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Überall auf dem Platz kauerten die Bürger nieder. Kinder tuschelten mit ihren Eltern. Scharfe Kratzgeräusche quälten seine Ohren. Mit Bronzenägeln, kleinen Messern und Steinen ritzten sie krakelige Buchstaben in die Scherben. Ilmari wog seine Scherbe in der Hand. Sie füllte fast seinen ganzen Handteller aus. Er wollte auf keines der Schiffe. Es hatte lange gedauert, den rechten Platz zu finden, um seine Mission erfüllen zu können. Er wäre ein Narr, würde er freiwillig dem Schicksal Gelegenheit geben, alles durcheinanderzubringen.

Zwischen den Kauernden entdeckte er die beiden Reisbauern, neben denen er eben gestanden hatte. »Wie heißt du?«

Die beiden sahen ihn fragend an.

Ilmari deutete auf die blasse, ausgezehrte Frau. »Du, wie heißt du?«

»Roona«, antwortete sie sehr leise mit einem ängstlichen Blick zu ihrem Mann.

»Schöner Name.« Der Totenträger zog sein Messer. »Wird es mit zwei O geschrieben?«

»Was tust du?« Der Bauer sprang auf.

»Ich verbessere die Aussichten deiner Frau, auch den nächsten Winter noch zu erleben.«

Beide schlugen das Zeichen des schützenden Horns. »Du …«, begann der Bauer. Er war nicht wirklich kräftiger gebaut als seine Frau. Die endlose Plackerei in den gefluteten Feldern hatte ihn gezeichnet. Seine Fußknöchel waren geschwollen. Dicke Adern liefen über seine nackten schlammverschmierten Füße.

»Du betrügst die Göttin.« Roona legte eine Hand auf die Scherbe, in die Ilmari bereits ein R geritzt hatte. »Ich vertraue auf die Große Göttin. Wenn es ihr Wille ist, dass ich zur Sonne aufsteige, dann wird es geschehen. Und wenn sie es nicht will …« Sie schüttelte den Kopf. »Bitte rufe ihren Zorn nicht auf meine Familie herab. Ich habe zwei Kinder. Sie brauchen uns.«

Er sah ihr in die tief eingesunkenen Augen. Sie unterschieden sich kaum von denen der Toten, die er holen ging. »Du musst es wissen«, entgegnete er und ließ die Scherbe fallen. Ihr bedingungsloses Vertrauen in die Göttin überraschte ihn.

»Wie kannst du meine Frau …«, grollte der Reisbauer und machte einen Schritt auf Ilmari zu.

»Lass ihn!« Roona schob sich zwischen sie beide. »Er ist der Totenträger«, sagte sie, als würde das alles erklären.

Die anderen rings herum sahen schon von ihren Scherben auf. Ilmari konnte ihre hohlen Augen nicht mehr ertragen. Jeder von ihnen hätte hinauf in die Sonne gemusst! Mit eiligen Schritten verließ er den Marktplatz. Der Erste Hüter des Lichtes rief ihm etwas nach. Er verstand es nicht. Fort von hier, war sein einziger Gedanke. Es war besser, bei den wirklichen Toten zu verweilen als unter diesen lebenden Toten. Urs und die Leichenwäscherin hatten wohl längst ähnlich entschieden. Beide hatte er nicht auf dem Platz gesehen.

In einer Hast, die mit der Würde seines Amtes nicht zu vereinbaren war, zog er den Leichenkarren bis zum Haus der Toten.

Urs schien das Klappern der Räder auf dem Pflaster gehört zu haben. Er stand mit verschränkten Armen am Eingang. »Kein guter Tag?«

Ilmari wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er brachte sieben Tote.

Als er nicht antwortete, umrundete der Fettwanst den Karren und betrachtete die Leichen. Einige drückte er ein wenig. »Ziemlich frisch …« Er sah zu Ilmari. »Ich lobe mir deine Eile. Du machst deine Arbeit gut.« Er zog einen Knaben, der höchstens sechs war, aus dem Gewühl der nackten Leiber hervor. »Den nehm ich.« Er lächelte. »Die Schweren überlasse ich den stärkeren Armen. Bring sie hinunter in die Tröge ohne Kreidezeichen. Ich kümmere mich dann später um sie. Du solltest etwas schlafen, Junge. Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.«

Ilmari griff nach den Armen einer Frau in mittleren Jahren. Mit sanfter Kraft zog er sie in eine aufrecht sitzende Position. Mindestens sie war nicht mehr so frisch. Die Zeit, in der sie als Tote so steif wie Holz gewesen war, war bereits vorüber. Er drehte sich, nahm die kalten Arme vor die Brust und zog sich die Leiche auf den Rücken. Sein Blick fiel auf einen kleinen, silbernen Ring an ihrer Linken. Sie war wohl nicht arm gewesen. Wie eine Schlange wand sich das Schmuckstück in Spiralen um ihren Mittelfinger.

Ilmari streckte sich. Die Arme der Frau knackten. Er spürte, wie sie auf seinem Rücken tiefer sackte und mit einem Mal einen Rülpser ausstieß. Ein bestialischer Gestank zog Ilmari am Gesicht vorbei. Er hielt den Atem an.

Urs lachte auf. »Manchmal rülpsen und furzen sie noch wie die Lebenden.«

»Schlimmer«, murmelte Ilmari halblaut und trat ins Totenhaus. Ungeduldig, seine letzte Arbeit zu erledigen, eilte er auf den dunklen Treppenschacht in der Mitte des Mosaiks zu.

Am Fuß der Wendeltreppe angekommen, suchte er nach einem Trog ohne Markierungen und versenkte die Leiche im schwarzen Schlamm.

»Achte darauf, dass nichts herausschaut«, ermahnte ihn Urs, der ihm erstaunlich behände gefolgt war. Er stand mit dem Knaben im Arm auf der letzten Stufe und beobachtete ihn kritisch.

»Warum legen wir sie eigentlich in den Schlamm?«

»Er verhindert, dass sie verfaulen«, erklärte der Herr des Totenhauses in gönnerhaftem Tonfall. »Allerdings muss man aufpassen. Wenn sie zu lange drinnen bleiben, wird ihre Haut dunkel. Für ein paar Tage sind sie da gut aufgehoben. Länger als zwei Wochen sollten sie allerdings nicht in den Trögen bleiben. Du siehst, ich brauche einen fleißigen Totenträger. Also halt dich ran. Den alten Kerl oben, den bringst du gleich zur Wäscherin. Wenn sie mit dem fertig ist, dann nähst du ihn ein und bringst ihn noch fort, bevor du dich schlafen legst. Die Kinder kommen in den Schlamm. Und nun hurtig, mein Junge.«

»Warum lagern wir die Toten? Wir könnten sie doch alle am selben Tag in den Schlund werfen …«

»Schweig!«, fuhr ihn Urs an und schlug das schützende Horn. »Sprich nicht davon. Das bringt Unglück. Wenn wir den Schlund mit zu vielen Toten füttern, wird er gierig. Dann sterben noch mehr in den Städten.«

Ilmari traute seinen Ohren nicht. Glaubte Urs das wirklich?

»Glotz nicht so! Du bist hier nur der Totenträger. Für mehr reicht dein Verstand nicht. Und jetzt mach dich wieder an die Arbeit!«

Verdammter Sklaventreiber, dachte Ilmari und stieg wieder hinauf zum Karren. Der Alte, der dort lag, war wohl schon etwas länger tot. Ein übler Geruch stieg von ihm auf. Fliegen tummelten sich in seinen Nasenlöchern und in dem weit offen klaffenden Mund.

Ilmari wuchtete ihn sich auf die Schulter und machte sich auf den Weg zur Wäscherin. Sie war eine kleine, zierliche Frau mit großen, braunen Augen. Sooft Ilmari ihr auch begegnete, sie sprach nie ein Wort. Heute hatte er sie noch nicht zu sehen bekommen.

Er legte den Toten auf einen der Steinquader nahe der Treppe und machte sich auf die Suche nach ihr. Mit einer Öllampe in der Hand trat er durch jenes Portal, hinter dem er immer wieder das Geräusch von Wasser gehört hatte. Dort lag eine Kammer mit einem großen Becken.

Er fand sie in einer Wandnische verborgen auf einem Haufen Leichentücher schlafend. Behutsam berührte er sie an der Schulter. Sie fuhr sofort auf. Schrecken lag in ihrem Blick. Dann erkannte sie ihn.

Sie stieß einen langen Seufzer aus und rieb sich die Augen.

»Arbeit!« Er deutete auf den Toten neben dem Becken.

Sie nickte. Plötzlich wirkte sie unruhig und zupfte an ihrem dunkelblauen Kleid. Hatte sie Sorge, dass er darunter geschaut hatte?

Als sie aufstand, knackte ihr Rücken. Sie wand ihre Haare hoch und steckte einen langstieligen Löffel hindurch, um ihnen Halt zu geben. Den seltsamen Löffel trug sie immer bei sich.

»Brauchst du Hilfe?«

Sie schüttelte den Kopf.

Dann eben nicht, dachte sich Ilmari. Er würde sich nicht anbiedern. Sie verhielt sich eigenartig. Stets blieb sie zurückgezogen. Sie beharrte sogar darauf, ihr eigenes Essen zuzubereiten, obwohl Urs ein erstaunlich guter Koch war und sie bei ihnen oben in der Küche hätte essen können.

Ilmari sah ihr zu, wie sie den Alten in das flache, in den Boden eingelassene Becken zog. Sie kniete sich über ihn. Ihr blaues Kleid wogte im Wasser. Nass, wie es war, zeichneten sich überdeutlich ihre Schenkel ab. Sie wandte ihm den Rücken zu. Absichtlich?