»Aber … ich erinnere mich kaum …«, wandte sie verlegen ein. Sosehr sie sich auch quälte, es war aus ihrem Gedächtnis getilgt, womit sie den Goldenen so sehr erfreut hatte.
»Macht Euch keine Sorgen, Flamme meines Herzens. Sobald Ihr einem Manne beiliegt, wird die Erinnerung zurückkehren. Was zu tun ist, ist so einfach wie zu atmen. Vertraut auf Euch! Ihr seid wahrlich außergewöhnlich.«
Von Hunger und Blutegeln
Shaya hatte Hunger. Die Goldene Stadt war gnadenlos zu denen, die nichts zu bieten hatten. Und sie war mittellos aus dem ewigen Eis des Nordens zurückgekehrt. Sie hatte alles dort zurückgelassen, ihre Kräuter, ihre Hoffnungen, ihre Freundinnen.
Einige der Überlebenden schuldeten ihr Dank. Sie könnte ihn einfordern, doch dadurch würde sie sichtbar werden. Sie fürchtete ohnehin, dass Aaron darauf kommen könnte, dass sie mehr als nur ein Gesicht in seinen Fieberträumen gewesen war. Sie musste fort aus der Goldenen Stadt und durfte um keinen Preis auffallen. Die Geschichte über die Heilerin im Eis war ohnehin schon zu verbreitet.
Leichter Nieselregen setzte ein. Sie drückte sich an einer Hauswand entlang und zog die Kapuze ein wenig tiefer ins Gesicht. Der weite Umhang verschleierte ihre Gestalt. Sie hatte ihn gegen den guten Pelzmantel von Ninwe eingetauscht. Es war ein schlechtes Geschäft gewesen. Aber in der Goldenen Stadt war es zu schwül, niemand brauchte einen Pelz. Der fadenscheinige Umhang, ein paar Hosen, Sandalen und eine Handvoll Kupferstücke, das war alles, was sie vor drei Wochen dafür bekommen hatte. Die Kleider verschleierten ihre Gestalt. Sie ging nicht wie eine Frau. Dafür war sie viel zu lange Kriegerin gewesen. Sie erregte kein Aufsehen, war nur eine weitere unter Tausenden von gesichtslosen Gestalten in dieser wuchernden, maßlosen Stadt.
Shaya presste ihre Faust auf den Magen, um gegen den Krampf anzukämpfen. Sie hatte seit drei Tagen nichts mehr gegessen. Wenn sie noch ein bisschen durchhielt, war das Schlimmste vorüber. Nein, was für ein törichter Gedanke! Sie würde irgendwann vor Schwäche umfallen, und wenn man entdeckte, was sie war … Zu Frauen war die Goldene Stadt ganz besonders unfreundlich! Fast alle Männer hier waren verrückt. Nur wenige Frauen kamen in diese Welt. Eine auf hundert Männer, so hieß es. Sie durfte niemals schwach und wehrlos sein! Sie brauchte Geld, etwas zu essen und einen Platz, an dem sie schlafen könnte, ohne befürchten zu müssen, ausgeraubt zu werden.
Sie dachte an Ninwe, Kira und all die anderen Trosshuren, die darauf gehofft hatten, auf dem glorreichen Feldzug in den Norden schnell reich zu werden. Wenn sie sich verkaufte, würde sie schnell einen Platz finden. Und man musste hier nicht mal immer mit den Männern ins Bett gehen. Manche kamen und wollten einfach nur mit einer Frau reden oder mit ihr zusammen essen. Sie hatte so viele absonderliche Geschichten von den Huren gehört, denen sie mit ihren Kenntnissen gegen all die Übel geholfen hatte, die der Umgang mit zu vielen Männern nach sich zog. Sie könnte sich als Heilerin in den Bordellen der Stadt verdingen.
Schlechte Idee, schalt sie sich stumm. Auch das würde bald Aufsehen erregen. Sie musste fort aus der Goldenen Stadt, an einen Ort, der so weit entfernt war, dass Aaron ganz sicher nie wieder etwas von ihr hören würde. Und auch nicht ihr Bruder Subai.
Er war der Einzige, der bei dem Feldzug in den Norden etwas gewonnen hatte. Nach dem Heldentod ihres Vaters war er zum Unsterblichen aufgestiegen, zum Herrscher der Ischkuzaia und der Völker am Seidenfluss. Auch er durfte niemals erfahren, dass sie noch lebte und nicht auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden war, damit ihre Asche auf den Äckern Luwiens verstreut wurde. Subai würde sie, ohne zu zögern, an Išta ausliefern, allein, damit die Göttin ihm eine Gefälligkeit schuldete.
Die Straße, der Shaya gefolgt war, mündete auf den Platz der tausend Zungen. Er war von vier langen Säulenhallen eingefasst, welche in unzählige Kammern unterteilt waren, die sich alle zum Platz hin öffneten. Dort fanden sich Übersetzer aus allen Ländern Daias. Es hieß, dass es keine Sprache gebe, die hier nicht gesprochen wurde. Shaya konnte die Kammern, die ohne eine Vorderwand angelegt waren, gut einsehen. Fast alle waren sie besetzt, obwohl nicht viele Kunden zugegen waren. In einigen feilschten Kaufleute miteinander und bedienten sich dabei der Hilfe des Übersetzers, anderswo wurden Briefe in weichen Ton geritzt, der dann zu einem Brennofen an der Südseite des Platzes getragen wurde.
Die Prinzessin beherrschte vier Sprachen. Ganz gewiss könnte sie hier gut ihren Unterhalt verdienen, doch wie überall auf Nangog beherrschten Männer das Geschäft. Eine Frau, die die Zunge der weiten Steppe sprach, verschiedene Dialekte vom Seidenfluss beherrschte und darüber hinaus auch die Sprachen Arams und Luwiens ganz passabel verstand – nein, das ging ebenso wenig.
Sie folgte der von Obelisken gesäumten Allee, die nach Nordosten zu den Randbezirken der Goldenen Stadt führte. Etliche Ankertürme ragten hier über die terrassierte Bergflanke. Schleim, der von den Tentakeln der Wolkensammler getropft war, klebte in langen, vom Staub dunkel gewordenen Streifen auf den Häuserwänden, und Gallertklumpen, an denen hagere Hunde leckten, lagen auf der mit großen Steinquadern gepflasterten Straße. In Ruinen lockten kleine Imbissstände unter bunt geflickten Sonnensegeln, von denen jetzt dünne Regenschnüre troffen. Der unverwechselbare Duft von frisch gebratenem Echsenfleisch stieg Shaya in die Nase. Wieder zog sich ihr Magen krampfhaft zusammen. Speichel füllte ihren Mund. Sie musste essen!
Eiligen Schrittes folgte sie der Allee, drängte sich an einer Kolonne von Lastenträgern vorbei, die Bündel des süßlich duftenden Lakme-Holzes auf ihren Schultern trugen, aus dem sich ein zäher, köstlich schmeckender, schwarzer Sirup kochen ließ.
Nicht an Essen denken, befahl sie sich, doch ihr Mund füllte sich erneut mit Speichel. Sie hielt am Schlangenbrunnen, nahe dem Goldschmiedebasar, und kämpfte mit Wasser gegen ihren Hunger an. Der Regen wurde stärker. Es kühlte ab. Pferdeäpfel dampften auf dem Pflaster. Etliche Karawansereien lagen am Rand der Stadt. Die Straßen hier waren mit einer dicken Schicht aus Tierexkrementen bedeckt. Übler Geruch zog vom Gerberviertel herauf, das nicht weit entfernt am Fluss lag. Die Quartiere hier waren günstig, aber auch das half nichts, wenn man kein einziges Kupferstück besaß. Doch Shaya hoffte, hier ihr Wissen einsetzen zu können. Sie wählte die Karawanserei, deren hohe Hofmauern nahe dem Torhaus mit zwei steigenden Pferden bemalt waren. Hierher kamen Viehhändler aus der Messergrassteppe. Es gab in dem Mauergeviert weite Pferche, in denen ganze Herden untergebracht wurden, bevor sie zu den Schlachthäusern eine Meile südlich am Fluss getrieben wurden.
Niemand hielt Wache am Tor. Shaya trat auf den Hof und suchte nach den wenigen Stallungen, in denen Pferde untergebracht waren, die ihre Besitzer so sehr schätzten, dass auch sie ein Dach über dem Kopf erhielten. Hier gab es Wachen.
Shaya schlug ihre Kapuze zurück, sodass im Zwielicht des schwindenden Tages ihr Antlitz zu erkennen war, ihr langes Haar und das, was die Schrecken des Eises ihr noch an Weiblichkeit gelassen hatten. Nach dem Schnitt der Bärte und den Adlerbroschen ihrer Umhänge schätzte sie die Wächter als Luwier ein. »Ich bin die Heilerin, die nach den Pferden sehen soll. Werdet ihr mich durchlassen oder muss ich erst euren Herren aus seiner Ruhe aufscheuchen, um hier meine Arbeit tun zu können.«
Die Männer tauschten einen verblüfften Blick. Dann gaben sie ihr den Weg frei.
Shaya liebte den Geruch von Ställen, den Laut stampfender Hufe, die großen schwarzen Augen, die sie musterten. Sie hatte fast ihr ganzes Leben mit Pferden verbracht. Sie hatte zu reiten gelernt, kaum dass sie laufen konnte. Sie liebte Pferde von ganzem Herzen. Die Tiere spürten das und erwiderten ihre Zuneigung.
Sie trat in einzelne Verschläge, betrachtete die Tiere, so gut es im schwindenden Licht möglich war. Beim fünften fand sie, wonach sie gesucht hatte. Sie ging in die Knie und betastete vorsichtig das linke hintere Bein. Knapp über dem Huf war es geschwollen. Die Stute reagierte mit einem Schnauben auf leichten Druck. Shayas tastende Fingerspitzen spürten die Wärme. Ein weiteres Zeichen für eine Entzündung.
»Wer bist du?«, erklang hinter ihr eine ärgerliche, tiefe Stimme.
Sie lächelte. Die beiden Wachen waren also keine arglosen Tröpfe. Sie hatten ihren Herrn unterrichtet, dass die Heilerin gekommen war, nach der er nie geschickt hatte.
Die Prinzessin richtete sich auf und sah dem hochgewachsenen Mann, der sich nun vor ihr aufbaute, in seine dunkelbraunen Augen. »Ich schätze, Eure Rotschimmelstute liegt Euch am Herzen, Herr. Sie bekommt Hafer zu fressen und steht in einem guten Stall. Wahrscheinlich habt Ihr für Sattel und Zaumzeug mehr ausgegeben, als eine zehnköpfige Bauernfamilie in einem ganzen Jahr erwirtschaften kann. Habt Ihr bemerkt, dass sie lahmt? Oder hat sie es bis zuletzt vor Euch verborgen?«
»Wovon redest du, Weib?«
»Von der entzündeten Beugesehne Eurer Stute. Kommt und seht. Seid Ihr lange durch tiefen Grund geritten? Grasland im Regen, aufgewühlt durch die Hufe einer Herde?«
Der Handelsherr trat neben die Stute. Er strich ihr sanft über die Nüstern und flüsterte ihr kurz etwas ins Ohr. Er mochte sein Pferd, ganz wie Shaya vermutet hatte.
Ohne auf den Schmutz zu achten, der seinen kostbar bestickten Umhang besudelte, ging er in die Hocke und betrachtete die Schwellung.
»Du hast recht, Weib. Sie sollte Bandagen bekommen …«
»Nein, bei allem Respekt, aber das wird nicht genügen. Ihr werdet sie zuschanden reiten, wenn Ihr es nur mit Bandagen versucht und sie zu schnell wieder bewegt.«
Er sah ärgerlich zu ihr auf. Seine Brauen waren über der Nase zusammengewachsen. Er konnte wahrlich finster dreinblicken. Sein schmales Gesicht mit der langen, leicht gebogenen Nase und dem kurz geschorenen Bart hatte etwas Raubvogelhaftes. Ganz offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass Frauen ihm widersprachen. »Und was schlägst du vor, Quell aller Weisheit?«
»Blutegel. Und Ihr solltet sie einen Mond lang nur wenig bewegen, auch wenn dies vermutlich Eure Pläne durchkreuzt.«
»Blutegel?« Er runzelte die Stirn.
»Schockiert? Wenn Ihr mir gestattet, sie zu verwenden, wird die Entzündung deutlich schneller abheilen.«
Er strich sich nachdenklich über den Bart. »Ich habe davon gehört. Die Ischkuzaia verwenden Blutegel … Kommst du aus der Steppe?«
Shaya war sich des schlechten Rufes, den ihr Volk genoss, durchaus bewusst. Insbesondere Handelsherren schätzten die räuberischen Steppenreiter nicht. »Sehe ich so aus?«, entgegnete sie selbstsicher. Der Daimon, der sie im Bergkloster gerettet hatte, war sehr gründlich gewesen, als er ihr Gesicht veränderte.
Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Aber warum sollte ich dir das Wohl eines Pferdes anvertrauen, das doppelt so viel wert ist, wie ich für dich bekäme, würde ich dich auf einem Sklavenmarkt verkaufen.«
Shaya musste lächeln. Sie dachte daran, wie der Unsterbliche Muwatta einst tausend Pferde aus den königlichen Gestüten als Kaufpreis für sie gezahlt hatte. Und nun schätzte man sie nur noch auf ein halbes Pferd.
»Was amüsiert dich?«
»Dass Ihr Pferde besser einschätzen könnt als Frauen, Herr. Ihr könnt meine Hilfe annehmen oder einem Heiler vertrauen, der Euch nach dem Mund redet. Eine straffe Bandage wird für kurze Zeit helfen. Und wenn Eure Stute dann ruiniert ist, werdet Ihr so weit von der Goldenen Stadt entfernt sein, dass Ihr nicht mehr umkehren könnt, nur um einen Quacksalber zur Verantwortung zu ziehen.«
Er lachte leise, wobei sich tiefe Fältchen um seine Augen bildeten. »Das könnte wohl geschehen. Du bist ungewöhnlich, Weib. Du redest offener als die meisten Männer, die ich kenne.«
»Dann umgebt Ihr Euch mit den falschen Männern, Herr.«
Sein Lächeln gefror. »Du sollst Gelegenheit haben zu beweisen, ob du eine Maulheldin bist oder eine Heilerin. Ich gebe dir drei Tage, um meine Stute zu heilen. Gelingt es dir, wirst du drei Silberstücke bekommen, solltest du aber …«
»Wenn Ihr Wunder erwartet, betet zu Išta, Herr. In meiner Macht liegt es, dafür zu sorgen, dass die Schwellung infolge der üblen Säfte, die sich dort gesammelt haben, deutlich zurückgeht. Geheilt ist sie dann aber noch lange nicht. Außerdem brauche ich ein Silberstück sofort, um die richtigen Blutegel kaufen zu können.«
Zwei tiefe Falten erschienen im Dickicht seiner Brauen oberhalb der Nasenwurzel. »Du führst den Namen der Göttin leichtfertig im Munde, Weib.«
»Išta gefällt es, wenn wahr gesprochen wird. Was also hätte ich zu befürchten?«
»Du bist wohl nie um eine Antwort verlegen.« Er erhob sich und strich der Stute durch die Mähne. »Du bekommst drei Tage, um die üblen Säfte aus dem Bein der Stute zu holen. Bist du erfolgreich, erhältst du drei Silberstücke, abzüglich des einen, das du für deine unverschämt teuren Blutegel ausgibst. Tritt keine sichtbare Verbesserung ein, betrachte ich dich als Betrügerin. Dann lasse ich dich nackt an eine der Säulen draußen auf dem Markt binden, und ich werde dir höchstselbst dreißig Stockhiebe verabreichen.«
Der harte Zug um seine Lippen ließ sie ahnen, dass er es genießen würde, sie öffentlich zu demütigen. Er war ein Mann, der von Frauen Demut erwartete. Aber so sehr verstellen konnte sie sich nicht. Shaya war sich bewusst, dass sie ein besseres Angebot nicht bekommen würde. Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Der Handel gilt, Herr … Wie heißt Ihr?«
»Pithana ist mein Name. Wenn du Pferde so gut kennst, wie du vorgibst, solltest du schon von mir gehört haben. Ich beliefere die Gestüte des Unsterblichen Labarna.« Er schlug nicht ein. Stattdessen drückte er einem der beiden Wächter ein Silberstück in die Hand. »Natan, du gehst mit ihr. Du zahlst an ihrer Stelle, und du lässt sie keinen Augenblick aus den Augen. Sie erinnert mich an eine Diebin, deren Hinrichtung ich im letzten Sommer beiwohnte. Versucht sie mit dem Geld zu fliehen, verfährst du mit ihr, wie mit der Diebin verfahren wurde.«