Der Unsterbliche Aaron hatte Ilmari eindringlich vor Tarkon gewarnt. Er sollte nicht versuchen, ihn zu töten. Es gab verbürgte Berichte, dass der Himmelspirat mindestens schon drei Mal umgekommen war. Er schonte sich nicht im Kampf, focht stets in der ersten Reihe, doch seine nackten, braungebrannten Arme waren gänzlich ohne Narben.
Als die Barke am moosdunklen Kai anlegte, stürmten Kinder auf das Boot zu. Die Seidene und ihr Geliebter verteilten mit vollen Händen frisches Obst. Sie genossen die Jubelrufe der Kleinen, die herzhaft in die Orangen bissen, sodass ihnen der goldene Saft der Früchte das Kinn hinabtroff.
Ilmari wandte sich ab und stieg die steile Gasse zum Totenhaus hinauf. Es war das prächtigste Gebäude in Tiefwasser. Und das gefürchtetste. Niemand kam freiwillig dorthin, und die dicken Mauern würden das laute und fröhliche Kindergelächter verschlucken. Dort war es immer still. Und Ilmari liebte die Stille. Zwei Monde lang war er durch die sieben Städte gereicht worden. Er war Pflücker in den Pilzgrotten gewesen, hatte die weißen Kaimane gejagt und hoch in den Felsen die großen Fledermäuse. Drei Tage lang hatte er bei den Färbern verbracht, die mit ihren grellbunten Stoffen gegen die Düsternis der sieben Städte ankämpften. Überall war er angeeckt. Er fügte sich schwer ein. Er hatte es nicht anders gewollt.
Er brauchte eine Arbeit, die ihn in alle sieben Städte führte. Denn er sollte sie ausspähen, die verborgene Kolonie des Piratenfürsten, die überall auf Nangog nur die Wolkenstadt genannt wurde. Die Unsterblichen hatten keine Ahnung, wie stark ihr Widersacher wirklich war. Er gebot nicht über eine Stadt, er hatte sich ein kleines Reich aufgebaut. Alles gab es hier: Schmiede und Zimmerleute, Tuchmacher und Töpfer, Buchhalter und Schweinezüchter.
Alle hatten Tarkon unterschätzt. Seine sieben Städte lagen tief in den Herzen großer Tafelberge inmitten des Dschungels verborgen, weit im Westen des Purpurnen Meeres. Unterirdische Flüsse und labyrinthische Tunnelsysteme verbanden die einzelnen Städte miteinander. Ihre Bewohner durften so gut wie nie hinaus ins Tageslicht. Es gab keinen Fluchtweg. Nur die Wolkenschiffe, die im Himmelshafen anlegten, konnten einen in die Freiheit tragen. So hieß es zumindest. Ilmari bezweifelte das. Es gab immer einen Weg hinaus. Und er würde ihn finden. Deshalb war er hier. Er sollte für den Unsterblichen Aaron die Festung Tarkon Eisenzunges ausspähen und einen Plan ersinnen, wie sie zu erstürmen war.
Jetzt, nach zwei Monden, hatte er endlich die Arbeit gefunden, die ihm erlaubte, alle sieben Städte zu bereisen. Eine Arbeit, die ihn auf kurz oder lang in jedes Haus bringen würde. Er war der Totenträger. Es war seine Aufgabe, die Siedlungen zu bereisen und die Toten hierher nach Tiefwasser zu holen. Denn hier lag der Weiße Schlund, der einzige Ort, an dem die Verstorbenen bestattet werden durften.
Im Eingang zum Totenhaus blieb Ilmari stehen. Noch immer war das ausgelassene Lachen der Kinder zu hören. Anfangs war er überrascht gewesen. Nirgends auf Nangog wurden den Menschen Kinder geboren. Kamen schwangere Frauen auf diese verfluchte Welt, dann starb die Frucht in ihrem Leibe ab. Der perfide Fluch der Riesin machte es schwer, auf Dauer Siedlungen in ihrer Welt zu begründen. Doch hier schien er nicht mehr zu gelten. Es musste Hunderte Kinder in diesen Städten geben. Ganz offensichtlich lag der Segen der Göttin auf den Verrätern, die sich von den Unsterblichen abgewandt hatten.
Lauter als das Kinderlachen war nur das Tosen des Weißen Schlunds. Er lag hinter dem stillen Totenhaus. Ilmari besuchte ihn täglich, selbst wenn es keine Leichen gab, die er ihm als Opfergaben darbringen konnte. Eigentlich war er heute schon dort gewesen, doch das Rauschen des stürzenden Wassers lockte ihn. War dies der Fluchtweg aus den Städten des Piraten?
Ilmari folgte mit müdem, bedächtigem Gang dem Fluss. Auf seinen letzten hundert Schritt verwandelte sich der träge Schwarzgürtel in einen Gischt sprühenden Strom, der zwischen Felsen hindurch auf einen bodenlosen Abgrund zufloss. Hier lag das Grab aller sieben Städte. Es war schon seltsam. Wollte man hierher in die verborgenen Höhlenstädte kommen, um ein neues, glücklicheres Leben zu beginnen, musste man auf einem Wolkensammler durch einen Wasserfall schweben, um im Himmelshafen anzulegen. Und wenn das Leben vorüber war, wurde man selbst Teil dieses Wasserfalls hier, um auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen der Erde zu verschwinden.
Lange verharrte er an dem Abgrund. Die Tiefe übte einen Sog auf ihn aus. Sein Leben fühlte sich leer an. Sollte er nicht schon längst dort unten sein? Er hatte kein Ziel. Keine Familie. Ohne einen Ankerturm zu haben, trieb ihn sein Schicksal von Mord zu Mord. Er war ein Werkzeug anderer … Ilmari straffte sich. Die dunklen Städte in den Bergen bekamen ihm nicht. Früher hatten ihn nie solche Gedanken gequält. Er hatte einen klaren Auftrag! Abrupt wandte er sich ab und strebte mit eiligen Schritten dem Totenhaus entgegen.
Angenehme Kühle empfing ihn in der weiten Eingangshalle. Etliche Türen führten aus dem runden Raum. Soweit er wusste, lagen dort Archive. Offensichtlich waren die Rebellen geradezu versessen darauf niederzulegen, wer ihnen einst angehört hatte, wer mit wem verwandt war und welche dieser Verwandten wo auf Daia lebten. Ilmari hatte Tausende von Schrifttafeln gesehen, obwohl er erst in zwei der angrenzenden Räume gewesen war. Urs, sein Gebieter, der Einbalsamierer und Herrscher über die Toten, und dessen Vorgänger hatten akribisch Buch über jeden Verstorbenen geführt, der hierhergekommen war, und über dessen Verbindungen zu den noch Lebenden.
Der Spitzel schritt zur weiten Wendeltreppe, die im Mittelpunkt der großen Eingangshalle des Totenhauses lag. Der Boden rings herum war mit einem schönen Mosaik ausgelegt. Es zeigte schäumendes, sich in einem Strudel windendes Wasser. Es war eine Stein gewordene Version des Weißen Schlundes. Jeder, dem es bestimmt war, seine letzte Reise durch das Wasser anzutreten, kam zunächst hierher.
Erst am Morgen hatte Ilmari einen weiteren Toten gebracht. Nun würde er ihn auf seine letzte Reise vorbereiten. Der neue Totenträger stieg die weit geschwungene Wendeltreppe hinab. Je tiefer er kam, desto stärker wurde ein säuerlicher Geruch.
Am Fuß der Treppe befand sich die Halle der Toten. Sie war wie ein Spiegelbild der oberen Halle. Kreisrund, fast zwanzig Schritt durchmessend. Nah der Treppe erhoben sich Steinblöcke, groß wie Altäre. Hier pflegte er die Toten abzulegen. Meist blieb er aber nicht lange, denn dies war das Reich von Urs.
Während er bedächtig ein paar Schritte in die Halle machte, sah er sich aufmerksam um. Entlang der Wand lagen zwei Reihen von Becken. Sie waren länglich, etwas größer als Wassertröge und mit halbflüssiger, dunkelbrauner Erde gefüllt. Ihnen entstieg dieser Geruch, an den sich Ilmari immer noch nicht gewöhnt hatte. Er betrachtete die rätselhaften Kreidezeichen neben den im Boden eingelassenen Trögen. Urs hatte ihm deren Bedeutung noch nicht verraten. Es schien keine Schrift zu sein. Zumindest keine, die Ilmari gekannt hätte.
Einige Öllämpchen standen zwischen den Schlammbecken.
»Hier, mein Junge«, erscholl es plötzlich dumpf durch den Raum. »Hier, du hast mich fast erreicht.«
Ilmari war sich nicht sicher, woher die Stimme kam. Sieben Portale mündeten in den Raum. Sie führten zu angrenzenden Kammern. Davon hatte er erst eine je betreten. Seine Aufgabe war es, die Toten hier auf den Steinblöcken abzulegen und sie wieder zu holen, wenn sie in Leinen eingewickelt waren, bereit für ihre letzte Reise durch den Weißen Schlund. Manchmal, wenn er die Leichen hier abholte, erschienen sie ihm leichter als zuvor. Er wusste nicht, was Urs mit ihnen machte. Und er hatte keine Fragen gestellt. Er war der Totenträger. Sonst nichts.
»Kommst du, mein Junge?«
Ilmari mochte es nicht, Junge genannt zu werden. Wenn er eines nicht war, dann ein harmloser Junge. Er war nicht einmal jung.