»Wir könnten zum Beispiel die gegenüberliegende Küste besetzen und dort schwere Katapulte aufstellen …«
»Nee!«, unterbrach Nyr Hornboris Ausführungen. »Du sagst, die Küste sei mehr als eine halbe Meile entfernt. Hast du eine Vorstellung, was für Katapulte das sein müssten, die so weit schießen?«
»Und Aushungern können wir sie auch nicht«, erklärte Ulur neben Galar. »Im Hafen in der Grotte werden jeden Tag neue Schiffe anlegen, die die Menschenkinder mit allem versorgen werden, was sie brauchen. Ich sehe schon, wie sie uns über die Meerenge hinweg mit wohlgefüllten Weinbechern zuprosten.«
»Euch fehlen die Visionen für Größe!«, begehrte Hornbori leidenschaftlich auf. »Ihr müsst über das hinausdenken, was ihr bisher getan habt! Ich werde euch den Weg weisen!«
Galar sah Hornbori an. Er sah aus wie der vollkommene Held mit seinem dichten schwarzen Bart und dem langen, leicht gelockten Haar. Galar spürte, wie die Meinung umschwang. Einige der Hauptleute wollten Hornbori folgen. Sie begannen seinen Worten Glauben zu schenken, allein aufgrund seines Aussehens. Er war stark, hatte gute Zähne, konnte saufen wie ein Loch und hatte eine eiserne Verdauung. Kurz und gut, er war ein Bild von einem Zwerg.
»Wir sollten den Angriff mit Drachen beginnen«, sagte Galar ruhig. »Sie werden auf die Stadt hinabstoßen und Flammen speien.«
Totenstille folgte seinen Worten.
Wieder sahen alle ihn an.
»Du kommst doch aus der Tiefen Stadt«, sagte Ulur vorwurfsvoll. »Wie kannst du so etwas nur denken? Du hast es doch selbst erlebt, wie …«
»Es sind Menschenkinder!«, fuhr Hornbori dazwischen. »Sie haben diesen Krieg angezettelt.«
»Und du glaubst, die Himmelsschlangen werden dir diesen Sieg anrechnen, wenn es allein Drachen waren, die die Stadt bezwangen.«
»Die Drachen dienen nur zur Ablenkung«, ergriff Galar erneut das Wort. Er war sich bewusst, dass Nyr ihn verwundert ansah. Noch nie hatte er Hornbori in der Öffentlichkeit unterstützt. Und es wäre so leicht gewesen, den verfluchten Aufschneider hier und jetzt scheitern zu lassen. »Wir Zwerge werden unsere Banner auf dem Felsen hissen. Die Himmelsschlangen wollen den Hafen. Ich habe gehört, dass dort die größte Flotte des Purpurnen Meers vor Anker liegt. Wir werden sie den Himmelsschlangen unversehrt schenken. Sie ist der eigentliche Schatz der Stadt. Und wir werden ihn auf folgende Art gewinnen …«
Galar skizzierte seinen Plan in allen Details. Als er schließlich endete, nahm Hornbori ihn demonstrativ in den Arm. »Danke, Bruder! Besser hätte ich auch nicht ausführen können, was wir gestern Nacht ersonnen haben.«
»Ihr seid wahnsinnig!«, rief Ulur. Dann schlug er sich mit der Faust auf die tätowierte Brust. »Wunderbar wahnsinnig! Diese Schlacht wird in die Geschichte unseres Volkes eingehen.«
Galar las in den Gesichtern der anderen Hauptleute. Die meisten waren weit weniger begeistert als Ulur. In einigen der Gesichter spiegelte sich blanke Angst.
»Nun, meine Gefährten«, verkündete Hornbori in feierlichem Tonfall. »Ihr wisst, was zu tun ist. Bereitet euch vor. Wir brechen auf, sobald die Drachen versammelt sind.«
Die Versammlung löste sich auf. Auch Hornbori ging.
Galar aber blieb, legte wieder den Kopf auf den Tisch und blickte in die große Grotte am Fuß des Felsens.
»Wie konntest du das tun?« Nyr war der Einzige, der mit Galar im Zelt des Heermeisters zurückgeblieben war.
Der Richtschütze hieb mit der Faust auf den Tisch, dass das Modell der Stadt erbebte. »Hörst du mich? Wie konntest du das tun? Wir haben es selbst erlebt, die Flammen, all die Toten, das Grauen. Und nun bist du es, der all dies noch einmal heraufbeschwört.«
»Wir werden den Menschenkindern letztlich einen Gefallen tun.« Er hob den Kopf vom Tisch und blickte zu seinem Freund auf. Die Abscheu vor ihm in Nyrs Gesicht zu sehen verletzte ihn.
»Einen Gefallen tust du ihnen? Welchen? Die Last des Lebens von ihren Schultern zu nehmen?«
»Wir sind dort, Nyr. Und Drachen. Große Drachen.«
Jetzt endlich schien sein Freund zu begreifen. »Du willst …«
»… Drachen töten. So ist es. Es wird ein schwerer Kampf werden. Niemand wird sich wundern, wenn am Ende auch Drachen sterben. Ja, ich opfere Menschen. Ich bin nicht ihr Freund. Sie bedeuten mir nicht viel. Doch zumindest wird ihr Opfer nicht vergebens gewesen sein. Nach allem, was ich von ihnen gesehen habe, sind sie ja kaum in der Lage, mit den großen Adlern vom Albenhaupt fertigzuwerden. Sie werden keine Drachen töten. Wir tun das für sie. Und damit es geschehen kann, müssen wir dafür sorgen, dass du, ich und eine Menge Drachen am selben Ort sind.«
»Das ist unmoralisch«, wandte Nyr ein.
Galar lachte bitter auf. »Ich bitte dich. Wir sind mitten in einem Krieg. Die Moral ist uns schon vor Langem abhandengekommen. Jetzt geht es nur noch ganz nüchtern darum, das Richtige zu tun. Ja, ich liefere eine Stadt an die Drachen aus, damit sie dasselbe Schicksal erleidet wie unsere Heimat. Der große Unterschied ist, dass diesmal auch Drachen sterben werden.«
Nyr stand der Widerwillen immer noch ins Gesicht geschrieben, doch Galar kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er letztlich dabei sein würde.
»Mit etwas Glück werden wir dort einige der Mörder unserer Verwandten töten.«
Der Richtschütze hob abwehrend die Hände. »Ich will davon nichts mehr hören.« Verzweifelt blickte er auf das Modell. »Wie heißt die Stadt überhaupt? Hornbori hat nicht einmal ihren Namen genannt.«
»Der Name steht winzig klein dort unten am Felsen. Die Stadt, der wir das Drachenfeuer bringen werden, heißt Asugar.«
Zu gut
Shaya blickte staunend zu den hohen, bunt bemalten Gewölbedecken auf. Es gab ihn wirklich, den Palast für die Kranken. Nie zuvor hatte sie eine Stadt wie Asugar gesehen. Sie schien eine Stein gewordene Ode an die Schönheit zu sein.
In den frühen Morgenstunden hatte die Luftflotte des Arcumenna den steilen Felsen im Meer erreicht. Sie waren mit mehr Wolkensammlern gekommen, als es Ankertürme gab, und so hatte ihre Ankunft einiges Aufsehen erregt, als sich die Himmelsgiganten mit ihren Tentakeln in Fensteröffnungen und Torgewölben festgekrallt hatten, um vom Wind nicht landeinwärts getrieben zu werden. Auch Shaya war auf einem Schiff gewesen, für das es keinen Ankerturm gegeben hatte, sodass zuletzt alle Reisenden und die Fracht mit großen Körben hatten abgeseilt werden müssen. Es hatte Stunden gedauert, bis sie an der Reihe gewesen war, das Wolkenschiff zu verlassen. Doch dann war das Schicksal ihr hold gewesen. Jeder in der Stadt kannte den Palast für die Kranken. Immer wieder war ihr auch der Name Hattu genannt worden. Er war der erste Heiler im Palast für die Kranken, ein Mann von größtem Ansehen in der Stadt.
Obwohl sie müde war, war Shaya endlose Treppen zu dem Palast hinabgestiegen, der sich wie ein Schwalbennest an den steilen Felsen klammerte. Niemand hatte sie aufgehalten, als sie durch das hohe Portal geschritten war. Und nun wandelte sie durch die Hallen. Hohe Räume, deren geschwungene Decken von einem Wald von Pfeilern getragen wurden. Dutzende Krankenlager waren entlang der Wände vorbereitet. Strohsäcke mit feinem weißen Leinen bezogen. Einige der Krankenlager waren sogar durch Wandschirme vor den Blicken Neugieriger geschützt.
Nur wenige der Lager waren belegt. Ein angenehmer Duft nach Zitrone hing in der Luft. Es war wahrlich ein Ort, der den Kranken an die Schönheit des Lebens erinnerte und seinen Willen bestärkte, mit aller Kraft gegen die üblen Säfte und Verletzungen anzukämpfen, die seine Gesundheit niederringen wollten. Shaya musste an Shen Yi Miao Shou denken. Dem alten Heiler vom Seidenfluss, dem sie all ihr Wissen verdankte, hätte dieser Palast sicherlich gefallen.
Ein kleiner Mann trat aus dem Schatten einer Tür und musterte sie. Sein Haar war an den Schläfen ergraut. »Kann ich dir helfen, schöne Fremde?«
Dieses verfluchte rote Kleid, dachte sie. Sie hatte es auf den ersten Blick geliebt und auf ihrer Reise hundertfach bereut, ihrer Liebe nachgegeben zu haben. »Ich suche den Ersten Heiler, Hattu.«