Volodi dachte an den toten Drachen, den er in Wanu gesehen hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass einige silberne Löwen ausreichen würden, um solch ein Ungeheuer aufzuhalten. Er hatte gesehen, dass Subais Ischkuzaia Hunderte Pfeile benötigt hatten, um den Drachen zu töten. Noch befremdlicher fand er jedoch den Vorschlag des Wolkensammlers, eine Treppe durch seinen Leib bauen zu lassen. Er musste sich ihrer Sache wirklich sehr verbunden fühlen, wenn er bereit war, so etwas auf sich zu nehmen.
»Ich möchte dich nicht beleidigen, aber ich glaube nicht, dass du und einige silberne Löwen ausreichen werden, um die Herrschaft am Himmel zu behalten. Wir hätten das Traumeis gebraucht. Aber Kolja hat das Geheimnis um sein Versteck mit in den Tod genommen.«
Ich war es, der Kolja zu seinem Versteck getragen hat. Aber man muss wahrlich ein finsteres Herz haben, um von diesem Wächter die Erlaubnis zu erhalten, den Schatz zurückzuholen. Kolja hat ihn darauf eingeschworen, das Traumeis niemand anderem als ihm zu geben.
Neue Hoffnung keimte in Volodi. »Du weißt also, an welchem Ort es versteckt ist, und könntest mich dorthin bringen?«
Auch wenn mir die Feinheiten eurer Sprache nicht geläufig sind, glaube ich, dass es falsch ist, das Versteck als »Ort« zu bezeichnen …
Der Drusnier verstand nicht, was der Wolkensammler meinte. Egal, welch schrecklicher Wächter das Traumeis nun bewachte, Kolja hatte es an irgendeinem Ort versteckt – ob es nun tief in der Erde vergraben war, es in einer Höhle lag oder in einem See versenkt war.
Wenn du deine Augen schließt, sodass deine Sinne nicht abgelenkt sind, kann ich ein Bild in deine Gedanken pflanzen. Ich könnte dir, glaube ich, mit Worten nicht verständlich machen, wo es ist. Besser, du siehst es.
Volodi fand das verwunderlich, aber genau genommen war es ja auch schon verwunderlich, sich mit einem riesigen, schwebenden Rochen zu unterhalten. Also folgte er dem Wunsch von Wind vor regenschwerem Horizont.
Kaum dass er die Augen geschlossen hatte, stieg nicht ein einzelnes Bild in seinen Gedanken auf. Es waren Hunderte. Er konnte sehen, wohin Kolja gegangen war, was er getan hatte. Vor Schrecken taumelte der Drusnier von der Reling fort. Er strauchelte, ließ den Tentakel los und riss die Augen auf, um nicht weiter sehen zu müssen.
Selbst jetzt, da er zum freundlichen Abendhimmel aufblickte, wollten ihn die Bilder nicht mehr loslassen. Kolja hatte wahrlich einen Ort gefunden, an den Menschen nicht gehen sollten. Und ja, der Wolkensammler hatte recht. Ort konnte man es eigentlich nicht nennen … Es war … Allein der Anblick der Augen grauste Volodi. Dieser Wächter …
»Ich kann nicht dorthin!«, sagte er entschieden.
Dann … wir Nangog verlieren! Wir brauchen … Traumeis! Die Stimme von Wind vor regenschwerem Horizont war ein undeutliches Echo, kaum noch verständlich.
»Nein!« Volodi wollte vergessen, was er gesehen hatte. Er eilte zu der Planke, die hinüber zum Ankerturm führte. Er war sich bewusst, dass es eine regelrechte Flucht war. Er hatte von diesem Wächter schon gehört. Aber all diese Geschichten waren nicht im Mindesten an die Wirklichkeit herangekommen. Vermutlich lag es daran, dass niemand mehr lebte, der ihm wirklich nahe gekommen war. Wie hatte Kolja nur …
Nein, er wollte es nicht wissen! Volodi taumelte immer noch, benommen von der Wucht der Bilder. Koljas Herz musste noch viel finsterer gewesen sein, als er jemals geahnt hatte, wenn dieses Ungeheuer in ihm einen Seelenverwandten gesehen hatte. Volodi wollte alles vergessen. Er wollte seinen Sohn in den Armen halten, wollte Quetzalli küssen und sie leidenschaftlich lieben. Er wollte diese Erinnerung um jeden Preis tilgen. Wollte vergessen, dass es dort draußen etwas gab, das jede Normalität binnen eines Herzschlags auslöschen konnte.
Anisja
Bidayn kniete auf dem Flur vor den Gemächern des Unsterblichen. Sie konnte Quetzalli hinter der nächsten Tür auf und ab gehen hören. Volodi war nicht zu ihr gekommen, als er am frühen Abend aus Drusna zurückgekehrt war. Er war auf den Ankerturm gestiegen, zu dem veränderten Wolkensammler, und hatte zugesehen, wie die Luftflotte die Goldene Stadt verlassen hatte.
Inzwischen war es dunkel, und in der großen Halle lärmten die Krieger. Sie betranken sich allzu oft. Bidayn verstand das nicht. Abend für Abend saßen sie zusammen, erzählten sich Geschichten, von denen jeder wusste, dass der größte Teil erstunken und erlogen war, und besoffen sich dabei. Ein Dreck waren sie! Asfahal und ihr Gefolge würden nur wenige Augenblicke brauchen, um diese Aufschneider niederzumetzeln. Was für Krieger waren das?
Wahrscheinlich war es ein Fehler zu versuchen, die Menschen zu verstehen. Sie waren schmutzig, ohne Moral und, was das Schlimmste war, so dumm, dass es zum Himmel stank. Als sie vorgestern an den Hof zurückgekehrt war, hatte sie bei Vladi, dem Aufseher der Dienerschaft, vorsprechen müssen. Sie hatte Sorge gehabt, er könne sie wiedererkennen. Ihre Augen waren unverändert, die Art, wie sie sich bewegte. Er hätte es durchschauen können, doch statt aufmerksam zu sein, hatte er ein zweites Mal eine Mörderin in das Haus seines Herrn eingeladen.
Bidayn wrang den Putzlappen über der Schale mit schmutzigem Wasser aus. Sie hoffte, dass das hier schnell vorbei sein würde. Sie hasste es, die demütige Dienerin geben zu müssen. Sie war die Auserwählte des Goldenen. Die Elfe rutschte ein Stück vorwärts und schwang den Putzlappen in weitem Bogen über die Steinplatten. Eine Öllampe spendete ihr kümmerliches gelbes Licht. Ihr war klar, wie wichtig diese Mission war. Dennoch hätte sie früher ein Streiter der Blauen Halle übernommen. Drachenelfen waren dazu ausgebildet, Blut zu vergießen.
Etwas hatte sich verändert. Bidayn hielt den Atem an. Sie durfte sich nicht ihrer Wut hingeben. Sie musste jeden Augenblick achtsam sein. Wenn sie einen Fehler beging, würde es niemanden geben, der käme, um sie zu retten. Die Schritte! Das hatte sich verändert. Quetzalli hatte in ihrem unruhigen Marsch hinter der Zimmertür innegehalten. Vielleicht um das Kind aus der Wiege zu heben. Wanya war ungewöhnlich ruhig heute Abend. Von ihrem ersten Besuch kannte Bidayn ihn als quengelndes Balg, das hundert Mal am Tag Mama oder Papa stammelte und irgendwelche unverständlichen Worte vor sich hin brabbelte, die Quetzalli ein Lächeln auf die Lippen lockten.
Wahrscheinlich hatte er den Tag über so viel gestammelt, dass ihm nun die Puste ausgegangen war, dachte Bidayn. Plötzlich sah sie ganz deutlich Lydaine und Farella vor ihrem inneren Auge. Sie waren ihre Töchter, seit sie in Uttika den Kaufherrn Shanadeen geheiratet hatte. Und sie hatten beobachtet, wie sie sich in der Nacht ihrer Hochzeit mit Asfahal im Bett ihres Vaters vergnügt hatte. Ob die beiden es ihm erzählt hatten?
Es hatte Augenblicke gegeben, in denen sie die Mädchen gemocht hatte. Nicht sehr viele … Ob sie sie noch einmal wiedersehen würde?
Die Tür am Ende des Flurs öffnete sich. Volodi trat ein. Endlich! Er taumelte, stützte sich mit beiden Händen an der Wand ab. Sein Atem ging keuchend.
»Herr?« Bidayn erhob sich.
Fast erschrocken sah er auf. Augenblicklich straffte er sich. Im Dunkel des Flurs sah sie ihn nicht sehr deutlich. Er kam auf sie zu.
Bidayn flüsterte das Wort der Macht, das der Goldene sie gelehrt hatte. Sie roch ihren Duft nicht. Sie konnte nur darauf hoffen, dass er wirkte.
Jetzt trat Volodi in den Lichtkreis der Öllampe. Sein Gesicht wirkte blass. Er hatte etwas Gehetztes an sich.
»Was hast du gesagt, Mädchen? Du hast doch gerade etwas gemurmelt …«
Sie blickte auf den Putzlappen vor ihr auf dem Boden. »Ich fragte, ob es euch gut geht, Herr.«
Er blieb eine Antwort schuldig. Stattdessen ging er zu der Tür, hinter der Quetzalli wartete. Plötzlich drehte er sich noch einmal um. »Ich habe dich noch nie zuvor gesehen.« Seine Stimme klang weicher.