Sie fühlte sich unendlich müde. Ihr Bauch war voll, und sie war an einem Ort, wo sie ohne Angst schlafen konnte. Und genau das würde sie jetzt tun. Sie sah abschätzend zu Natan. Aus ihm wurde sie nicht schlau. War er menschenscheu, oder verachtete er seinesgleichen?
»Ich werde mich jetzt zurückziehen. Achte darauf, dass die Stute sich nicht zu viel bewegt.«
Er sagte nichts, aber sie war sicher, dass er alles für das Pferd seines Herrn tun würde. Erschöpft hüllte sich Shaya in ihren weiten Umhang, zog die Kapuze über den Kopf und trat aus den Ställen. Ihre Glieder waren schwer wie Blei. Sie ging am Brunnen mit der großen Tränke vorbei zum anderen Ende des Hofes, wo unter einem Schutzdach Waren gestapelt lagen, die nicht feucht werden durften. Etliche Reisende und Hirten hatten dort bereits vor dem ununterbrochen andauernden Nieselregen Zuflucht gesucht.
Niemand dort schenkte ihr Beachtung. Die Kapuze verbarg ihre Züge. Sie fand eine Ecke, in der Wollballen gestapelt lagen, und streckte sich darauf aus. Mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit fand ihre Hand zum Griff des Messers.
»Wenn ich es doch sage«, beharrte die Stimme eines Knaben. »Sie nehmen auch Viehhirten. Gerade Viehhirten! Wen gibt es in dieser stinkenden Stadt schon, der von Rindviechern eine Ahnung hat. Metzger, die ihnen das Fell über die Ohren ziehen, Gerber und ein paar Rüstungsmacher. Aber wie viele wissen, was zu tun ist, wenn die Viecher keine Milch geben?«
»Also nach allem, was ich gehört habe, ist Asugar nur ein Felsen im Meer«, erklang eine müde, ältere Stimme. »Da gibt es gar keinen Platz für Rinder.«
»Es ist eine Provinz!«, beharrte der Junge. »Sie ist riesig. Ich hab es gestern selbst gehört, wie Arcumenna …«
»Seit wann verstehst du denn das Geplapper von Valesiern?«
Nach einer kurzen Pause klang der Junge deutlich betreten. »Hat man mir übersetzt … hinterher. Aber ich war selber da! Der war ein Feldherr und ist nun für seine Dienste mit der Provinz belohnt worden. Hat wohl Unmengen von Drusniern den Schädel eingeschlagen … Jedenfalls will er aus Asugar die schönste Stadt von Nangog machen. Er hat Künstler mitgebracht, die wunderschöne Steinbilder erschaffen, Steinmetze, Baumeister, Gelehrte …«
»Hört sich nicht so an, als bräuchte der Viehhirten!«
»Doch!« Der Knabe klang zunehmend verzweifelt. »Es werden ausdrücklich Bauern und Hirten gesucht. Und Bronzegießer und Schmiede und auch Heiler. Es gibt dort sogar einen Palast für die Kranken, und der Fürst bezahlt für deren Behandlung …«
»Ja, ja. Und jeder hat einen goldenen Nachttopf neben seinem Lager stehen.«
»Mir ist ganz egal, was du denkst. Ich werde hingehen!«
»Träum davon, Subar, aber überleg es dir noch mal. Diese Valesier und ihre prächtigen Städte – du kennst doch die Geschichte vom Weißen Selinunt? Mit ihrem Glanz locken sie nur die Drachen an. Komm mit mir zurück in die Messergrassteppe. Dorthin verirrt sich ganz gewiss kein Drache.«
»Und wir werden immer arm wie die Bettler sein. Pithana zahlt zu schlecht …«
»Münzen«, schnaubte der Alte verächtlich. »Davon wird man nicht satt. Bei Pithana hast du immer einen vollen Bauch. Und wenn der Winter kommt, schenkt er all seinen Hirten warme Decken. Du weißt doch gar nicht, was dich in Asugar erwartet, Junge. Ein kluger Mann setzt auf das, was er kennt!«
»Ich werde …«
»Haltet endlich das Maul dahinten!«, rief eine dritte Stimme. »Sonst komm ich rüber und lass meinen Knüppel tanzen!«
Der junge Hirte grummelte noch etwas, das Shaya nicht mehr verstand, dann wurde es still. Ein Palast für die Kranken? Von so etwas hatte die Prinzessin noch nie gehört. Aber die Valesier waren berühmt für ihre seltsamen Einfälle. Sie würde versuchen, mehr über das Vorhaben des neuen Provinzfürsten zu erfahren. Eine große Stadt am Meer, in der ein alter Feldherr ein neues, friedlicheres Leben beginnen wollte. Vielleicht war das der Ort, nach dem sie suchte, auch wenn der Palast für die Kranken nur ein Märchen war.
»Asugar«, wiederholte sie leise den Namen der Stadt, und sein Klang begleitete sie in ihre Träume.
Der Pfahl im Hof
Der strahlende Sonnenschein der Mittagsstunde hatte den Schatten des Pfahls verschlungen, der am Morgen in der Mitte des großen Innenhofs der Karawanserei aufgestellt worden war. Pithana persönlich hatte die Arbeiten beaufsichtigt.
Beklommen sah Shaya zu Natan. Der Krieger stand breitbeinig vor dem Pfahl. Er hielt ein langes Bambusrohr, das er gelegentlich in die offene Handfläche seiner Linken klatschen ließ, als wollte er sich vergewissern, dass es wirklich für eine Züchtigung geeignet war.
Seitdem sie erwacht war, hielten sich stets vier Karawanenwachen in Shayas Nähe. Große, grobschlächtige Kerle mit wild wuchernden, schwarzen Bärten. Ihr war bewusst, dass sie bei der Stute kein Wunder gewirkt hatte. Dazu hatte die Zeit einfach nicht gereicht.
»Komm, Weib!« Einer der Wächter winkte ihr mit seiner Pranke.
Was immer nun auch kommen mochte, sie würde es mit Fassung tragen, dachte sie stolz, reckte das Kinn vor und folgte dem Wächter.
Die anderen drei Wachen bildeten ein Karree um sie. Und um ihr die letzte Hoffnung auf Flucht zu nehmen, wurde gerade das große, zweiflügelige Tor der Karawanserei geschlossen. Nun gab es keinen Fluchtweg mehr von dem von hohen, lehmverputzten Mauern umgebenen Hof.
Shaya tastete nach dem Messer an ihrem Gürtel. Vielleicht würde sie mit den vier Wächtern fertig? Vielleicht gelänge ihr sogar die Flucht vom Hof, aber dann würde die Geschichte von der Kriegerin, die sich als Viehheilerin ausgegeben hatte, wie ein Lauffeuer die Runde durch die Stadt machen. Wie lange würde es dauern, bis Aaron davon hörte? Zwei Tage? Drei? Er würde alles in Bewegung setzen, um sie zu finden. Das konnte sie nicht riskieren. Die Geschichte von der großmäuligen Heilerin, die mit Knüppel gezüchtigt worden war, würde weit weniger Aufsehen erregen. Sie würde die Suppe auslöffeln, die sie sich eingebrockt hatte.
Natan schien bemerkt zu haben, wie ihre Finger sich kurz um den Dolchgriff geschlossen hatten. Er schüttelte sacht den Kopf, als wollte er sie davor warnen, eine Dummheit zu begehen.
Shaya erreichte die Mitte des Platzes. Überall lungerten Viehtreiber und Lastenträger herum. Im Säulengang vor dem Haupthaus standen etliche fein herausgeputzte Kaufleute und die Hauptleute der Karawanenwachen, aus deren breiten Bauchgurten juwelenbesetzte Dolchgriffe ragten.
Inmitten der Gruppe stand Pithana. Er überragte alle außer einem rotgesichtigen Krieger, der lässig die Arme über den Stiel seiner Axt auf den Schultern gelegt hatte. »Dieses Weib hat mich überredet, mein bestes Pferd mit Würmern zu behandeln!«, erklang plötzlich laut und klar seine Stimme. Ganz offensichtlich hatte Pithana Übung darin, vor größeren Menschenmengen zu sprechen.
Auf einen Wink des Händlers wurde der Rotschimmel aus dem Stall vorgeführt. Es war unübersehbar, dass er immer noch hinkte.
»Frech wie eine Hure auf dem Markt hat sie sich mir angeboten.« Pithana zuckte theatralisch mit den Schultern. »Und was soll ich euch sagen, Freunde? Ich bin ein Mann … ich konnte ihr nicht widerstehen.«
Leises Gelächter erklang.
Shaya musste den Drang niederkämpfen, wieder nach ihrem Dolch zu tasten. Eine Hure hatte sie schon lange keiner mehr genannt.
Natan ließ neben ihr den Bambusstab in seine offene Hand klatschen. Bei dem Geräusch zuckte sie innerlich zusammen. Am Wandernden Hof, der Zeltstadt, die der Königssitz ihres Vaters gewesen war, hatte sie gesehen, wie Verurteilte mit Knüppeln geschlagen worden waren. Wenn Natan auf ihre Leber und ihre Nieren zielte, würden dreißig Hiebe ausreichen, sie zu töten.
Sie blickte zum Holzpfahl. Das Holz war frisch geschlagen. Es duftete nach Harz, der golden aus einigen Astlöchern quoll.
Allgemeines Gelächter erklang. Pithana hatte wohl einen weiteren Scherz auf ihre Kosten gemacht. Jetzt löste sich der große Kaufmann aus der Gruppe der Kaufleute und ging zu seiner Stute hinüber, die unruhig mit den Hufen scharrte.