»Wir kämpfen hier gegen das Unausweichliche«, flüsterte Enak. »Meine Meister haben dich betrogen. Alle hier sind dem Tod geweiht. Selbst die Kranken haben sich aufgegeben.«
»Was fehlt ihnen denn?« Shaya fragte mehr aus Höflichkeit, denn der Geruch, den auch das Räucherwerk nicht zu vertreiben vermochte, war unverwechselbar.
»Sie haben die Gliederfäule«, erklärte Enak niedergeschlagen.
Die Heilerin trat in den düsteren Saal. Neben jedem der Lager brannte ein Öllämpchen. Sie ging von einem Kranken zum anderen. Es waren ausschließlich Männer. Ihre Gesichter von Entbehrungen gezeichnet. Die meisten schliefen. Jene wenigen, die wach waren, starrten sie mit ausdruckslosen Augen an. Enak hatte recht. Die Kranken hatten sich aufgegeben.
»Woher kommen sie?«, wollte Shaya wissen.
»Das ist eine merkwürdige Geschichte … Eines Tages hat ein Wolkensammler, wie ihn noch nie jemand zuvor gesehen hatte, an einem der Ankertürme angelegt. Ein großer, blonder Mann hat uns gebeten, nach seiner Mannschaft zu sehen. Er hat jeden Einzelnen selbst zu uns ins Spital getragen und uns für jeden von ihnen fünf Goldstücke gegeben, damit wir sie versorgen. Er wollte wiederkommen und seine Mannschaft holen. Er hat Hattu für jeden Geheilten noch fünfzehn weitere Goldstücke versprochen …« Enak machte eine weitschweifige Geste durch den Saal. »Aber du siehst ja ….« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Wir konnten ihnen nicht helfen. Ihre Glieder faulen, und sie sind völlig ausgezehrt. Wir haben viele Stunden für sie gebetet. Sieben von ihnen sind bereits verstorben. Und die anderen werden ihnen bald folgen. Es ist ohne Hoffnung. Du solltest aus dem Palast fliehen und mit dem nächsten Wolkenschiff die Stadt verlassen.«
Der alte Mann, der über die Kranken wachte, kam mit einem Becher voll Wasser zu ihr. »Darf ich Euch etwas zu trinken anbieten, Herrin?«
Shaya nahm an. Erst jetzt bemerkte sie, wie durstig sie war. Es war heiß hier in Asugar, und sie hatte seit dem Morgen nichts mehr getrunken. Das Wasser schmeckte leicht nach Essig. Es war angenehm und löschte ihren Durst.
»Ich brauche Zitronensaft. Außerdem Obst. Wir werden daraus einen Brei für die Kranken kochen. Des Weiteren benötige ich weiches Brot und Milch.« Sie sah den Alten an. Er wirkte zäh. Sein graues Haar war zu einem fettigen Zopf zusammengebunden, der ihm weit auf den Rücken reichte. Seine schlichte Tunika war fleckig, seine Hände aber sauber. »Wie heißt du?«
»Saham, Herrin.«
»Zu welchen Zeiten des Tages kann ich mit deiner Hilfe rechnen?«
»Immer, Herrin.« Saham deutete auf ein Lager nahe der Tür. »Ich schlafe hier. Sie brauchen mich. Sind wie meine Kinder, wisst Ihr … kranke Kinder lässt man doch auch nicht alleine.«
Gerührt sah Shaya den Alten an. Das war der richtige Geist, dachte sie.
»Enak, kann ich auch auf deine Hilfe zählen?«
Der junge Heiler sah betreten zu Boden. »Ich … Sie werden mich hinauswerfen, wenn ich …« Er wand sich vor Scham. Aber Shaya war entschlossen, ihm seine Feigheit nicht durch verständnisvolle Worte zu erleichtern, und schwieg.
»Ich werde in den Nächten kommen«, sagte er schließlich.
»Gut! Nun besorge mir die Dinge, um die ich dich gebeten habe. Und bringe sie bitte nicht erst in ein paar Stunden, wenn Hattu schläft. Wir brauchen sie jetzt. Der Fremde mit dem Goldhaar hat schließlich für das Wohlergehen seiner Männer bezahlt.« Sie wandte sich an Saham. »Bring mir Licht!«
Im Schein einer Öllampe ging sie zum ersten Lager. Ein junger Mann, dessen Gesicht nur noch aus Haut und Knochen bestand, lag dort. Seine Stirn glühte im Fieber. Das schmuddelige Gewand, das er trug, war von kaltem Schweiß durchtränkt. Shaya zog die dünne Leinendecke zur Seite. Die Hände und Füße des Kranken waren mit Lumpen umwickelt, die von getrockneten Salben und dunklem Wundsekret verklebt waren.
Shaya brauchte ihr Messer, um den Verband zu entfernen. Der Kranke stöhnte vor Schmerz, als sie die letzten Leinenfetzen entfernte, die mit nässenden Wunden verklebt waren. Übler Gestank schlug ihr entgegen. Die ganze Hand war verfärbt. Der kleine Finger und der Ringfinger ganz schwarz, die obersten Glieder von Mittelfinger und Zeigefinger waren ebenfalls abgestorben.
Die Prinzessin fluchte leise. »Wir werden ihm einige Finger amputieren müssen.«
»Das geht nicht«, wandte Saham ein. »Hattu hat das verboten. Es steht uns Menschen nicht zu, Glieder unserer Artgenossen zu entfernen und damit die Schöpfung der Götter zu verunstalten.«
»Was?«
»So sagt es Hattu«, erklärte der Alte kleinlaut. »Wenn die Götter wollen, dass ihre Kinder wieder gesund werden, dann werden sie ihnen die Kraft dazu geben. Wir helfen, indem wir sie mit Kräutern behandeln, ihnen gutes Essen geben und sie pflegen. Der Erfolg gibt ihm recht.«
Shaya traute ihren Ohren nicht. Sie kannte diesen Ansatz in der Heilkunde, aber hätte niemals erwartet, dass der Palast der Kranken nach diesen Grundsätzen geführt wurde. Sie selbst war schon einem Gott begegnet. Der Weiße Wolf hatte sie auf seinem Rücken getragen. Und sie konnte sich nicht vorstellen, dass es ihn störte, wenn jemandem ein Finger oder gar ein Bein amputiert wurde, um ihm das Leben zu retten.
War auch Arcumenna so? War das die Vorstellung von Schönheit, auf der diese Provinz gegründet werden sollte?
Shaya strich dem Fiebernden über die Stirn. »Du bist nicht verloren, ganz gleich, was man dir eingeredet hat.« Dann ging sie von einem Lager zum anderen. Alle Männer waren in schlechtem Zustand. Manche waren zumindest halb bei Sinnen. Sie stammelten vom Eis, und Shaya begriff. Sie hatte solche Wunden schon dutzendfach gesehen. Vor Kurzem erst, nur dass sie noch nicht zu stinken begonnen hatten. Das waren Erfrierungen! Zumindest hatte es so begonnen. Unbehandelte Erfrierungen.
Jetzt, wo sie es wusste, fand sie immer mehr Indizien. Sie fand auch Schäden an Ohren und Nasenspitzen. Und sie wusste, es gab nur einen Weg. In spätestens zwei Wochen würde keiner dieser Männer mehr leben, wenn sie nicht den Mut hatte, diesen Weg zu gehen.
»Warum ist hier alles verdunkelt, Saham?«
»Sie quälte das Licht«, erklärte der Heiler. »Das Licht über dem Meer ist wirklich sehr hell. Hattu hat die Läden anfertigen lassen. Vorher gab es hier gar keine.«
Shaya erinnerte sich an das gleißende Leuchten über dem Eis. Sie trat an die Läden und spähte durch einen Ritz im Holz. Die Sonne war untergegangen. Hoch über der See standen die Doppelmonde. Shen Yi Miao Shou war davon überzeugt gewesen, dass faulende Luft Krankheiten in sich trug. So wie es war, durfte es hier nicht bleiben. »Wir werden die Fenster öffnen. Zumindest bei Nacht. Die Seeluft wird ihnen guttun.«
»Und die Geister vertreiben!«, bestätigte Saham.
»Geister?«
»Natürlich!« Er sah sie an, als wäre sie ein Kind, das die einfachsten Dinge nicht begreift. »Man muss den Geistern einen Weg öffnen, auf dem sie gehen können. Sonst bleiben sie.«
Shaya wollte dieses Thema lieber nicht vertiefen. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie von Geistern halten sollte. Nicht nach den Dingen, die sie im Eis gesehen hatte. Die Grünen Geister Nangogs waren zu den Schwachen und Verwundeten gekommen und hatten etwas von ihnen gestohlen und in sich aufgenommen. War es deren Lebenskraft, oder waren es ihre Seelen? Es gab etwas, das sie aus den Menschen herauszogen und das nicht stofflich war. Sie sah sich in dem dunklen Saal um. Dies wäre ganz gewiss ein Ort für Geister.
Entschlossen stieß sie den hölzernen Laden auf und zog den schweren Vorhang zur Seite. Das Fenster reichte bis zum Boden. Es war eher eine Tür. Sie führte auf eine Terrasse. Tief unter ihr lag die See. Ein frischer Wind trieb Wellen gegen den Felsen, auf dem Asugar lag. Das Rauschen der Brandung hatte etwas Beruhigendes. Sie sah zum Himmel hinauf in all die Sterne und dachte einen Moment an ihre Nächte mit dem Unsterblichen Aaron.
Sie seufzte. Dieses Leben lag hinter ihr. Es war nicht gut, Erinnerungen nachzuhängen. Das brachte nichts, sie musste vorwärtsgehen!