihre Rüstungen hinter ihnen hergetragen. Bronzepanzer und schwere Eberzahnhelme mit Pferdehaarbüschen. Viele der Rüstungsteile trugen noch die Zeichen ihres letzten Kampfes. Sie würden in die Äste der Eichen gehängt, dort, wo auch die Toten zu ihrer letzten Ruhe aufgebahrt werden würden.
Volodi war sich sicher, dass die Daimonen seinetwegen gekommen waren, um ihn zu ermorden. Das passte zu ihrer Heimtücke. All diese Männer waren gestorben, weil sie verhindern wollten, dass ihr Herrscher gemeuchelt wurde. Deshalb würden sie alle, auch Kolja, die Ehre haben, im Heiligen Hain bei Drei Eichen, seinem Geburtsort, ihren Frieden zu finden. Es sei denn, Verwandte erschienen, die ihre Toten einforderten, um sie in die eigenen Geisterhaine zu bringen.
Koljas Leichnam wurde an der Spitze der Prozession vom Hof getragen. Volodi schritt neben ihm. Sie gingen durch die enge Gasse an der Rückseite des Palastes. Er sah Quetzalli auf der Terrasse vor der Festhalle. Sie würde zurückbleiben. Auch wenn in Drusna nicht mehr so viel über sie geredet wurde, war es besser, kein Öl ins Feuer zu gießen, indem die vermeintliche zapotische Hexe auf einem großen Totenfest erschien.
Nur wenige Männer standen auf den Flachdächern der ärmlichen Häuser und blickten auf den Leichenzug hinab. Volodi hatte darauf gehofft, dass es mehr sein würden. Dass die Stadt endlich zusammenhalten würde. Er presste die Lippen zusammen und versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Alle Fürsten wussten von der Leichenprozession – hatten sie mit ihren eigenen Toten zu tun? Volodi hatte gehört, dass es auf dem Platz vor der Goldenen Pforte ein Massaker gegeben hatte. Verdammte Daimonen! Sie würden es ihnen heimzahlen. Was ging nur in deren verrotteten Hirnen vor sich, friedliche Karawanen zu überfallen und ein Gemetzel unter Lastenträgern anzurichten?
Aber das hatten sie ja auch schon in Wanu, im eisigen Norden, getan. Sie mussten sie besiegen! Mussten dafür sorgen, dass sie nie mehr Unschuldige überfielen. Dem würde er sein Leben widmen, schwor sich Volodi stumm, und wenn er dafür bis zum Ende seiner Tage kämpfen musste.
Als sie auf die erste Hauptstraße einbogen, erwartete sie eine Gruppe freizügig gekleideter Damen. Es mussten mehr als fünfzig sein. Einige von ihnen kannte Volodi. Sie hatten in den Hurenhäusern der Zinnernen gearbeitet.
Eine große Rothaarige führte die Gruppe an. Sie hielt etwas silbern Funkelndes in Händen. »Bitte verzeiht, Unsterblicher, wenn ich es wage, Euch in den Weg zu treten.« Sie verbeugte sich demütig und küsste den Saum seines Gewandes. Volodi war das peinlich. Er erinnerte sich, einmal bei ihr gelegen zu haben. Sie wusste ganz genau, wie menschlich er war.
»Wir wollten Kolja ein Geschenk mit auf seine letzte Reise geben«, erklärte sie mit einem Akzent, der verriet, dass sie weit aus dem Osten Drusnas stammte. Ihre mandelförmigen Augen ließen vermuten, dass es auch Steppenreiter aus Ischkuza unter ihren Vorfahren gab. »Er hat uns beschützt und dafür gesorgt, dass seine Häuser sauber und gut geführt waren. Das ist mehr, als die meisten tun.«
Jetzt erst erkannte Volodi, was sie in Händen hielt. Es war ein versilberter Phallus. Er spürte, wie ihm Hitze in die Wangen stieg. Gut, dass Quetzalli nicht hier war. Er räusperte sich verlegen. »Leg es auf die Bahre, Tonka.«
Sie sah überrascht zu ihm auf. »Ihr erinnert Euch, Unsterblicher?«
»Ich habe nicht so viele schöne Erinnerungen, dass ich es mir leisten könnte, auch nur eine von ihnen zu vergessen.«
Tonka schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. Er war sich nicht ganz sicher, ob es wirklich echt war oder sich darin nur widerspiegelte, dass sie hundertfach erprobt hatte, was Männerherzen höherschlagen ließ. Sie stand auf und legte den schweren silbernen Phallus auf die Bahre. Dann gab sie den Weg frei. Mit den anderen Mädchen säumte sie die weite Straße.
Der Trauerzug setzte sich erneut in Bewegung. Ihr Weg führte sie weiter zu einer breiten Treppe, die aus dem Felsgestein geschlagen war. Sie wurde von bunt bemalten Reliefs gesäumt, die Fischer in ihren flachen Booten auf dem großen Fluss zeigten. Die Häuser hier hatten kaum Schaden genommen.