Shaya mochte sich gar nicht sattsehen. Nach und nach legten alle Schiffe ab. Lange hatte sie keine so große Flotte mehr gesehen. Sie verkörperte die Macht der sieben Reiche. Und die Hoffnung.
Die Schatten der Schiffe glitten tief unter ihr über die Stadt. Keine hundert Schritt entfernt sah sie den seltsamen neuen Wolkensammler über dem Palast des Unsterblichen Volodi. Ob es noch mehr solcher Tiere am unendlichen Himmel gab? Dieser Wolkensammler glich einem Rochen. Nur dass ihm Tentakel von der Unterseite hingen. Selbst jetzt, wo er vor Anker lag, bewegten sich seine Schwingen schwach.
An Bord des Schiffes, das die Tentakel trugen, war nur ein einziger Mann zu sehen. Ein Krieger mit langem, blondem Haar, der nach Süden blickte, dorthin, wo Shayas Zukunft lag.
Offenbarung
Volodi sah den Wolkensammlern nach, die nach Süden flogen. Er wusste, dass die Flotte unter dem Befehl von Arcumenna, dem Laris von Truria, stand. Viele Jahre lang war Arcumenna der Heerführer des Unsterblichen Ansur gewesen. Er hatte den Krieg nach Drusna getragen und war der Sieger etlicher Schlachten und Scharmützel. Kein anderer Valesier hatte sein Volk so sehr gedemütigt wie Arcumenna, dachte Volodi bitter. »Mögen dich die Mücken und die Schlangen des Fieberdschungels verschlingen, blutsaufender Mistkerl.« Er überlegte, ob er Quetzalli darum bitten sollte, Arcumenna mit einem Fluch zu belegen. Sie war gut in solchen Dingen!
Die Ankerseile von Wind vor regenschwerem Horizont knarrten. Der Wind drehte, und der Wolkensammler schwang ein wenig nach Westen. Volodi beobachtete, wie die lange Reihe der Wolkenschiffe ebenfalls nach Westen abdriftete. Sie hatten die Goldene Stadt kaum hinter sich gelassen, und schon flogen sie nicht mehr auf dem richtigen Kurs, hilflos den Launen des Windes ausgeliefert. Wenn sie Pech hatten, würde es eine sehr lange Reise nach Asugar werden.
Der Drusnier lächelte zufrieden. Er gönnte Arcumenna jedes Missgeschick von ganzem Herzen. Vielleicht würde seine Flotte ja noch von Harpyien angegriffen oder von Tarkon Eisenzunge. »Mögen dir blutige Geschwüre am Arsch wachsen, auf dass es dir auf deinem neuen Thron als Provinzfürst so gar nicht gefällt!«
Das Fluchen hob seine Laune nicht. Die abdriftende Flotte erinnerte ihn daran, wie viel sie alle verloren hatten: den Schlüssel dazu, endgültig die Himmel Nangogs zu erobern und nicht mehr länger Sklaven der Winde zu sein. Unglücklich sah er zu Wind vor regenschwerem Horizont hinauf. »Du wirst der einzige deiner Art sein.« Irgendwie passte es zu Kolja, den größten Schatz dieser Welt zu finden und dann alles Wissen darüber für sich zu behalten. Für immer …
Volodi ging an der Reling entlang. Das Schiff war immer noch in einem erbärmlichen Zustand. Es sah aus, als wäre es aus irgendwelchen Wrackteilen zusammengezimmert. Auch der Schiffsbaum war in schlechtem Zustand. Er hatte kein einziges Blatt mehr, aber wenigstens begann er zu knospen. Er war nicht tot, was immer ihm auch zuvor widerfahren war.
Volodi lehnte sich rücklings an die Reling und blickte über das Schiff. Er sollte es umbauen. Besser bewaffnen. Vielleicht konnte er mit Wind vor regenschwerem Horizont endlich Tarkon stellen? Oder er könnte die Drachen der Daimonen vom Himmel holen. Er sollte den Großen Bären darum bitten, dass er seinen Bruder Langarm, den Götterschmied, schickte. Jener sollte neue Waffen ersinnen. Waffen, die es erlaubten, alle Feinde vom Himmel Nangogs zu vertreiben. Volodi dachte an Speerschleudern, die auf drehbaren Plattformen standen, sodass sie in jede Richtung schießen konnten. Fast jede – was über dem Wolkensammler war, würde für die Schiffsbesatzung unsichtbar sein. Das war schon immer das Problem der Wolkenschiffe gewesen. Wer von oben auf sie hinabstieß, der hatte gute Aussichten auf einen leichten Sieg.
Als er sich umdrehte, war die Flotte Arcumennas zu tiefschwarzen Schatten vor dem glühenden Horizont geworden. Die Finger des Unsterblichen klammerten sich um das verwitterte graue Holz des Handlaufs. Sie waren mächtig und zugleich ohnmächtig, ihre Wolkensammler. Zwanzig Himmelsriesen wie Wind vor regenschwerem Horizont würden den Unterschied machen. Aber das waren nur Träume.
Und willst du deine Träume leben, Unsterblicher Volodi?
Der Drusnier sah verblüfft auf. Noch nie hatte ein Wolkensammler zu ihm gesprochen! Die Stimme war in seinem Kopf. Sie klang undeutlich, war verzerrt wie ein Echo. Konnte die Kreatur etwa all seine Gedanken lesen?
Das wäre unhöflich. Ich schürfe nicht in deinen Erinnerungen, es sei denn, du lädst mich dazu ein.
»Warum jetzt?«
Weil ich deine Verzweiflung und deine Trauer spüre, und weil du ein anderer Mann bist als Kolja. Außerdem hast du deine Hand auf die richtige Stelle der Reling gelegt. Du bist nicht sehr empfänglich für die Sprache der Gedanken. Wenn ich dich berühren dürfte, könnte ich deine Gefühle noch intensiver teilen.
Volodi sah zum Handlauf hinab. Das verwitterte Holz war von einem frischen Wurzelspross des Schiffsbaums durchdrungen. Die Krone des Baums wuchs in den Leib des Wolkensammlers hinein. Und sie waren auf irgendeine Art miteinander verbunden. Der Himmelsgigant steuerte den Wurzelwuchs des Baums. Allerdings hatte Volodi bislang immer geglaubt, dass die Wolkensammler nur zu den Lotsen sprachen.
Wir sprechen zu denen, denen wir uns mitteilen möchten.
»Und warum ich?«
Darf ich dich berühren? Es würde mir leichterfallen, mit dir zu sprechen, wenn es nicht den Umweg über den Baum gäbe.
Volodi blickte zweifelnd auf das Gewühl sich windender Tentakel. Sie waren an Bord der Wolkenschiffe nie mehr als zwei Schritt entfernt. Manchmal erinnerte ihr Anblick ihn an die Schale sich windender Würmer, mit denen er als Junge zum Fischen gegangen war. Es war beklemmend, sie immer so nah zu sehen. Wer eines der fliegenden Schiffe betrat, lieferte sich ihnen aus. Er hatte gesehen, wie Tarkon Eisenzunge in den Leib seines Wolkensammlers aufgenommen worden war. Dieses Bild hatte er nie mehr vergessen können.
Keine Sorge, ich fresse nur sehr selten Menschen.
»War das ein Scherz?« Hatten Wolkensammler Sinn für Humor? Davon hatte Volodi noch nie gehört. Ein dünner Tentakel ringelte sich zu ihm hinab. Er war anders als die übrigen Fangarme. Blass, von schleimbedeckter, milchiger Haut überzogen und ohne Saugnäpfe oder Fanghaken. Sah es so aus, wenn einem ein Wolkensammler die Hand reichte?
Zögerlich berührte der Unsterbliche den Tentakel mit seinen Fingerspitzen. Er war überraschend kühl.
So ist es viel besser!
Die Stimme in Volodis Kopf war nun ganz klar zu verstehen.
Mir gefällt deine Idee, Waffen in den Kampf zu tragen, die von einem Devanthar geschaffen wurden. Wir werden sie brauchen, denn ich sehe einen schrecklichen, langen Krieg kommen. Ich werde das Leben vieler meiner Freunde retten können, wenn ich sie gegen die Drachen verteidigen kann, die unsere Welt heimsuchen werden.
Volodi hatte das Gefühl, dass Wind vor regenschwerem Horizont sich bemühte, seine Gedanken klar und einfach zu formulieren, so, als spräche er mit einem Kind. Zudem fand er den Gedanken, dass die Wolkensammler untereinander befreundet waren, verstörend. Bislang hatte er in ihnen nichts weiter als besonders große und auf ihre Art recht nützliche Tiere gesehen. »Sie werden versuchen, dich von oben anzugreifen, dagegen wirst auch du dich nicht wehren können.«
Ich habe dieses Problem länger bedacht. Es ist in der Tat eine große Gefahr. Aber ich kann meinen Körper verändern. Es dauert lange und ist schmerzhaft, aber möglich. Ihr könntet eine Röhre mit einer engen Treppe durch meinen Leib legen, um von den unteren Flugdecks auf meinen Rücken zu gelangen. Entlang meines Rückgrats wäre Platz für ein schmales Deck, auf dem einige Speerschleudern stehen könnten. Auch wäre es nützlich, wenn eure Silberlöwen sich oberhalb meiner Brüder hielten und versuchten, Drachen abzufangen.