Er war nur ein Auftrag, ermahnte sie sich in Gedanken. Dann kniff sie ihn in den Arm. Er reagierte nicht. Bidayn schob ihre Hand unter seinen Leib und begann, sein Glied zu massieren. Es wurde größer, aber nicht richtig hart.
Endlich drehte sich der Unsterbliche auf die Seite, wandte ihr das Gesicht zu und begann zu schnarchen. Bidayn wurde endgültig klar, dass er in dieser Nacht nicht mehr reden würde. Aber ihr lief die Zeit davon. Was, wenn Volodi die Stadt verließ und sich auf die Suche nach dem Traumeis machte? Sie würde er ganz gewiss nicht mitnehmen. Sie musste es wissen! Jetzt!
Bidayn legte ihm sanft die Hand auf die Stirn, und dann murmelte sie jenes Wort der Macht, das Lyvianne sie gelehrt hatte. Jenes Wort, das der Goldene ihr verboten hatte. Was zählte, war nur der Erfolg. Nicht der Weg dorthin.
Seine Erinnerungen strömten auf sie ein. Bilder von Quetzalli. Wie sie zankten und sich liebten. Der blonde Mann, der mit dem Wolkensammler gekommen war. Und dann …
Sie riss die Hand zurück. Volodi keuchte auf.
Bidayn zitterte am ganzen Leib. Sie hatte es gesehen. Und sie wusste, dass man das Traumeis von dort nicht holen könnte. Sie versuchte, ruhig zu atmen und ihr wild schlagendes Herz wieder zu beherrschen. Er hätte ihr davon erzählen sollen. Diese Gedanken … sie waren nicht von Volodi. Irgendjemand hatte ihm die Erinnerung an diese Kreatur in den Kopf gepflanzt.
Die Elfe raffte ihr Kleid vom Boden und streifte es über. Es war zerrissen. Sie hielt den Stoff vor ihren Brüsten zusammen. Sie musste fort von hier. Nach Volodi sah sie sich nicht mehr um. Es war ihr gleich, ob er noch atmete und wie viele Jahre der Zauber ihm gestohlen hatte.
Bidayn wurde sich bewusst, dass sie taumelte. War es der Schrecken? Oder nur das Honigbier? Sie lehnte sich an die kühle Wand des Flurs. Sie musste ruhiger werden! Still stehen bleiben und einfach nur atmen. Einmal, zweimal … zehnmal.
Sie sah zu der Tür, die sie jeden Abend nahm, wenn sie das Langhaus verließ, um zum Quartier der Frauen zurückzukehren. Dieser Weg war ihr versperrt. Sie durfte nicht bleiben. Wenn Volodi erwachte, würde er sich vielleicht erinnern, was sie getan hatte. Sie musste auf dem schnellsten Weg zurück zum Goldenen.
Bidayn schlich zu der Treppe, die hinab zum Versorgungstunnel führte. Sie hatte ihre Schuhe neben dem Bett vergessen. Die steinernen Stufen, die hinabführten, waren angenehm kühl. Wieder kamen die Bilder zurück, die sie Volodi gestohlen hatte. Sie überlagerten die Wirklichkeit. Die enge Wendeltreppe rückte fort von ihr. Die kühlen Stufen waren nur eine Erinnerung, und die gestohlene Erinnerung war real. Sie sah den blonden Mann, blickte von oben auf ihn herab. Er versenkte versiegelte Amphoren. Er war auf dem …
Eine Hand legte sich um ihre Kehle. »Du läufst fort, Kleine«, zischte ihr eine Stimme ins Ohr.
Sie leistete keinen Widerstand. Er sollte denken, dass sie aufgegeben hatte. Die Bilder des Ungeheuers waren versiegt. Sie war mit allen Sinnen zurück im Hier und Jetzt. Eine Gürtelschnalle drückte gegen ihren Rücken. Es war die rechte Hand, die sich um ihren Hals gelegt hatte. Sie war rau und schwielig. Die Linke glitt an ihrem Körper hinab.
»Fühlst dich gut an.«
Der Gürtel hing leicht schief. Er neigte sich zur linken Seite. Ein Gewicht zog ihn herab. Ein Schwert? Wahrscheinlich. Es war die Hand eines Kriegers, die auf ihrer Kehle lag. Das Schwert war zu lang, um es in dieser Situation nutzen zu können.
Die rechte Hand war zwischen ihre Schenkel gewandert. Sie drückte sich gegen den Krieger. »Ja!«, stieß sie lustvoll hervor. Im selben Augenblick tastete sie nach rechts. Ihre Finger glitten den Gürtel entlang, fanden den Griff seines Dolches. Sie riss die Waffe heraus und rammte sie dem Krieger dicht über der Hüfte in den Leib, sodass die Klinge die Niere fand.
Die Hand an ihrer Kehle glitt hinab. Sie löste sich, drehte sich um und packte nach dem Schwert. Ohne zu zögern, riss sie es aus der Scheide und zog es dem Sterbenden über die Kehle. Dann stürmte sie in den Tunnel hinein.
Warum war sie erwartet worden?
Die Öllämpchen im Tunnel brannten. Goldenes Licht tanzte über die grob behauenen Steine. Sie war allein hier. Aber lauerten bei dem Ausgang zur Stadt weitere Feinde?
Bidayn hielt immer noch das Schwert in der Hand. Sie durfte sich nicht aufhalten lassen. Leise lief sie den Tunnel entlang, das Schwert bereit zum Kampf. Wer hatte geahnt, dass sie auf diesem Weg fliehen würde? Sie war durchschaut! Eine andere Erklärung konnte es nicht geben! Aber warum hatte dann nur ein einzelner Mann auf sie gewartet? Die Menschenkinder und vor allem die Palastwachen wussten doch aus bitterer Erfahrung, dass sie einer Daimonin nicht gewachsen waren. Sie hätten ihr mit einem Dutzend Krieger auflauern sollen und nicht nur mit einem. Das alles passte nicht zusammen!
Sie erreichte den Ausgang, spähte vorsichtig in die Gasse, die an der Mauer des Heiligen Hains entlangführte. Niemand zeigte sich. Bidayn blickte in den Tunnel zurück. Es gab keine Verfolger.
Sie drückte das Schwert eng an ihren Leib, damit es weniger auffiel. Dann trat sie in die Gasse. Es war der Weg, auf dem sie mit ihren Gefährten geflohen war. Sie hielt sich im Schatten. Leicht geduckt, stets auf der Hut. Als sie die Prachtstraße erreichte, die hinauf zum Platz vor der Goldenen Pforte führte, begann sie sich zu entspannen. Die Zwillingsmonde standen tief am Himmel. Die Straße war verlassen. Eine streunende Katze kreuzte ihren Weg und betrachtete sie kurz mit glosenden Augen.
Bevor der neue Tag anbrach, würde sie diese Welt bereits verlassen haben. Sie dachte an Volodi und biss sich auf die Lippen. Sie durfte nicht zulassen, dass die gestohlene Erinnerung wieder in ihr aufstieg. Bidayn begann zu laufen. Ihre nackten Füße klatschten auf den steinernen Platten des Weges. Sie hastete die Stufen zur nächsten Terrasse hinauf, ohne langsamer zu werden. Wie sehr sie die grausamen Läufe, zu denen sie in der Weißen Halle gezwungen worden war, gehasst hatte. Vor allem, wenn sie mit Nandalee gelaufen war. Ihre Gefährtin schien niemals zu ermüden. Nandalee war wie ein Wolf gelaufen, der seine Beute hetzte. Sie hingegen hatte sich schon nach einer Meile so gefühlt, als hätte man Dolche in ihre Seiten gerammt und Glut in ihre Kehle gefüllt.
Bidayn schnaubte. Das verzärtelte Mädchen, das sie einmal gewesen war, gab es nicht mehr. Mühelos erklomm sie eine weitere Treppe.
Weit vor sich sah sie die Goldene Pforte. Sie war geöffnet. Ein Torbogen aus Licht verschluckte die nie enden wollende Karawane, die die Schätze Nangogs in die Welt der Menschenkinder trug. Bidayn wurde langsamer, bis sie nur noch gemessenen Schrittes ging. Wenn sie lief, würde sie auffallen. Hier gab es zu viel Licht. Männer mit Fackeln und Laternen, die die Karawanen begleiteten.
In einem unbeachteten Augenblick lehnte sie ihr erbeutetes Schwert an eine Hauswand und ging einfach weiter. Der Platz war voller Menschen und Vieh. Hunderte Rinder stampften und schissen. Sie konnte die Angst der Tiere riechen. Sie ahnten, dass sie jenseits des Tores aus Licht nichts Gutes erwartete.
Etwas stach in ihren Hals. Eine Mücke? Bidayn schlug nach dem Insekt und zuckte zusammen. Da war ein Splitter. Sie zog ihn aus dem Hals. Er war kaum größer als ein Rosendorn. Ein bitterer, fremder Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Sie machte noch drei Schritte auf das Tor aus Licht zu. Dann hatte sie das Gefühl, als würde das Pflaster unter ihr hinwegrutschen. Sie fiel und war zu benommen, um die Hände nach vorn zu reißen, um den Sturz abzufangen. Sie schlug mit dem Gesicht auf das Pflaster. Ein Schatten fiel auf sie. Hände packten sie. Jemand sprach auf sie ein, doch sie verstand nichts mehr.
Sie hob erschöpft den Kopf. Das Tor aus Licht! Es war so nah gewesen. Bidayn spürte, wie sie hochgehoben wurde. Dann schwanden ihr die Sinne.
Fliegende Wölfe
Artax lehnte sich weit über die Reling des Palastschiffes, doch die Flieger auf den silbernen Wölfen verschwanden erneut aus seinem Blickfeld.
»Schlecht«, zischte er. »Sehr schlecht. Sie werden uns in Stücke hacken.«