Kaum dass Volodi den ersten Schritt auf die Treppe tat, erscholl über ihm ein lauter Kommandoruf.
»Achtung!«
Der Unsterbliche beschleunigte die Schritte. Nahm immer zwei Stufen auf einmal. Und dann sah er sie. Hunderte Krieger, sie säumten die Straße, manche waren Krüppel, die sich nur noch auf Krücken hielten. Viele hatten von Narben entstellte Gesichter. Sie alle hatten den harten Blick derjenigen, die zu viele Schlachtfelder gesehen hatten. Nun sahen all diese Augen auf ihn.
Volodi straffte sich. Er spürte einen Kloß im Hals. Er kannte sie. Mit fast allen hatte er gemeinsam gekämpft. Es waren die Zinnernen. Jene Piraten, die sich vor Jahren dem Unsterblichen Aaron angeschlossen hatten, um ihm als Söldner zu dienen. Das kleine Heer von Halunken, das Volodi zusammen mit Kolja befehligt hatte. Die Männer, denen nun die Bordelle der Goldenen Stadt gehörten.
Die Hauptleute, die Kolja trugen, erreichten die oberste Stufe. Einen Herzschlag lang war es totenstill. Dann ertönte ein leises Scheppern. Ein zweites folgte. Ein drittes.
Die Männer schlugen gegen ihre Brustpanzer aus Bronze und Leder. Es war ein langsamer Rhythmus, so wie ein Herz schlug, das müde geworden war. Als die Bahre durch das Spalier der Krieger getragen wurde, warfen die Männer kleine silberne Münzen. Sie prasselten auf den eingewickelten Leichnam nieder. Nur wenige verfehlten ihr Ziel. Jeder Krieger hatte nur eine Münze.
Volodi bückte sich nach einer, die von der Tischplatte hinabgerollt war. Sie zeigte eine Faust, die mit dem messingbeschlagenen Riemen der Faustkämpfer umwickelt war. Auf der Rückseite prangten drei Lorbeerkränze. Zeichen für die drei Siege, die die Zinnernen hatten erringen müssen, um wieder freie Männer zu werden. Kolja hatte sie in jeder dieser Schlachten geführt. Drei Zinnmünzen hatte ein jeder der Zinnernen gebraucht, um sich von Aaron wieder freizukaufen. Nun gab es eine vierte Münze. Die Männer hatten sie Kolja zu Ehren machen lassen.
Stolz ging Volodi durch die von Kriegern gesäumte Prachtstraße. Dies war ein Abschied, wie ihn Kolja sich gewünscht hätte. Der langsame Rhythmus der Fäuste, die auf Rüstungen schlugen, begleitete sie noch, als sie schon längst die Stufen zu nächsten Terrasse erklommen hatten.
Sie waren nun auf dem Weg zur Goldenen Pforte. Hier säumten Bewohner der Stadt ihren Weg, Handwerker und Tempeldiener, Bettler und Gardisten. Tausende standen auf der Straße und auf den Dächern. Sie schwiegen. Lauschten auf das leise Grollen der kampferprobten Fäuste, die nicht müde wurden, ihren letzten Gruß den Toten nachzusenden.
Der Platz vor der Goldenen Pforte war nicht minder gefüllt. Doch es waren die Unsterblichen, die hier warteten. Das Morgenlicht brach sich in funkelnden Löwenstandarten. Den Standarten, unter denen er mit Kolja zusammen auf der Hochebene von Kush gekämpft hatte. Daneben waren die Adler von Valesia zu sehen, die sich windenden seidenen Stoffschläuche der Ischkuzaia, die Federstandarten der Zapote und die Feldzeichen der anderen Großreiche. Fast alle warteten mit aufgebahrten Leichen. Das mussten die Toten des Kampfes hier auf dem Platz sein.
Der Unsterbliche Aaron löste sich aus der Gruppe der Herrscher. Ihm folgten Ashot, der vom Bauern zum Feldherrn aufgestiegen war, und Mataan, der hünenhafte Satrap von Taruad, der für Aaron im Steinhorst fast sein Leben gegeben hatte und so schwer verletzt worden war, dass er nun am Stock ging und nie mehr für Aaron in die Schlacht ziehen würde. Auch Ormu, der rotbärtige Jäger und Bogenschütze, der die Leibwache des Unsterblichen befehligte, war dabei. Er trug ein seltsames Gewand. Ein Jagdhemd aus hellem Leder, das mit Vogelschwingen geschmückt war.
Aaron begrüßte Volodi mit einem Kuss auf die Wange. »Willkommen, Bruder. Wir teilen deinen Schmerz.«
Der Drusnier fühlte sich nicht wohl. Er hasste es, Aaron belügen zu müssen. Aber über die Wahrheit konnten sie nur unter vier Augen sprechen. »Du hast ihn tot auf dem seltsamen Wolkensammler gefunden? Und der Fremde ist seit der Schlacht mit den Daimonen spurlos verschwunden?«
Das war die Lüge, die Volodi gestern im Palast verbreitet hatte. Und all jene, die die Wahrheit erraten hatten, so wie Quetzalli oder Oleg und Yuri, hatte er darauf eingeschworen, dass es ein Geheimnis bleiben sollte. Aber er wusste, dass Aaron Spitzel hatte. Volodi sah über den Platz zu den anderen Unsterblichen. Hatten auch sie ihre Spione in seinem Palast? Iwar hatte auf derlei immer verzichtet. Vielleicht würde er das ändern müssen. Volodi wartete darauf, dass seine inneren Stimmen Einspruch erhoben, doch sie blieben stumm.
Aaron schlug seinen Umhang zurück und zeigte ihm ein Langschwert in einer prächtigen, goldenen Scheide. Es waren Bilder von Streitwagenfahrern und Kriegselefanten in das Gold gearbeitet. Bilder der Schlachten, in denen Kolja gekämpft hatte.
»Sein Ruhm und seine Taten sollen länger währen als sein Leben«, sagte Aaron feierlich. »Möge dieses Schwert allen, die im Geisterhain unter seinem Baum stehen, von Mut und Kühnheit des Feldherrn Kolja, des Ersten unter den Zinnernen, künden.«
Volodi gab den Totenträgern ein Zeichen, und sie knieten nieder. Der Unsterbliche Aaron trat an die Bahre und legte Kolja das Schwert auf die Brust. »Mögest du deinen Frieden finden, wohin auch immer deine Seele gegangen ist.«
Volodi betrachtete staunend das wunderbare Geschenk. Die Goldschmiede Arams waren berühmt, doch wie hatten sie dieses Kleinod in nur einer Nacht erschaffen können?
Die Bahre wurde wieder hochgehoben.
Silberne Fanfaren erschollen. Es kam Bewegung in die Menschenmengen auf dem Platz. Eine weite Gasse hin zum Tor zwischen den Götterbildern öffnete sich. Vor der Goldenen Pforte standen sechs geflügelte Löwen, die wachsam zum Himmel blickten. Als Volodi den Blick hob, sah er, dass dort noch weitere Löwen kreisten. Heute würden die Daimonen gewiss nicht wagen anzugreifen.
»Eigentlich hätte das Geschenk für dich sein sollen«, flüsterte ihm Aaron zu, als hätte der Unsterbliche seine Gedanken erraten. »Meine Schmiede werden ein neues, ein besseres Schwert fertigen.«
»Warum?« Volodi war aufrichtig überrascht. Es gab keinen Grund, warum Aaron ihm Geschenke machen sollte.
Der Unsterbliche lächelte ihn an. »Weil du ein Freund bist. Die Höflichkeit gebot es, heute nicht mit leeren Händen zu kommen.« Er hob die Stimme leicht, um gegen den Klang der Fanfaren anzukommen. »Du bist ein wirklich guter Freund!« Aaron sah zur Bahre mit dem Toten. »Er war …« Der Herrscher Arams machte eine nachdenkliche Pause. »Er war ein herausragender Kämpfer«, schloss er schließlich mit wenig Enthusiasmus.
Volodi fühlte sich niederträchtig. Er hatte Aaron wie alle anderen getäuscht. Aber es war besser, das Geheimnis Koljas zu den Toten zu tragen. Er hatte es mit sich in die Welt der Geister genommen. Niemand würde mehr erfahren, wo das Traumeis versteckt war. Es war besser, das Gespinst von Lügen weiterzuweben. Die Wahrheit war noch viel unerträglicher als die Lügen. Aarons Traum, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, hätte Wirklichkeit werden können, wäre das Traumeis nicht verloren gegangen.
Volodi wandte sich zu dem Wolkensammler um, der hoch über seinem Palast vor Anker lag. Er würde der einzige seiner Art bleiben. Nur er hatte die Freiheit gefunden und konnte fliegen, wohin immer er wollte. Alle anderen würden nur mit dem Wind treiben. Genauso war es mit den Menschen, dachte Volodi bitter. Sie würden mit den Winden des Schicksals treiben, statt es selbst zu bestimmen.
Er küsste Aaron auf die Wange. »Ich werde bestatten, was auf immer verloren ist.«
Der Totenträger
Sie waren ein schönes Paar, die Seidene und der Piratenfürst. Ilmari gönnte sich einen Augenblick, die beiden zu betrachten, wie sie auf ihrer Prunkbarke den Schwarzgürtel hinabgefahren kamen. Die Goldbeschläge des Bootes spiegelten sich im nachtschwarzen Wasser. Die beiden hielten sich bei den Händen und wirkten wie Kinder, die zum ersten Mal von der süßen Frucht der Liebe gekostet hatten. Sie sahen aus wie ein wirkliches Fürstenpaar, die Hure und der Mörder.