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Durch drei der Portale fiel blasses, gelbes Licht. Aus einem davon hörte er Wasser von einem Stein tropfen. Dort musste die Frau sein. Sie war so scheu, dass er sie bislang nur flüchtig gesehen und nicht versucht hatte, Bekanntschaft mit ihr zu schließen. Dies war das Haus der Toten, und die herausragendste Eigenschaft dieses Ortes war, dass alle Bekanntschaften, außer die zu Urs, nur flüchtig sein konnten.

Er zögerte kurz, dann trat er auf gut Glück durch das Portal, das der Wendeltreppe gegenüberlag. Die Kammer dahinter wurde von einem großen Altarstein beherrscht, auf dem der Leichnam eines Knaben lag. Dahinter stand Urs.

»Hast gute Ohren, mein Junge.« Schwer auf einen Steinblock gestützt, begrüßte ihn der Herr des Totenhauses mit einem Lächeln. Drei Öllampen standen auf dem Altar. Ihr Licht strahlte von unten in das feiste Gesicht und ließ es düster und geheimnisvoll erscheinen. Selten hatte Ilmari einen fetteren Menschen als Urs gesehen. Er hatte die blasse Haut aller, die schon lange in den verborgenen Städten lebten. Nur seine tief im Schädel eingesunkenen Augen waren bemerkenswert. Er umrandete sie mit Ruß. So wirkten sie riesig.

Urs war groß, doch das Gewicht seines Leibes hatte ihm den Rücken gekrümmt. Er trug kein Hemd. Sein obszön aufgedunsener Leib war in allem das Gegenteil des hageren Jungen, der vor ihm auf dem Altarstein lag. Nur die unheimlich blasse Haut hatten sie gemeinsam.

»Jetzt sehen wir mal, ob du ein richtiger Mann bist, Ilmari. Bisher hast du ja nur die Arbeit von Jungen gemacht. Schleppen kann jeder … Für das hier braucht man etwas mehr Mumm.« Mit diesen Worten klatschte er dem Jungen mit seiner aufgequollenen Hand auf die Brust. Dabei sickerte dunkles Sekret aus einem schlecht vernähten Schnitt unterhalb des Rippenbogens.

Ilmari war sich sicher, dass der Junge diese Wunde nicht gehabt hatte, als er ihn hierhergebracht hatte.

Der Herr des Totenhauses wies auf ein ordentlich gefaltetes Leintuch, das zu Füßen des Jungen lag. »Einnähen!«

»Sollten wir ihn nicht noch einmal reinigen?« Er deutete auf das Wundsekret, das sich im Bauchnabel des Jungen sammelte.

»Papperlapapp. Die Stumme hat das erledigt. Hier wird keiner zwei Mal gewaschen.« Er strich dem Knaben durch das gelockte, schwarze Haar. »Und du bekommst ganz sicher keinen Besuch mehr. Mit dir ist’s vorüber. Ganz und gar.«

Ilmari versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie abstoßend er fand, was Urs da tat. Er selbst hatte längst aufgehört zu zählen, wen er alles umgebracht hatte. Er war den Lebenden bestenfalls ein launischer Gefährte. Den Toten aber hatte er stets Respekt erwiesen.

Behutsam breitete er das bereitliegende Leintuch über den Jungen, schob es unter seinem Rücken hindurch und faltete es über seiner Brust zusammen. Dann sah er fragend zu Urs auf. Er hatte das hier noch nie getan.

»Zunähen, Junge. Das wirst du doch noch hinbekommen.« Urs deutete auf eine gebogene Bronzenadel, auf die bereits ein Faden aufgezogen war.

Zögerlich begann Ilmari, das Leichentuch von den Füßen aufwärts zu vernähen, damit es sich im Wasser nicht von dem Toten lösen konnte.

»Nicht so zimperlich«, drängte Urs. »Du nähst hier kein Kleidchen für dein Liebchen. Mach gröbere Stiche und lass ruhig Abstände dazwischen.«

Ilmari ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er machte seine Arbeit gut. Ganz gleich, welche.

Plötzlich schlug Urs ihm auf die Hand und nahm ihm die lange Bronzenadel ab. »Da kann man ja nicht bei zusehen. Hab selten so eine Stümperei erlebt.« Er schüttelte den Kopf, dass die drei Fettringe unter seinem Kinn, das längst mit seinem Hals verschmolzen war, hin und her schwabbelten.

»So geht das, mein Junge.« Er war erstaunlich flink. Mit schnellen Stichen nähte er das Leichentuch zusammen. Plötzlich legte er dem toten Jungen seine massige Hand auf das weiß bedeckte Gesicht. »Und jetzt sieh genau hin! Jetzt kommt das Wichtigste.« Er drückte Daumen und Zeigefinger seiner Linken zusammen, sodass sich deutlich die Nase des Jungen unter dem Leintuch abzeichnete. Dann stach er mit der Rechten die Nadel durch die Nase.

»Nur so, mein Junge, kannst du ganz sicher sein, dass nicht versehentlich ein fast Toter in den Schlund wandert. Natürlich ist das nur bei den Frischen erforderlich. Die, die wir ein paar Tage eingelagert haben, regen sich nicht mehr.« Urs beugte sich über den Toten und biss den Faden dicht hinter der Nadel ab. »Ich bin gründlich. Ich mache es immer. So kannst du auch immer gut schlafen.«

Ilmari war fassungslos. Er blickte auf das vernähte Leichentuch und dann wieder auf Urs. Er hatte schon etliche Tote zum Schlund gebracht, und ihm war durchaus aufgefallen, dass die Leichentücher … ungewöhnlich vernäht waren. Zu genau hatte er allerdings nie hingesehen.

»Du wirst das in Zukunft machen. Ich werde hier nicht ewig der Herr des Totenhauses sein. Du musst meine Arbeit ausüben können. Alles davon … Den nächsten, den wir bekommen, den wirst du allein vernähen. Und zwar ordentlich. Mit weiten Stichen und zum Abschluss mit unserem kleinen Nasentrick. Ist gar nicht schwer. Wenn du erst mal die Nasen von ein paar hübschen Mädchen vernäht hast, macht es dir gar nichts mehr aus.« Urs hob vielsagend die Brauen. »Oder magst du lieber die hübschen Jungen?«

Als Ilmari schwieg, plapperte Urs weiter: »Was bist du so still? Du meinst, das hier ist schwer? Dann warte erst mal ab, bis einer aufsteht, wenn du ihm die Nadel durch die Nase ziehst. Sind nicht immer alle richtig tot, die hier landen. Wirst schon sehen, das macht schlechte Träume, das sag ich dir. Vor allem, wenn oben in der Eingangshalle die Verwandten stehen und das Geschrei hören.« Der Dicke grinste ihn an. »Passiert aber zum Glück nicht oft.« Dann legte er mit feierlicher Geste dem Jungen seine Rechte auf die Stirn.

»Tschau, mein Kleiner. Bist durch ’nen Spalt mit ’nem Schwall Wasser in diese Welt gepurzelt und wirst durch ’nen anderen Spalt mit noch viel mehr Wasser wieder hinauspurzeln. Ich hoffe, du hattest ein paar nette Tage dazwischen. Mehr hat das verdammte Leben keinem von uns zu bieten als ab und an ’nen netten Tag. Und gräm dich nicht, dass du so früh abgekratzt bist. Die netten Tage werden seltener, je älter man wird. Lohnt sich kaum der Mühe.«

Urs versetzte dem Toten einen letzten Klaps und sah zu Ilmari. »Ich halte ihnen immer eine kleine Rede, auch wenn niemand sonst da ist, der zuhört. Ich finde, das gehört sich so. Und nun walte deines Amtes, Totenträger. Schlepp ihn hier raus und bring ihn auf den letzten Weg.«

Die Seidene

Ein Gongschlag ertönte. Es war ein tiefer Klang, der in den Bauch fuhr und bei Zarah ein unangenehmes Gefühl hinterließ. Sie sah, wie die Lichtbahnen, die durch die Höhlendecke auf die verborgene Stadt fielen, an Kontur gewannen. Es waren jetzt massive, schräg hinabreichende Säulen, die sich deutlich vom diffusen Licht der Umgebung absetzten. Die Wolkendecke hoch über dem Dschungel war zerrissen. Die Sonne schien durch das Laubdach auf die mit Netzen getarnten Lichtschächte im Fels.

»Kommst du?« Tarkon reichte ihr galant die Hand.

Die Kinder waren schon vorausgelaufen. Auch alle anderen Bewohner von Tiefwasser bemühten sich, die ihnen vorgeschriebenen Plätze zu erreichen. Es geschah nur alle paar Tage, dass es direkte Sonneneinstrahlung gab, und die Hüter des Lichtes achteten streng darauf, dass keiner eine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ.

»Du weißt, du darfst nicht direkt ins Licht sehen«, flüsterte Tarkon an ihrer Seite.

Zarah hatte leichtes Spiel mit ihm gehabt. Als eine Eingeweihte der Großen Göttin, eine Priesterin der Grünen Geister, hatte sie von Anfang an seinen Respekt genossen. Wie wenig Bedeutung innerhalb des Kultes sie hatte, hatte sie wohlweislich verschwiegen. Es war ihr nur darum gegangen, ihm allein begegnen zu können. Er war neugierig gewesen, ein guter Anfang. Und dann war alles so weitergegangen wie bei all den anderen Mächtigen, die ihr in der Goldenen Stadt den Hof gemacht hatten.

Männer waren so vorhersehbar, wenn es um Frauen ging. Selbst der so berüchtigte, von allen gefürchtete Himmelspirat. Schon nach ihrem ersten Abend war er ganz versessen auf sie gewesen. Sie hatte das nächste Treffen absichtlich hinausgezögert, hatte sich um die befreiten Gefangenen gekümmert, die mit ihr gekommen waren. Sie nicht beliebig zu seiner Verfügung zu haben hatte Tarkons Begierde noch weiter angestachelt.