Eine Bewegung bei der Tür ließ den Meuchler herumfahren. Dort stand die Totenwäscherin. Sie nickte ihm zu. Das Ableben von Urs schien sie nicht traurig zu machen. Sie kam herein, kniete neben dem Dicken nieder und legte ihre schmale Hand auf seine Brust, als wollte sie seinen Herzschlag fühlen.
Ilmari überlegte, was er tun sollte. Sie auch töten? Wie konnte er den Tod des Herrn in diesem Hause erklären? Urs hatte behauptet, dass er früher einmal zu den Hütern des Lichts gehört hatte. Musste man ein Priester sein, um dieses Amt auszuüben? Und was würden die anderen Priester nun tun? Oder hatte Urs nur angegeben? Hatte er überhaupt Freunde?
Fragen über Fragen. Üblicherweise bereitete Ilmari seine Morde sehr gründlich vor. Er studierte seine Opfer, wusste alles über sie, ihre Gewohnheiten, ihre Lieblingsgerichte, ob sie zu Huren gingen oder prüde waren. Zu improvisieren hasste er. Eine Sache, die man ohne Plan anging, führte selten zu etwas Gutem.
Die Wäscherin holte einen Krug aus einer Ecke der Kammer und schüttete Urs eine klare Flüssigkeit in den Mund. Branntwein! Dann deutete sie hinaus zur Wendeltreppe.
»Er hat getrunken und ist gestürzt?«
Statt zu antworten, lächelte sie. Gemeinsam zogen sie den Leichnam zum Fuß der Treppe. Ilmari übernahm es, ihn so hinzulegen, dass es aussah, als wäre er in betrunkenem Zustand über seine eigenen Füße gestolpert.
Die Wäscherin deutete nach oben. Dann machte sie eine Geste, als würde sie einen Karren ziehen.
»Du meinst, es ist besser, wenn ich nicht hier bin, wenn man ihn findet.« Er zögerte. Damit gab er alle Kontrolle auf. Aber sie wirkte zum ersten Mal, seit er sie kannte, selbstsicher. Da war ein Ausdruck in ihren braunen Augen … Sie wusste, was sie tat! Es war besser, wenn nur sie loszog, um, wem auch immer, verständlich zu machen, dass Urs etwas zugestoßen war.
Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Brust, dann legte sie ihn an die Lippen. Ein Versprechen zu schweigen …
Plötzlich nahm sie seinen linken Arm, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Als er etwas sagen wollte, öffnete sie den Mund. Ihr war die Zunge herausgeschnitten worden. Nur ein Stummel weit hinten im Rachen war übrig geblieben.
»Wer hat das getan?«
Sie deutete auf Urs. Und dann machte sie eine Bewegung mit den Kiefern, als kaute sie etwas.
»Er hat deine Zunge gegessen?«
Sie nickte.
Ilmari wurde übel. Eilig stieg er die Treppe hinauf. Er wollte fort aus der Stadt. Zurück in die Einsamkeit der endlosen Tunnel. Zurück zu den langen Märschen, auf denen Tote seine einzige Begleitung waren und der Wahnsinn der lebenden Menschen nach einer Weile nur noch wie ein böser Traum erschien. Er würde diese Städte vernichten, schwor er sich. Hier sollten keine Menschen leben. Die Große Göttin spielte nur mit ihnen. Sie beschützte sie nicht!
Von Träumen und Herzen
Sie fliegen nicht mehr mit dem Wind, Dame Bidayn?
Der Goldene spürte, dass sie die Wahrheit sagte, und doch … Diese Nachricht war unglaublich. Es würde alles auf Nangog verändern. Die Menschen würden sich den Himmel erobern. Solange die Wolkensammler einfach nur mit dem Wind schweben konnten, waren sie für Drachen leichte Beute. Darauf durften sie dann nicht mehr hoffen.
Und wo ist dieses Traumeis, edle Dame? Habt Ihr es gesehen? Seine Stimme war in ihren Gedanken, und er war versucht, tiefer nach ihren Erinnerungen zu greifen. Doch das wäre unhöflich. Sie würde es spüren, und er wollte sie nicht verärgern. Sie hatte Einsatz gezeigt und sich verdient gemacht, ja, sie war über seine Erwartungen hinausgewachsen. Das geschah selten.
»Nein, der Unsterbliche Volodi und sein Gast haben nur darüber gesprochen. Wenn ich es recht verstanden habe, hat der Besucher es irgendwo versteckt. Ich konnte aber nicht das ganze Gespräch belauschen, mein Gebieter.«
Er blickte auf sie herab. Sie hatte ihren ursprünglichen Auftrag nicht erfüllt, und er spürte ihre Furcht vor seinem Zorn. Er hatte Drachengestalt. Das allein schüchterte die meisten Albenkinder schon ein. Doch Bidayn zitterte nicht. Sie hatte den Kopf erhoben und sah ihm geradewegs in die Augen. Sie war bereit, sich seinem Urteil über ihre Eigenmächtigkeit zu unterwerfen, ganz gleich, wie es ausfallen mochte.
Eure Haut, Dame Bidayn … Er fuhr ihr mit einer Kralle über den nackten Arm und durchtrennte die altersfleckige Haut, unter der sie ihren Makel verbarg. Übler Verwesungsgestank stieg ihm in die Nüstern. Etwas hatte den Zauber gebrochen, mit dem er die Alterung hatte aufhalten wollen. Jetzt verfaulte ihr diese Menschenhaut auf dem Leib. Erstaunlich, dass sie lieber das auf sich nahm, als sich der Welt zu zeigen, wie sie wirklich aussah.
Ihr solltet Euch von dieser Haut trennen, meine Liebe. Sie wird Euch nicht gerecht. Er schnaubte belustigt. Und ich muss gestehen, sie beleidigt meinen Geruchssinn.
Ohne zu zögern, zog sie ihren Dolch, führte einen Schnitt rings um ihren Unterarm und streifte die Menschenhaut ab, als wäre sie nur ein Stulpenhandschuh. Sie löste sich nicht ohne Schmerz. Bidayn versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber er spürte ihre Pein. Und auch ihre Scham darüber, dass er ihre schneeweiße Elfenhaut sah, die unheilbar mit einem Rautenmuster von rötlichen Narben überzogen war. Das war der Preis, den sie dafür gezahlt hatte, als sie zum ersten Mal einen Zauber wirkte, der sich gegen die Ordnung der Welt auflehnte.
Der Goldene wusste, dass sie trotz der Verstümmlung erneut diesen Zauber gewagt hatte. Zuletzt erst vor wenigen Stunden während ihrer Flucht. Sie war außerordentlich mutig. Fast nichts erinnerte mehr an die ängstliche Elfe, die sie gewesen war, als sie vor vielen Jahren zum Schwebenden Meister gebracht worden war.
Ihr habt recht daran getan, von der Ermordung des Unsterblichen Volodi abzusehen. Wir müssen dieses Geheimnis ergründen. Das Traumeis darf nicht in die Hände der Devanthar fallen. Wir müssen es finden. Entweder wir rauben es oder wir vernichten es. Er neigte sein Haupt und wob einen Zauber, der ihren Stolz und ihr Glücksgefühl noch mehrte. Morgen um diese Zeit erwarte ich Euch wieder an diesem Ort, Dame Bidayn. Nun muss ich meine Brüder rufen.
»Vergebt mir, mein Gebieter, wenn ich in dieser Stunde, in der jeder Augenblick zählt, noch ein wenig mehr von Eurer Zeit einfordere.« Sie kniete demütig nieder und berührte mit ihrer Stirn den felsigen Boden. »Aber ich habe noch etwas entdeckt, von dem ich mir erhoffe, dass es Eure Gnade sowie das Interesse Eurer Brüder findet.«
Verwundert betrachtete er sie, wie sie sich wieder aufrichtete und einen kleinen Beutel von ihrem Gürtel löste. Sie öffnete ihn, und noch bevor sie herausholte, was darin verborgen war, spürte er eine überwältigende magische Aura. Der Beutel musste mit einer Bleifolie ausgeschlagen sein, dass ihm dieses machtvolle Artefakt bislang verborgen geblieben war. Es war ein grüner Kristallsplitter, in dem ein blasses, pulsierendes Licht erstrahlte.
Ihr wisst, was dies ist, Dame Bidayn?
»Ein Stück vom Herzen Nangogs?«
So ist es. Wo habt Ihr es gefunden?
Er spürte ihren Stolz. Vielleicht war dies der wahre Makel an Bidayn. Er sollte ein wachsames Auge darauf haben und ihn beizeiten brechen, bevor aus Stolz Überheblichkeit und Auflehnung wurden.
»Ich fand dies im Kopf eines der metallenen Löwen, die von den Devanthar erschaffen werden, um die Menschenkinder zu schützen und ihnen den Weg ins Goldene Netz zu öffnen. Wenn wir Jagd auf diese Löwen machen, werden wir vielleicht langsam die fehlende Hälfte des Herzens zusammensetzen können? Dann wäre es möglich, Eure Pläne zu vollenden, mein Erhabener, und die Riesin zu erwecken.«