Der Herrscher und sein Gefolge traten durch die große Flügeltür in den Krankensaal. Shaya war überrascht. Sie hatte einen anderen Mann erwartet. Arcumenna war klein, von drahtiger Gestalt, mit beginnender Stirnglatze. Seine scharf geschnittene Adlernase gab seinem Gesicht Härte. In seltsamem Widerspruch dazu standen seine vollen, sinnlichen Lippen. Obwohl er nur ein einfaches weißes Gewand und geflickte Sandalen trug, von deren Schnüren Talismane hingen, war er unverwechselbar der Herrscher. Eine Aura von Macht und Selbstbewusstsein umgab ihn. Der einäugige Krieger an seiner Seite mit seinem polierten Bronzekürass und dem prächtigen Federhelm unter dem Arm war ohne Zweifel ein kampferfahrener Veteran, dem auf dem Schlachtfeld Hunderte von Kriegern gehorchten, doch er verblasste neben dem schlicht gekleideten Mann, der Shaya nun musterte.
»Du also bist die Hure, die sich als Heilerin ausgibt.« Ein süffisantes Lächeln spielte um die vollen Lippen. »Dies sind nicht meine Worte. Du ahnst sicherlich, wen ich zitiere. Was hast du zu den Vorwürfen von Hattu zu sagen?«
»Worte sind billig, Herr. Ich lasse lieber Taten sprechen.« Sie deutete mit weit ausholender Geste in den Krankensaal. »Keiner der Männer in meiner Obhut ist gestorben. Ich habe ihr Fieber besiegt, indem ich ihnen die faulenden Glieder abgeschnitten habe.«
Arcumenna nickte. »Ich habe schon davon gehört. Du hast hier ein Gemetzel angerichtet, das eines mittelgroßen Schlachtfeldes würdig gewesen wäre.« Er sah sich um. »Spricht einer von euch meine Sprache?«, rief er laut.
»Ich.«
Shaya schloss die Augen. Ausgerechnet Vibius! Sie hatte ihm gegen seinen Willen ein Bein und zwei Finger abgenommen. Er hasste sie.
Arcumenna trat an das Lager des Siechen. Vibius hatte sein Fieber überwunden, aber er war immer noch ausgezehrt und schwach.
»Sie hat mich verstümmelt …« Seiner Stimme war deutlich anzuhören, wie viel Kraft es ihn kostete, die Worte hervorzubringen. »Ich wollte das nicht. Wollte lieber tot sein …«
»Warum?«, fragte Arcumenna.
Shaya sah den Fürsten aufmerksam an. Was sollte diese Frage?
Auch Vibius war offensichtlich verwirrt. »Ich … ich bin nichts mehr wert.«
»Dein Bein und diese beiden Finger, das warst du? So gering schätzt du dich ein? Alles, was noch geblieben ist, ist nichts mehr wert?«
»Ich bin ein Krüppel«, begehrte Vibius auf. »Sie werden mich auf keinem Wolkenschiff mehr anheuern. Ein Bettler werde ich sein und, bevor das Jahr vorüber ist, in der Gosse verrecken.«
Arcumenna legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du bist hier in Asugar. Hier gibt es keine Bettler. Da, wo ich herrsche, hat ein jeder seinen Platz. Woher kommst du in Valesia?«
»Cisra.«
»Die Stadt ist berühmt für ihren Weinanbau. Ein exzellenter, sehr dunkler Roter, nicht wahr?«
Vibius sah den Fürsten mit weiten Augen an. »Ihr kennt Cisra?«
»Ich bin viel gereist. Verstehst du etwas vom Weinanbau?«
»Meinem Vater gehörte ein halber Hang. Wir haben unsere eigenen Trauben gezogen und gekeltert. Es war ein guter Tropfen.«
»Und warum bist du fortgegangen?«
Vibius schnaubte. »Ich war der dritte Sohn. Das Gut war zu klein, um es zu teilen. Ich war zu viel. Der erste erbt, der zweite dient dem Erben und der dritte ist zu viel.«
»Nicht weit von hier gibt es Hügelland am Fluss. Man muss dort noch roden, aber ich habe schon Rebstöcke in Truria bestellt. Aber mir fehlt es an Weinbauern. Glaubst du, man kann mit einem Bein ein Weinbauer werden, Junge?«
Vibius schien jetzt von innen heraus zu strahlen. »Das kann ich, Herr. Ihr werdet es sehen! Ich werde mit einem Bein jeden verdammten Weinberg hinaufkommen, und ich werde ihn Tag und Nacht hüten, meinen Berg.«
Arcumenna lächelte. »Das glaube ich dir. Und nun sieh zu, dass du gesund wirst und nicht unnötig im Bett herumlungerst. Eine Aufgabe wartet auf dich.« Der Fürst erhob sich und sah sich im Saal um. »Sieht so aus, als wären hier etliche Männer aus Luwien und Aram. Und der da hinten könnte sogar aus Ischkuza kommen. Sprichst du ihre Sprache, Junge?«
»Nur ein paar Brocken Luwisch, Herr«, sagte Vibius verlegen.
»Ich spreche diese Sprachen, Herr«, mischte Shaya sich ein.
Arcumenna sah sie mit kalten Augen an. So freundlich er auch zu Vibius gewesen sein mochte, er verfolgte ein Ziel und nutzte alle Mittel, es zu erreichen. »Du hast viele Talente, wie mir scheint, Heilerin. Hast du auch einen Namen?«
»Shaya«, antwortete sie, ohne zu zögern. Sie wollte sich nicht länger verstecken. Niemand würde in ihr die Tochter des Unsterblichen Madyas erkennen, so sehr war ihr Gesicht verändert worden.
»Nun, Shaya. Dann sag deinen Männern, dass ich auf keinen verzichten kann, der bereit ist, mit mir dieses Fürstentum aufzubauen. Auch ein Einbeiniger ist für mich ein Mann. Nur Faulpelze sind hier fehl am Platze. Jeder von ihnen wird eine Arbeit bekommen, anständiges Essen und einen Platz zum Schlafen. Wer fleißig ist, der wird hier sein Glück machen und als ein reicher Mann in seine Heimat zurückkehren.«
»Ich werde es ihnen sagen, Herr.«
Arcumenna ließ erneut seinen Blick durch den Saal schweifen. »Kannst du mir sagen, was dich dazu treibt, als Heilerin in einem roten Kleid herumzulaufen?«
»Auf dem roten Stoff sieht man die Blutflecken nicht so gut.«
Er wandte sich abrupt zu ihr um. Eine tiefe Furche stand zwischen seinen Brauen. Plötzlich lächelte er. »Ich glaube dir kein Wort, auch wenn das eine gute Antwort war. Also, noch einmaclass="underline" Was soll das Kleid?«
»Es gefällt den Männern. Sie sehen mir gerne nach, und glückliche Kranke werden schneller gesund.«
Der Fürst lachte leise. »Du erinnerst mich an eine Frau, die ich sehr gemocht habe. Sie war genauso frech wie du. Und jetzt zur Abwechslung die Wahrheit.«
Auch Shaya lächelte. »Dies Kleid ist ein Kompromiss zwischen meinem Geldbeutel und dem, was es gab.«
»Deine anderen Antworten haben mir besser gefallen. Ich schicke dir morgen eine Schneiderin. Unterhalte dich mit ihr darüber, was du brauchst. Du wirst einige Kleider von mir als Willkommensgeschenk bekommen.«
Shaya sah, wie Hattu dem Gespräch mit wachsendem Entsetzen lauschte. »Aber, Herr, sie hat gegen den Kodex dieses Hauses verstoßen. Wir schneiden niemandem Glieder ab und verunstalten die Schöpfung der Götter.«
»Du meinst also, ich vergehe mich gerade am Willen der Götter?« Die Stimme des Fürsten war eisig geworden.
»Ich … nein … Es ist …«
»Du widersprichst mir nie wieder in der Öffentlichkeit, Hattu. Du bist ein guter Heiler. Du wirst weiterhin dieses Haus leiten, aber in diesem Saal hier hast du von nun an nichts mehr zu sagen. Er gehört Shaya. Sie wird tun, was sie für richtig hält, und wenn du klug bist, Hattu, arbeitest du mit ihr zusammen und versuchst nicht, ihr das Leben schwerzumachen. Wir leben im Krieg mit den Daimonen. Jeden Tag werden Männer verstümmelt, und die Schöpfung der Götter wird verhöhnt. Ich brauche eine Heilerin, die die Gabe hat, gute Männer am Leben zu erhalten. Ich bin Feldherr, und es wird nicht lange dauern, bis der Unsterbliche Ansur mich wieder ruft, um seine Heere zu befehligen. Dann werde ich Shaya mit mir nehmen. Bis dahin wünsche ich, dass sie hier verweilt und anständig behandelt wird. Haben wir uns verstanden, Hattu?«
Der Heiler verbeugte sich demütig. »Eure Weisheit hat mich erleuchtet, mein Fürst. Alles wird so sein, wie Ihr es wünscht.«
»Dann wäre das also geklärt.« Arcumenna ergriff Shayas Rechte und hauchte einen Kuss darauf. »Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen.«
Shaya verkrampfte sich innerlich. Was würde jetzt kommen? Eine Einladung in den Palast des Fürsten, um mit ihm ein Nachtmahl einzunehmen? Oder wäre er diskreter und würde das nicht vor all den anderen aussprechen und ihr einen Boten schicken?
Arcumenna wandte sich von ihr ab. »Man hat mir erzählt, dass du einen Mann behandelst, der sich für einen Vogel hält, Hattu? Ist das richtig?«
»Ja, Herr. Er ist im Saal der Verwirrten. Wir mussten ihn an die Wand ketten, weil er sonst …«